»Bürgerversicherung« ohne Versicherung
In Norwegen garantiert der Staat Sozialleistungen für
alle Einwohner
Auch in Norwegen wird angesichts der »Altenwelle«
über eine Reform der Rentenversicherung diskutiert. Der Ausgangspunkt, das Sozialversicherungssystem,
ist im Vergleich zu Deutschland ganz anders organisiert, nämlich einheitlich,
und scheint auf einem solideren Fundament zu stehen. Unser Autor diskutiert das
norwegische »Folketrygd-System« (wörtlich übersetzt:
Volkssicherheitssystem) in seinen Eigenheiten und zieht gelegentlich Vergleiche
zur deutschen Situation.
Versicherungen braucht der
normale Norweger nicht unbedingt. Alle Einwohner sind Pflichtmitglied im
sozialen Sicherheitssystem Folketrygd, auch
wenn sie nicht arbeiten. Wenn von Versicherungen die Rede ist, denkt man hier
beispielsweise an private Hausratsversicherungen oder an die in den meisten
kontinentaleuropäischen Ländern üblichen Sozialversicherungen für Arbeiter und
Angestellte. Der in Deutschland in den aktuellen Debatten benutzte Ausdruck Bürgerversicherung
würde für Verwirrung sorgen, obwohl er vieles von dem deckt, was für die
skandinavischen oder nordischen Sozialsysteme bestimmend ist.
Alle nordischen Staaten
besitzen universelle, das heißt für alle Einwohner (nicht Staatsbürger) im
Grundsatz gleiche Sozialsysteme, während die meisten anderen Länder mehr oder
weniger obligatorische Sozialversicherungen anbieten, die an ein bezahltes und
abhängiges Arbeitsverhältnis oder an einen bestimmten Beruf gebunden sind. Ein
klares »skandinavisches Modell« gibt es dennoch nicht. Einerseits gibt es
ähnliche universelle Systeme auch in anderen Staaten, etwa für das
Gesundheitswesen und die Altersversorgung in Großbritannien und in den
Niederlanden.(1) »Einwohner-Krankenversicherungen«
wurden in einer ganzen Reihe europäischer Staaten eingeführt. Andererseits sind
die Unterschiede zwischen den nordischen Staaten nicht unbedeutend. So wird die
dänische Basisrente seit 1994 etwa bei gleichzeitigem Bezug einer Betriebsrente
gekürzt oder fällt ganz weg. In Schweden wurden Teile der Altersversorgung aus
dem universellen System herausgenommen und auf Fonds übertragen. In beiden
Ländern ist die Arbeitslosenversicherung freiwillig und setzt die
Mitgliedschaft in Gewerkschaftskassen voraus.
Keine Sondersysteme
Die Idee universeller
sozialer Sicherheit für die gesamte Bevölkerung wurde in den skandinavischen
Ländern schon Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert. Von Forschern wird das
unter anderem darauf zurückgeführt, dass die Bauern hier während der
Industrialisierung weitaus stärker die Gesellschaft prägten und in die
politischen Debatten eingebunden waren als etwa in Deutschland. Die erste
Unfallversicherung Norwegens war 1894 noch wie in Deutschland
Industriearbeitern vorbehalten. 1916 begannen die Gemeinden, Mindestrenten für
Bedürftige einzuführen. Nach und nach wurden im Lauf der ersten fünf Jahrzehnte
des 20. Jahrhunderts alle Zweige der üblichen Sozialversicherungen auf
universelle Systeme umgestellt oder von vornherein als solche aufgebaut.
Bedürftigkeitsprüfungen wurden für die wichtigsten Leistungen abgeschafft. Mit
dem Folketrygd-Gesetz von 1966 wurde eine
einheitliche Verwaltung im Rikstrygdeverk geschaffen
– wörtlich »Reichssicherheitswerk«, eine Art Zentralamt für soziale Sicherheit.
