Die EU will die Gespräche mit der Schweiz über ein Strom-Abkommen
stoppen. Doch Europa braucht das Land für seine Energie-Strategie. Und
Deutschland riskiert ohne Schweizer Berge die Energiewende. Von
Daniel Wetzel
Die Volksabstimmung in der
Schweiz über eine Begrenzung der Zuwanderung hat in der EU-Bürokratie
offenbar zu überhasteten Reaktionen geführt.
So hieß es in
ersten Äußerungen aus Brüssel, nun würde man einige bilaterale Abkommen
zwischen der Europäischen Union und der Schweiz erst einmal auf Eis
legen, allen voran die Gespräche über einen gemeinsamen Strommarkt.
Zwar sei der
Plan eines Abkommens über die europäische Integration des Schweizer
Strommarkts nicht obsolet geworden, betonte eine Sprecherin von
EU-Kommissar Günther Oettinger. "Aber die Unsicherheit ist jetzt erst
einmal da." Man müsse "das weitere Vorgehen im breiteren Kontext der
bilateralen Beziehungen analysieren."
Bern widerspricht Brüssel
Was soll das
heißen? Soll hier mit aller diplomatischer Vorsicht die Möglichkeit
angedeutet werden, dass die Integration des Schweizer Strommarkts in die
europäische Versorgungslandschaft infrage gestellt wird?
Droht die EU als
Reaktion auf das unliebsame Zuwanderungsvotum indirekt mit der
energiepolitischen Isolation der Eidgenossen? Die EU-Kommission wiegelt
auf Nachfrage von Journalisten zwar ab: Es seien derzeit ja überhaupt
"keine technischen Gespräche vorgesehen", die man unterbrechen könne.
Doch dem
widerspricht das Schweizer Energieministerium auf Nachfrage der "Welt"
ausdrücklich: Bundesrätin Doris Leuthard habe "bereits darauf
hingewiesen, dass das Abstimmungsresultat zur
Masseneinwanderungsinitiative eine Rückwirkung haben kann auf die
Verhandlungen für ein Stromabkommen."
Wie eine Sprecherin des Eidgenössischen Departments für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UEVK)
weiter sagte, "hat die EU-Kommission inzwischen einen Gesprächstermin
ausgesetzt." Dabei habe man "auf technischer Ebene in den vergangenen
Monaten engagiert über das Stromabkommen verhandelt und viel erreicht".
EU braucht Schweiz, nicht umgekehrt
Damit stellt
sich allerdings die Frage, ob sich die Europäische Union nicht ins
eigene Fleisch schneidet, wenn sie die Schweiz energiepolitisch
isolieren will.
Tatsächlich
kann es sich die EU nämlich schlicht nicht leisten, die Schweiz
versorgungstechnisch zu einer Insel im europäischen Strommarkt zu
machen: Die Europäische Union ist von der Energie-Infrastruktur der
Schweiz sehr viel stärker abhängig, als umgekehrt die Schweiz vom
europäischen Strommarkt.
Das zeigt schon
ein Blick auf die Anfänge der energiepolitischen Vertragsverhandlungen
zwischen Schweiz und EU Ende 2007. Damals waren es nicht die Schweizer,
die unbedingt in den europäischen Strommarkt wollten: Es war umgekehrt
die EU-Kommission, die unter dem Eindruck des weitflächigen Italien-Blackouts vom September 2003 der Schweiz vorschlug, den Stromtransit vertraglich zu regeln.
Damals hatte
der technische Ausfall einer Schweizer Stromleitung dafür gesorgt, dass
das EU-Mitglied Frankreich seinen Strom nicht mehr ungehindert über die
Alpen in das EU-Land Italien leiten konnte.
Italien, dass
nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl seine vier Atomkraftwerke
stillgelegt hatte, war seither von französischen Atomstrom-Importen
abhängig. Der Stromtransit zwischen den beiden wichtigen
EU-Industriestaaten aber führt größtenteils über das Leitungsnetz der
Schweiz.
Abkommen soll neuen Italien-Blackout verhindern
Beim Schweizer Stromnetzbetreiber Swissgrid
wundert man sich denn auch über die aktuellen, dunklen Andeutungen aus
Brüssel: "Die Schweiz steht zwar nur für drei Prozent des europäischen
Stromverbrauchs, aber über unser Territorium gehen elf Prozent aller
europäischen Stromflüsse", sagte Swissgrid-Sprecher Andreas Schwander
der "Welt".
