»Ich mag nicht mehr«
Was tun, wenn alte Menschen nicht mehr leben
wollen?
von Susanne Schröder
Beim Medien-Thema »Pflege« geht es meistens um Pflegefehler und
Personalmangel. Um den Tod geht es selten. Dabei sind die Pflegekräfte täglich
mit dem Sterben konfrontiert. Besonders schwierig ist das, wenn alte Menschen
laut und deutlich sagen: Ich will nicht mehr leben. Wie soll man damit umgehen?
Feldstudien im Graubereich der Ethik.
Der Frühstückstisch in der Wohngruppe im »Sonnenhof« ist gerade abgeräumt.
Angelika, die Betreuungskraft, packt einen Stapel Karten aus. »Sollen wir ein
paar Sprichwörter raten?«, fragt sie laut. »Wie gewonnen, so …«, liest sie
vor und schaut in die Runde. »… so zerronnen«, sagt mit monotoner Stimme
eine weißhaarige Frau, deren Blick ganz nach innen gerichtet scheint. Ein Herr
mit starken Brillengläsern erhebt sich, nickt, schiebt seinen Stuhl akkurat an
den Tisch und geht. Am Tischende schnaubt eine Dame verächtlich und schüttelt
den Kopf. Eine andere döst mit halbgeschlossenen Augen; nur einmal taucht sie
für eine Antwort aus ihren Gedanken auf. Im Hintergrund verfolgt eine Frau
andere Bewohner, packt sie am Arm, um mit ihnen zu reden. Wieder eine andere
betrachtet nachdenklich ihre zusammengeknüllte Stoffserviette. Schließlich
beginnt sie, damit energisch die Möbel zu polieren.
48 Menschen wohnen auf der beschützenden Station des Pflegeheims
Ebenhausen. Auch in den unterschiedlichen Stadien ihrer Demenz sind ihre
Charaktere völlig verschieden. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie werden im
Sonnenhof sterben.
»Man ist hier zu hundert Prozent mit dem Tod konfrontiert«, sagt Franziska
Fischer, die stellvertretende Stationsleiterin. Das lässt die 28-Jährige nicht
kalt und es ist auch nicht immer leicht. Trotzdem ist ihr Standpunkt klar: »Das
Sterben gehört zum Leben dazu, ob mit 90 oder mit 30 Jahren«, sagt die Mutter
von zwei Töchtern. Schwierig sind die Begleitumstände: Sterben und der Wunsch
zu sterben, ist eine Herausforderung für alle.
Für die Angehörigen: Die Angst, der Vater oder die Ehefrau könnten am
Lebensende verhungern, verdursten, Schmerzen leiden, ist groß. Für die Ärzte:
Auf Infusionen oder Medikamente in der letzten Lebensphase zu verzichten, fällt
manchen nicht leicht. Für die Schwestern: Pflege ist Beziehungsarbeit - wenn
ein langjähriger Bewohner stirbt, ist das auch für sie ein Trauerfall. Und für
die Sterbenden selbst: Sie sind darauf angewiesen, dass ihr Umfeld ihre Wünsche
erahnt und ihren Willen respektiert.
Dass über alles, was zum Sterben gehört, mittlerweile in vielen
Pflegeheimen offener gesprochen wird, ist ein Verdienst der Initiative
»End-Of-Life-Care« (EOLC) der Diakonie Bayern. Dort hatte man vor zehn Jahren
erkannt, dass selbst bei bester Hospiz- und Palliativversorgung immer noch
Fragen offen und Probleme ungelöst bleiben. »Nicht alle Schmerzen können
gelindert werden«, sagt Dorothea Bergmann und meint das auch im übertragenen
Sinn. Die Pfarrerin ist für die Fachstelle »Spiritualität, Palliative Care,
Ethik und Seelsorge« (SPES) der Inneren Mission München zuständig, die mit
ihrer Tochtergesellschaft »Hilfe im Alter« einer von neun Partnern der EOLC
ist.