Niedrige Beiträge, keine Bemessungsgrenzen
Einwohner Norwegens
brauchen also nicht die Beiträge konkurrierender Krankenversicherungen
vergleichen oder sich fragen, ob die LVA oder die BfA für ihre Altersversorgung
zuständig ist. Sie sind automatisch Folketrygd-Mitglied
und können sich in allen Fragen an das örtliche Trygdekontor
wenden. Wenn sie arbeiten und mehr als 23000 Kronen oder umgerechnet knapp 2700
Euro im Jahr verdienen, zahlen sie 7,8 Prozent ihres Einkommens als
Mitgliedsbeitrag – also erheblich weniger als die Sozialabgaben in Deutschland.(2)
Kapitaleinkünfte sind zwar nicht abgabepflichtig, jedoch alle Arbeitseinkommen
in voller Höhe ohne Bemessungsgrenze. Freie Mitarbeiter gelten als nichtangestellte Gehaltsempfänger und zahlen denselben
Beitrag. Selbstständige und mitarbeitende Eigentümer in Gewerbebetrieben
(einschließlich der Hauptanteilseigner in Kapitalgesellschaften) zahlen
normalerweise 10,7 Prozent ihres »Personeneinkommens«(3), haben dafür aber im
Prinzip auch Anspruch auf alle Leistungen außer Arbeitslosengeld.(4) Für die
Beschäftigten im öffentlichen Dienst(5) gibt es zwar Zusatzversorgungssysteme,
aber auch hier sind alle Folketrygd-Mitglieder.
Die Arbeitgeberabgabe
beträgt in der Regel 14,1 Prozent(6) aller gezahlten Gehälter einschließlich
der Honorare für freie Mitarbeiter – auch das um einiges niedriger als in
Deutschland. Allerdings gibt es auch hier keine Beitragsbemessungsgrenze, und
für den Teil eines Jahresgehalts, der 100000 Euro übersteigt, ist sogar eine zusätzliche
Abgabe von 12,5 Prozent fällig.
Mit diesen Regeln sind
Probleme wie das Abdrängen in Scheinselbstständigkeit oder abgabenfreie
Minijobs wenig verbreitet. Selbst wer unter den 2700 Euro im Jahr oder gar
nichts verdient, bekommt die grundlegenden Sozialleistungen. Andererseits
führen hohe Abgaben bei hohen Gehältern nur in geringem Maße zu höheren
Ansprüchen. So entspricht das »Geburtsgeld« für normal verdienende Mütter und
Väter zwar 42 Wochen Freistellung bei vollem Gehalt oder 52 Wochen, in denen 80
Prozent des Lohns weiter gezahlt werden – jedoch gibt es für Jahrseinkünfte
über 40000
Euro keinen Ausgleich(7), während Niedrigstverdiener oder Hausfrauen eine
einmalige Unterstützung von knapp 4000 Euro bekommen.
Die großzügige Freistellung bei der Geburt eines Kindes begünstigt gleichwohl berufstätige Frauen und leistet damit einen wichtigen Beitrag sowohl zum großen Anteil erwerbstätiger Frauen als auch zu einer vergleichsweise hohen Geburtenrate. Das Kindergeld wird direkt aus dem Staatshaushalt finanziert und liegt etwa auf deutschem Niveau, es gibt aber zusätzliche Leistungen für Alleinerziehende.(8)
Dreißig Prozent aus Steuermitteln
Die verschiedenen Zweige
des Sozialsystems werden einheitlich verwaltet und unterstehen der Kontrolle
der Regierung und des Parlaments. Korporatistische
Selbstverwaltungen unter Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt es
nicht. Die Mitgliedsbeiträge der Arbeitnehmer, Freiberufler und Selbstständigen
machen etwa 30 Prozent der Einnahmen des Rikstrygdeverkets
aus. Ebenso viel schießt der Staat direkt aus Steuermitteln zu, und etwa 40
Prozent des Budgets wird aus den Arbeitgeberabgaben gespeist. Nur ein ganz
kleiner Anteil kommt aus dem Folketrygdfond, der zwar
ein bedeutender Akteur auf dem inländischen Finanzmarkt ist, dessen Überschüsse
aber angesichts der hohen Kosten der Altersversorgung unbedeutend sind.
Mindestrente und Zusatzrente
Auch die Rentenregelung
sorgt für sozialen Ausgleich: Alle Einwohner bekommen eine Mindestrente, wenn
sie von ihrem 16. bis 66. Lebensjahr mindestens drei Jahre im Land gemeldet
waren. Der volle Satz wird mit 40 Jahren Wohnzeit erreicht; wer nicht so viel
vorweisen kann, erhält nur einen entsprechenden Anteil. Allein stehende
Mindestrentner bekommen normalerweise knapp unter 1000 Euro im Monat
ausgezahlt. Der Betrag liegt weit über dem Sozialhilfesatz und ist für deutsche
Verhältnisse außerordentlich hoch. Es gibt jedoch zumindest in den größeren
Städten eine ganze Reihe alter Menschen, die es im Lauf ihres Lebens nicht
geschafft haben, eine eigene Wohnung zu kaufen, und die deshalb oft eine sehr
teure Wohnung mieten müssen.(9) Dafür kann im Einzelfall die gesamte Rente
draufgehen, sodass trotz zusätzlichen Wohngeldes manche von Sozialhilfe
abhängig sind. Gleichwohl waren 1999 nur drei Prozent der Sozialhilfeempfänger
im Rentenalter(10), was als Erfolg des Mindestrentenkonzepts gewertet werden
kann.