Seit sechs
Jahren verhandeln Schweiz und EU deshalb nun schon über ein
Energie-Abkommen. Dabei geht es um die rechtliche Absicherung eines
freien Netzzugangs für alle Stromproduzenten und über eine
Entgelt-Regelung für die Nutzung des Transitnetzes.
"Durch eine
Harmonisierung der Sicherheitsstandards und der operativen
Betriebsführung der Übertragungsnetze soll verhindert werden, dass es im
Netz zu Überlastungen kommt", heißt es in einem Papier des
Eidgenössischen Departments für auswärtige Angelegenheiten: "Solche
Überlastungen durch den Transport ungeplant hoher Strommengen waren –
zusammen mit der mangelnden Koordination beider Länder – der Hauptgrund
für den Blackout in Italien 2003."
Schweizer Speicher für deutschen Ökostrom
Die
"Stromdrehscheibe" Schweiz ist damit nicht nur eines der wichtigsten
Transitländer für Elektrizität in Europa. Auch als Stromspeicher ist das
Land für die europäische Energieversorgung unverzichtbar. Die
Pumpspeicherseen in den Alpen tragen erheblich dazu bei, das stark
schwankende Ökostrom-Aufkommen aus Wind- und Solarkraft aus ganz Europa
zu glätten. Davon profitiert insbesondere auch Deutschland.
Soll heißen:
Wird bei viel Wind oder Sonnenschein zu viel Ökostrom produziert, kann
mit Hilfe des Stroms Wasser nach oben gepumpt werden. Wird Strom
benötigt, rauscht das Wasser in die Tiefe, treibt Generatoren an und
wird zu Elektrizität umgewandelt.
Nach Angaben
des Netzbetreibers Swissgrid können allein die Schweizer Pumpspeicher in
den Alpen 1400 Megawatt Strom speichern: Das entspricht der Leistung
von zwei Atomkraftwerken. Weitere Pumpspeicher-Kraftwerke mit 3000
Megawatt Leistung seien im Bau.
Wenn in
Baden-Württemberg und Bayern in den Jahren bis 2022 wirklich
schwankender Ökostrom die Grundlast der Atomkraftwerke ersetzen soll,
dürfte das ohne intensive Nutzung dieser Schweizer Alpenbatterie kaum
machbar sein: In Deutschland widersetzen sich bislang immerhin Wald- und Tierschützer erfolgreich dem Bau neuer Speicherbecken in den Bergen.
Wie wichtig die
Schweiz für die Versorgungssicherheit in Deutschland ist, zeigte sich
erst Anfang 2012: Damals mussten zahlreiche deutsche Gaskraftwerke
mangels Brennstoffnachschub aus Russland abgestellt werden. Weil die im
Zuge der Energiewende abgestellten Atomkraftwerke in Süddeutschland
nicht anderweitig ersetzt werden konnten, rutschten Bayern und
Baden-Württemberg knapp am Blackout vorbei.
Schweiz half deutschen Blackout abzuwenden
Der "Welt"
liegen Dokumente vor, die belegen, dass deutsche Netzbetreiber im
Februar 2012 auf dem Höhepunkt der Versorgungskrise bei der Schweizer
Swissgrid telefonisch eine "Notreserve"' über 300 Megawatt anforderten,
um den Blackout in letzter Minute abzuwenden. Der Preis dafür lag mit
3000 Euro pro Megawattstunde um das 50-fache über dem damaligen
Börsenpreis für Strom.
Deutschland
wird solche Nachbarschaftshilfe vermutlich eher öfter brauchen, wenn in
Bayern und Baden-Württemberg immer mehr schwankender Ökostrom gesicherte
Kraftwerksleistung ersetzt. Professionelle Energiehändler sind deshalb
entsetzt über die drohende Isolation der Schweiz.
Bei dem nun
fraglich gewordenen Stromabkommen zwischen der EU und der Schweiz "wäre
es vor allen Dingen um die Einbeziehung der Schweiz in das sogenannte
Market Coupling gegangen, also um die Verknüpfung der Schweizerischen
Regelzonen mit denen der Nachbarländer.
Um die
Ausnutzung der Übertragungskapazitäten zu erhöhen", sagte Barbara Lempp,
Geschäftsführerin des Verbandes Deutscher Gas- und Stromhändler (EFET):
"Gerade im Hinblick auf die Stromversorgung des Nettoimportlandes
Italien wäre dies wichtig gewesen. EFET bedauert dies sehr."
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