Im Sonnenhof von Ebenhausen bemühen sie sich sehr darum, sterbende Menschen
so zu begleiten, dass es ihrem Willen entspricht. Im Fachjargon heißt das zum
Beispiel: Essen und Trinken nach Akzeptanz. Wenn ein Bewohner nichts mehr essen
mag, versuchen Franziska Fischer und ihre Kolleginnen erst, alle möglichen
Gründe abzuklären: Hat der Patient Zahnweh? Hat er Schluckbeschwerden, weil die
Demenz die Muskeln blockiert? Ist er gerade depressiv verstimmt? Schmeckt es
ihm vielleicht einfach nicht? Gerade bei Demenzkranken ist die
Ursachenforschung nicht immer leicht.
Am Ende entscheidet aber der Bewohner, ob er isst oder nicht: »Wenn jemand
den Mund nicht mehr aufmacht, akzeptieren wir das«, erklärt Fischer. Das
sogenannte Sterbefasten ist die einzige Form des Suizidversuchs, die
Pflegeheime tolerieren dürfen. Nach Absprache mit Arzt und Angehörigen konzentriert
sich die Pflege in so einem Fall stärker darauf, das Sterben so leicht wie
möglich zu machen.
Was heißt es, wenn ein alter Mensch nicht mehr isst und trinkt? Ist sein
Körper einfach schwach und müde? Oder will er bewusst sein Leben beenden?
Demenzkranke können das oft gar nicht mehr formulieren. Auf regulären
Pflegestationen hingegen ist der ausgesprochene Wunsch zu sterben nichts
Ungewöhnliches. »Dass jemand sagt: Ich mag nicht mehr, kann man als Pflegekraft
täglich und mehrfach hören«, sagt Pfarrerin Bergmann (siehe Interview).
Harte Dämpfer für die Lebensmotivation alter Menschen gibt es viele.
Freunde sterben, manchmal auch die eigenen Kinder, die Einsamkeit nimmt zu,
genauso Schmerzen und körperliche Einschränkungen. Dass alt werden nichts für
Feiglinge sei, ist ein lässiger Spruch.
Wie viel Tapferkeit manchmal wirklich dazu gehört, sieht Barbara Sauer
täglich. Der Umzug ins Heim, der Verlust von Mobilität und Selbstbestimmung
sind kritische Momente, in denen Suizidgedanken laut werden können, weiß die
Pflegedienstleitung im Altenheim Ebenhausen. Sie sagt: »Wir nehmen solche
Äußerungen sehr ernst - aber es ist nicht unsere Aufgabe, Leben zu beenden.«
Also versuchen die Pflegekräfte, besonders gefährdete Menschen aus ihren Zimmern
zu holen, sie in den Alltag einzubinden und ihnen zuzuhören.
»Einigeln macht's schlimmer - erzählen macht's oft besser«, stellt Sauer
fest. Dass für ausführliche Gespräche im Pflegealltag kaum Zeit bleibt, ist das
bekannte Dilemma. Besuchsdienste und Betreuungskräfte füllen die Lücke, so gut
es geht.
Nicht immer fruchten die Bemühungen. Claudia Greif-Mikas ist seit vielen
Jahren Altenpflegerin und hat erlebt, dass Bewohner versucht haben, sich die
Pulsadern aufzuschneiden oder sich zu erhängen. »Für die Pflegekräfte ist das
ein Schock«, sagt die 48-Jährige. Doppelt schlimm: Nach einem Suizidversuch
muss das Heim die Menschen in die Psychiatrie überweisen lassen. Für Franziska
Fischer keine Lösung: »Man muss doch am Grund arbeiten - die Patienten einfach
wegsperren, das ist heftig.«
Fischer und Greif-Mikas kennen viele Sterbegeschichten, schreckliche und
schöne. Dabei ist der selbstgewählte Tod nicht immer schön und das Sterben nach
langem Siechtum nicht immer schrecklich. Franziska Fischer erzählt von einer
Tierärztin, die sich mit einer Spritze das Leben nehmen wollte. »Jetzt liegt
sie seit 15 Jahren im Koma«, sagt die Pflegekraft, und in ihrer Stimme liegt
Bedauern. Claudia Greif-Mikas erinnert sich an einen Bewohner, der lange schwer
krank war: »Als es ans Sterben ging, konnten wir seiner Frau ein Bett in sein
Zimmer stellen. Sie war die ganze Zeit bei ihm. Er ist in ihren Armen
gestorben.« Franziska Fischer nickt. Für einen Moment ist es ganz still im
Schwesternzimmer. Man spürt: So ein Tod ist für alle Beteiligten ein Geschenk.
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