Wer Arbeitseinkommen hat,
erwirbt damit Anspruch auf eine Zusatzrente. Deren Höhe ist wie in Deutschland
von der Dauer der Beschäftigung und von der Höhe der Einkünfte abhängig. Dabei
zählt allerdings der Teil eines Jahresgehalts, der die genannte Grenze von 40000 Euro
übersteigt, nur zu einem Drittel, und alles über 80000 Euro fließt überhaupt
nicht in die Berechnung ein. Das System ist also eine Mischung aus Mindestrente
und einkommensabhängiger Rente, mit der sowohl eine Grundsicherung als auch ein
gewisser, allerdings eingeschränkter Zusammenhang zwischen den jeweils
eingezahlten Beiträgen und der späteren Rentenhöhe gewährleistet ist.
Zu wenig Rente für Gutverdienende?
Das System von Mindest-
und Zusatzrente gilt bei der breiten Mehrheit im Grundsatz als
verteidigenswert, hat sich aber in den letzten Jahrzehnten nicht gleichmäßig
für alle entwickelt. Während die Mindestrente stärker stieg als die Reallöhne,
wurde die Zusatzrente nur der Preissteigerungsrate angepasst. Außerdem waren
die Regeln für die Anrechnung hoher Einkommen vor 1992 großzügiger.
Ursprünglich sollte die Folkepensjon
Normalverdienern eine Rente von zwei Dritteln ihres letzten Bruttoeinkommens
sichern. In den nächsten Jahren werden viele nicht einmal 55 Prozent erreichen.
Der Zusammenhang zwischen eingezahlten Beiträgen und Rentenhöhe ist also
schwächer geworden.
Tarifvertragliche
Zusatzversorgungen und private Rentenversicherungen spielen deshalb eine immer
größere Rolle. Das führt oft zu Problemen bei der Privatisierung öffentlicher
Dienstleistungen, weil der billigste Anbieter meist die schlechteste oder gar
keine Zusatzversorgung bietet und die Beschäftigten dennoch oft mehr oder
weniger gezwungen sind, zu eben diesem Anbieter zu wechseln, wenn sie nicht
arbeitslos werden wollen.
Die Zusatzpension im
öffentlichen Dienst garantiert langjährigen Angestellten nach wie vor 66
Prozent des letzten Bruttoeinkommens als Gesamtrente. Diese Großzügigkeit
führte in den vergangenen Jahren einige Gemeinden an den Rand des Ruins, denn
die Kommunale Pensionskasse hatte große Teile der Einlagen in Aktien
investiert, die bekanntlich rapide an Wert verloren. Damit waren Zusatzprämien
in Millionenhöhe fällig, die aus dem laufenden Haushalt nachgeschossen werden
mussten. Seitdem hat die auch in Norwegen in einigen Kreisen starke
Begeisterung für kapitalgedeckte Renten erheblich
nachgelassen.
Arbeitsmarkt wichtiger als Einwanderung
Der Anteil der Älteren
nimmt auch in Norwegen zu, obwohl die Geburtenrate zu den höchsten in Europa
gehört. Neben dem universellen Folketrygd-System
mit seiner breiten Finanzierungsbasis bei gleichzeitig begrenzten Leistungen
für Besserverdienende gibt es indessen weitere Faktoren, die das Problem
entschärfen: Niedrige Arbeitslosigkeit, hoher Anteil erwerbstätiger Frauen und
Rentenanspruch erst mit 67. Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt
selbstredend niedriger. Dennoch: Trotz des nach den meisten Tarifverträgen ohne
größere Abschläge möglichen Renteneintritts mit 62 Jahren und trotz vieler
erwerbsunfähiger Frührentner hat Norwegen europaweit den höchsten Anteil 50-
bis 65-jähriger Menschen, die weiterhin arbeiten.(11)
Untersuchungen des
Statistischen Zentralamts(12) zeigen, dass genau auf diesen Gebieten die
wichtigsten Voraussetzungen liegen, um die erhöhten Rentenlasten der Zukunft in
den Griff zu kriegen. Mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik im Zentrum, die vor
allem die Bedingungen für ältere Beschäftigte stark verbessern müsste, ließe
sich bei sonst gleichen Bedingungen die derzeitige Beitragshöhe selbst in
vierzig Jahren noch halten. Eine reine Erhöhung des formellen
Renteneintrittsalters oder vermehrte Einwanderung hätte demgegenüber kaum
Auswirkungen.
Zwei umstrittene Reformvorschläge
Trotz der oben
zusammengefassten Untersuchungsergebnisse des Statistischen Zentralamtes
herrscht eine gewisse Panik angesichts der »Altenwelle«, die in einigen
Jahrzehnten auf das Land zurollt und für viele als nicht finanzierbar gilt.
Eine Rentenkommission wurde deshalb auch in Norwegen eingesetzt. Im September
2002 skizzierte die Pensjonskommisjon in einem
vorläufigen Bericht zwei Reformvorschläge: Entweder die Folkepensjon
in eine reine Mindestrente umzuwandeln oder das bisherige System so
weiterzuentwickeln, dass die Höhe der Einzahlungen sich stärker auf die Rente
auswirkt.
Das erste Modell würde zu
ernsten Legitimitätsproblemen führen, weil kaum jemand einsehen wird, auch von
mittleren und höheren Einkommen Abzüge hinnehmen zu müssen und trotzdem nur
eine Mindestrente zu bekommen, also zusätzlich noch für eine private
Altersversorgung zahlen zu müssen. Das gesamte Sozialsystem könnte ins Wanken
kommen, wenn große Teile der Normalbevölkerung keinen Nutzen mehr für sich darin
sehen, Sozialabgaben zu leisten. Diesem Problem könnte der zweite Vorschlag
vorbeugen. Er hat aber in seiner konkreten Ausprägung (und mehr oder weniger
zwangsläufig, wenn damit auch Geld gespart werden soll) den Haken, dass
Menschen mit spätem Berufseinstieg, viel Teilzeitarbeit und unstetem
Erwerbsleben erheblich weniger bekommen würden als heute. Vor allem viele
Frauen würden benachteiligt.
Viele Gewerkschafter
setzen auf betriebliche Zusatzversorgung. Auch das könnte die Folkepensjon untergraben, wenn der Druck für
Reformen geringer wird und sich der Trend fortsetzt, dass die Zusatzrente sich
für Normalverdiener immer weniger auszahlt. Die eigentliche Herausforderung
ist, diesen Trend zu stoppen und in Maßen umzukehren, ohne den Gedanken der
Grundsicherung und des sozialen Ausgleichs aufzugeben.
Das ist auch in Norwegen
schwierig. Der Ausgangsvorteil gegenüber Deutschland liegt jedoch auf der Hand:
Es gibt bereits ein System, in das alle einzahlen, das für soziale Sicherheit
im Alter sorgt und das gleichzeitig von breiten Schichten der Bevölkerung
einschließlich der »Besserverdienenden« weitgehend akzeptiert und unterstützt
wird.
Steuerparadies Norwegen
Gehaltsempfänger. Das
Formular für die Steuererklärung besteht aus einem einzigen Blatt mit Vorder-
und Rückseite, obwohl hier auch noch die Sozialabgaben mit abgerechnet werden.
Das meiste ist bereits vorgedruckt, weil Arbeitsverhältnisse, Konten und alles,
was sonst noch wichtig ist, stets unter der eigenen Personennummer registriert
ist und die entsprechenden Informationen am Jahresende dem Finanzamt gemeldet
werden. Das riecht nach Überwachungsstaat, wird aber hierzulande nicht
infragegestellt. Wenn im zurückliegenden Jahr nichts Außergewöhnliches passiert
ist, entsprechen die vom Arbeitgeber monatlich abgeführten Steuern und
Sozialabgaben ziemlich genau der fälligen Steuerschuld. Für ein durchaus
normales Brutto-Jahreseinkommen von umgerechnet 38000 Euro sind das insgesamt noch nicht
einmal 25 Prozent Abzüge – während in Deutschland fast 45 Prozent fällig wären.
Das liegt zum einen an den
niedrigen Sozialabgaben, aber auch die Steuersätze sind im Normalfall
wesentlich geringer als in vielen anderen Staaten. Trotzdem glauben die meisten
Norweger, dass sie in einem Hochsteuerland leben. Dieses Gerücht ist auch in
Deutschland nicht totzukriegen und beruht zum Teil darauf, dass neben der
Mehrwertsteuer von 24 Prozent diverse, zum Teil sehr hohe Sondersteuern und
-abgaben erhoben werden, beispielsweise auf Alkohol, Zucker und Autos.(13) Auch
gibt es für natürliche Personen nach wie vor eine Vermögenssteuer.
Dreistufiges Steuersystem für Arbeitseinkommen
Für
Jahres-Arbeitseinkommen bis zu knapp 40000 Euro gilt ein einheitlicher Steuersatz von
28 Prozent.(14) Jeder Euro darüber wird zusätzlich mit
13,5 Prozent besteuert, und ab 100000 Euro sind weitere 19,5 Prozent Steuern
fällig. Die üblichen, auf deutschem Niveau liegenden Freibeträge können nur von
dem Teil des Einkommens abgezogen werden, der normal mit 28 Prozent besteuert
wird, so dass viel verdienende Gehaltsempfänger ohne gewerbliche oder
Kapitaleinkünfte den erhöhten Steuersätzen kaum entgehen können. Wer wirklich
viel verdient, hat aber meist einen Betrieb oder Wertpapiere und kann nach den
geltenden Regeln mit etwas Geschick zu denen gehören, die gar keine Steuern
zahlen.
Nur der niedrigste Steuersatz für Kapitaleinkünfte
Mit der Steuerreform von
1992 senkte die sozialdemokratische Regierung die Körperschaftssteuern für
Aktiengesellschaften von 50,8 auf 28 Prozent und schaffte die Steuern auf
ausgezahlte Dividenden ganz ab. Der Satz für gewerbliche und sonstige
Kapitaleinkommen wurde auf einheitlich 28 Prozent festgesetzt. Die
Nichtbesteuerung von Dividenden führte zur vermehrten Ausschüttung von
Gewinnen, statt diese zu reinvestieren. Der Abstand
des Nettoeinkommens zwischen den zehn Prozent reichsten und den zehn Prozent
ärmsten Haushalten vergrößerte sich von 4,5 zu 1 im Jahre 1986 auf 5,9 zu 1
1996.(15) Im internationalen Vergleich ist das immer
noch ein geringer Einkommensunterschied, es zeigt sich aber eine Tendenz, die
auch in anderen Ländern gilt.
Die unterschiedliche
Behandlung von Arbeitseinkommen auf der einen und gewerblichem sowie
Kapitaleinkommen auf der anderen Seite brachte mit sich, dass beispielsweise
Künstler Aktiengesellschaften gründeten und sich Gewinne auszahlen ließen,
statt ihre Honorare als Arbeitseinkommen zu versteuern. Deshalb wurde ein
Verfahren eingeführt, mit dem für alle solchen und ähnlichen Fälle ein so
genanntes Personeneinkommen ermittelt wird, welches dem Anteil des Einkommens
entspricht, der mit der eigenen Arbeit erzielt wurde – im Gegensatz zum Anteil,
der dem eingesetzten Kapital entspricht. Auf diese Weise kann zumindest ein
Teil dieser Einkünfte höher versteuert werden und ist sozialabgabepflichtig.
Viele verstehen es
dennoch, ähnlich wie in Deutschland, über ihre Gewinn- und Verlustrechnung mit
entsprechenden Absetzmöglichkeiten ihr nominelles Einkommen so
herunterzurechnen, dass keine Steuern mehr fällig werden. Die 500 reichsten
Norweger hatten im Jahr 2000 im Schnitt ein Bruttoeinkommen von 2,4 Millionen
Euro. Davon zahlten sie nur 23,2 Prozent Steuern und Sozialabgaben.
In diesen Fragen hat die
Politik noch nicht zu einer klaren Linie gefunden. In einzelnen Jahren wurden
so Dividenden geringfügig besteuert. Die Haupttendenz der diskutierten
Vorschläge ist jedoch, auch die Steuern auf hohe Arbeitseinkommen zu senken, um
die Abgrenzungsprobleme zu den Kapitaleinkünften zu verringern.
Kredite mindern die Steuern
Für normale
Gehaltsempfänger gibt es neben einigen Freibeträgen nur wenige Möglichkeiten,
Ausgaben von der Steuer abzusetzen. Ganz einzigartig ist jedoch die
Möglichkeit, alle anfallenden Zinsausgaben vom Einkommen abzuziehen (soweit
dieses mit 28 Prozent besteuert wird).(16) Damit ist
die Finanzierung größerer Anschaffungen mit Krediten äußerst attraktiv, was vor
allem die Eigentümer von Wohnungen und Häusern stark gegenüber Mietern
begünstigt. Das reale Zinsniveau liegt damit 28 Prozent unter dem nominellen
Zinssatz. Deshalb sind auch die Leitzinsen der Nationalbank nicht direkt mit
denen in anderen Ländern vergleichbar und müssen zwangsläufig immer etwas höher
liegen, um denselben geldpolitischen Effekt zu erzielen wie ohne diese
Spezialregelung.
Kein Ehegattensplitting
Für Ehepaare, registrierte
Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende gibt es eine eigene Steuerklasse.
Dabei handelt es sich jedoch um nicht mehr als einen zusätzlichen
Personenfreibetrag, der sich bei Ehen und Lebensgemeinschaften nur auswirkt,
wenn einer der Partner ein geringfügiges oder gar kein Einkommen hat. In diesem
Fall ist die Steuerschuld um etwa 1000 bis 1500 Euro im Jahr niedriger als für
normale Steuerzahler.
Dieser geringfügige
Steuervorteil kann mit der Subvention der Hausfrauen-Ehe durch das deutsche
Ehegattensplitting bei weitem nicht mithalten und dürfte für Frauen im
Normalfall kein Anreiz sein, ihren Beruf aufzugeben. Trotzdem ist damit die
Annahme von Teilzeitarbeit für bisherige Hausfrauen unattraktiv, wenn der Job
nur wenige Stunden in der Woche umfasst. Eine Steuerkommission hat deshalb
vorgeschlagen, diese Steuerklasse abzuschaffen und stattdessen Familien mit
Kindern stärker mit direkten Leistungen zu unterstützen.(17)
Das ist selbstredend umstritten, aber ein echtes Ehegattensplitting würden
selbst erzkonservative Familienpolitiker nicht fordern.
Eine ganz gegenteilige
Forderung wird indessen in den letzten Jahren immer öfter laut: Die Steuern für
Alleinstehende zu senken, weil die Lebenshaltungskosten in
Ein-Personen-Haushalten naturgemäß am höchsten sind.
1
Stein Kuhnle: »Norge i møte med Europa«, in: Aksel Hatland, Stein Kuhnle, Tor Inge Romøren (Red.): Den
norske velferdsstaten,
Oslo 2002. Allen, die Norwegisch, Schwedisch oder Dänisch können, sei dieser
Sammelband empfohlen.
2
Die
konkreten Angaben sind meist den einschlägigen Broschüren des Rikstrygdeverkets entnommen. Einige davon sind auch
auf Englisch erschienen und unter www.trygdeetaten.no/brosjyrer zu finden.
3
Dafür
wird in einem komplizierten Verfahren der Anteil des Gesamteinkommens
ermittelt, der mit persönlicher Arbeit erzielt wurde – in Abgrenzung zum
Anteil, der der Verzinsung des eingesetzten Kapitals entspricht, wofür keine
Sozialabgaben fällig werden. Näheres siehe Artikel zum Steuerrecht.
4
Neben
Steuervorteilen ist auch der Anspruch auf Arbeitslosengeld ein Grund dafür,
dass selbst »Ein-Mann«-Architekturbüros und -Anwaltskanzleien
Aktiengesellschaften bilden mit dem Chef als Angestelltem.
5
Beamte im
deutschen Verständnis sind im Wesentlichen nur die aller obersten
Führungspersonen in den Ministerien sowie die leitenden Geistlichen der
Staatskirche oberhalb der Gemeindepfarrer. Selbst Polizisten sind normale
Angestellte mit Streikrecht.
6
Der
Arbeitgeberanteil der Sozialabgaben war bisher regional differenziert. Als
Anreiz für Arbeitsplätze in unterentwickelten und abgelegenen Gebieten war er
in bestimmten Regionen ermäßigt und wurde im nördlichsten Teil des Landes
überhaupt nicht erhoben. Auf Grund wiederholter Einsprüche der
Überwachungsbehörde für den der EU assoziierten Europäischen Wirtschaftsraum
wird diese Form der Regionalpolitik wahrscheinlich nur noch im äußersten Norden
weitergeführt werden können. Norwegen könnte zwar die Arbeitgeberabgaben
generell kürzen oder ganz abschaffen. Sie regional zu staffeln, gilt für die EU
jedoch als unerlaubte Subvention.
7
Dasselbe
gilt für das einjährige Krankengeld mit hundertprozentiger Lohnfortzahlung nach
einer 14-tägigen Arbeitgeberperiode. Selbstständige bekommen 65 Prozent, können
aber gegen eine Zusatzprämie den vollen Anspruch erwerben. Auch bei der
Berechnung des Arbeitslosengeldes zählt das Jahreseinkommen nur bis
40<|>000 Euro.
8
Historische
und kulturelle Faktoren sind auch nicht zu verachten: Im bis weit ins 20.
Jahrhundert stark von Kleinbauern und Fischern geprägten Norwegen war das reine
Hausfrauendasein nur in den Nachkriegsjahrzehnten stärker verbreitet. Männer
tragen mehr als in anderen Ländern zur Hausarbeit und insbesondere zur
Kindererziehung bei. Kindergärten sind dagegen eher schlechter ausgebaut als in
Deutschland und recht teuer.
9
Wohneigentum
ist hier auch in den Städten vorherrschend und wird steuerlich stark gefördert.
Die wenigen Mietwohnungen sind vor allem in den großen Städten sehr teuer. Von
diesem Problem abgesehen, sind die Lebenshaltungskosten jedoch entgegen
landläufigen Auffassungen nicht wesentlich höher als in Deutschland. Wer den
Kredit für die eigene Wohnung abgezahlt hat, kommt deshalb mit der Mindestrente
gut aus.
10
Aksel Hatland: »Trygd og arbeid«, in: Den norske Velferdsstaten.
11
Um der
Tendenz des vorzeitigen Ruhestands entgegenzuwirken, ist für Angestellte ab 62
im letzten Jahr die Arbeitgeberabgabe um vier Prozentpunkte gesenkt worden.
Einige Gemeinden haben bereits begonnen, diese Altersgruppe besser zu bezahlen.
12
Einar
Bowitz, Ådne Cappelen: »Velferdsstatens økonomiske grunnlag«, in: Den norske Velferdsstaten.
13
Bis in
die Sechzigerjahre hinein war die Einfuhr von Autos rationiert. Davon ist eine
Einfuhrabgabe geblieben, mit der ein Kleinwagen fast doppelt so teuer ist wie
in Mitteleuropa. Im laufenden Betrieb fallen jedoch keine wesentlich höheren
Autokosten an als in Deutschland.
14
Englischsprachige
Informationen des Finanzministeriums sind unter www.odin.dep.no/fin/engelsk zu finden.
15
Rune Skarstein: »Skauge for de rike«, in: Klassekampen (Tageszeitung in Oslo), 15.5.03.
16
Im
Gegenzug werden alle Zinseinnahmen ohne Freibetrag dem mit 28 Prozent zu
versteuernden Einkommen hinzugerechnet.
17
Aftenposten (Tageszeitung in Oslo), 10.6.03.
Gesundheitswesen
in Norwegen
Für
die grundlegenden Dienste im Gesundheitswesen einschließlich häuslicher Pflege
und Pflegeheimen sind in Norwegen die Gemeinden zuständig, die dafür laufende
Zuschüsse vom Staat und in speziellen Fällen auch Investitionszuschüsse
bekommen.(1) Die meisten Ärzte sind dennoch nicht
angestellt, sondern wie in Deutschland frei praktizierend. Sie erhalten einen
Betriebskostenzuschuss von der jeweiligen Gemeinde, während der Rest der
Behandlungskosten mit dem Rikstrygdeverk
einzeln abgerechnet wird.
Für jeden Arztbesuch müssen die Patienten einen Eigenanteil
von 117 Kronen oder umgerechnet gut 14 Euro berappen; bei einer Überweisung zum
Spezialisten sind 24 Euro fällig.(2) Seit zwei Jahren
haben alle Einwohner das Recht auf einen festen Hausarzt. Wer das nicht will,
muss einen höheren Eigenbeitrag zahlen.(3) Für Medikamente müssen die Patienten
36 Prozent selbst zahlen, sie sind aber zum Teil billiger als in Deutschland.(4)
Insgesamt sind die persönlichen Zuzahlungen auf 165 Euro im Jahr begrenzt, und
Kinder unter sieben Jahren sind ganz befreit.(5) Wer teure Arzneimittel über
dem jeweils festgesetzten Referenzpreis haben will, muss allerdings die
Differenz zusätzlich selbst zahlen.
Stationäre Behandlung im Krankenhaus ist generell gratis.
Nachdem sie lange eine Kreisangelegenheit (6) waren,
unterstehen die öffentlichen Krankenhäuser seit 2002 direkt dem Staat. Die fünf
neuen, betriebswirtschaftlich agierenden regionalen Gesundheitsbetriebe mit
ihren Tochterunternehmen sind demokratischer Kontrolle weitgehend entzogen und
nach der Umorganisierung vor allem mit Skandalen aufgefallen: Weil etwa die
Hälfte der Kosten über Fallpauschalen finanziert wird, wurde zum Beispiel auf
Anweisung eines Regionaldirektors in großem Stil versucht, die registrierten
Diagnosen so zu manipulieren, dass dem jeweiligen Krankenhaus mehr Geld
zufließt.
Weder der feste Hausarzt noch die Fallpauschalen haben zur
Kostenreduzierung geführt. Das Kostenniveau liegt insgesamt im Mittelfeld der
OECD-Staaten, obwohl in einem so dünn besiedelten Land speziell die
Gesundheitsversorgung auf dem Land und im Norden zwangsläufig aufwändig ist.
Abgelegene Orte haben Probleme, überhaupt genügend Ärzte und Pfleger zu finden.
In den größeren Städten ist der traditionelle Mangel an Ärzten und
Krankenschwestern inzwischen weitgehend behoben, unter anderem als Folge
erheblicher Gehaltserhöhungen vor allem für das Pflegepersonal. Die schlechter
bezahlten Hilfspfleger sind jedoch nach wie vor Mangelware.
Die lange Wartezeit bei nicht lebensbedrohenden Krankheiten
ist noch immer ein großes Problem. Weil im Einzelfall mehrere Monate vergehen
können, ehe ein Platz für eine solche nicht lebenswichtige Operation frei ist,
werden hierfür neuerdings private Krankenversicherungen angeboten, die manche
Firmen sogar für ihre Angestellten bezahlen. Diese Versicherungen tun nicht
mehr, als die Behandlung innerhalb einiger Wochen zu garantieren. Dafür suchen
und reservieren sie freie Plätze in den öffentlichen und gemeinnützigen
Krankenhäusern oder, wenn es dort keine gibt, in privaten Einrichtungen oder im
Notfall auch im Ausland. Die eigentlichen Behandlungskosten übernimmt auch hier
meist das Rikstrygdeverk. Das Ganze scheint
also eher eine Frage der Koordination zu sein, die auch das öffentliche
Gesundheitswesen lösen können müsste.
Außer für diese Behandlungsgarantie gibt es keine einzige
private Krankenversicherung. Insgesamt scheint das universelle öffentliche
Gesundheitswesen so gut ausgebaut zu sein, dass »der Markt« keine ergänzenden
privaten Lösungen anbietet. Das gilt kurioserweise auch für die Zahnbehandlung,
die für Erwachsene völlig aus der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausfällt.
Für Kinder und Jugendliche gibt es einen eigenen
zahnärztlichen Dienst, der kostenlose Behandlung bietet und eine umfassende
vorbeugende Arbeit leistet. Anschließend sind alle auf die privaten Zahnärzte
angewiesen und müssen die Kosten vollständig selbst tragen, sofern es sich
nicht um spezielle Kieferoperationen handelt. Die Ausgangsbasis ist damit recht
gut, bei älteren Menschen ist der durchschnittliche Zustand der Zähne jedoch
deutlich schlechter als in anderen Ländern.
Nicht nur bei Zahnersatz, sondern generell muss sich jeder
Einzelne überlegen, wie viel ihm ein gesundes, vollständiges Gebiss wert ist.
Vor einer komplizierten Wurzelbehandlung ist es keine ungewöhnliche Auskunft
des Zahnarztes/der Zahnärztin, dass es nur ein Achtel kostet, wenn der Zahn
einfach gezogen wird.
Immer wieder werden Forderungen laut, die Zahnbehandlung in
das öffentliche Gesundheitswesen einzubeziehen. Konkrete Pläne, diese Lücke zu
schließen, gibt es jedoch nicht. Mit entsprechenden Lücken im Gebiss ist
deshalb weiterhin zu rechnen.
Michael Klinski
...
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