Von Stefan Steinberg
5. April 2012
Die neuesten Zahlen von Eurostat, der Statistikbehörde der
Europäischen Union, zeigen, dass die Arbeitslosenzahlen in der Eurozone
seit mittlerweile zehn Monaten ansteigen und im Februar die Marke von
siebzehn Millionen überschritten haben – das entspricht 10,8 Prozent
aller Arbeitsfähigen. Die offizielle Arbeitslosenquote ist damit auf dem
höchsten Stand seit Einführung des Euro vor fünfzehn Jahren und 1,5
Millionen höher als vor einem Jahr.
Die Gesamtzahl von 17,1 Millionen Arbeitslosen verschleiert
beträchtliche Unterschiede zwischen einzelnen europäischen Staaten. Die
höchste Arbeitslosenquote wurde für Spanien registriert, hier sind
insgesamt 23,6 Prozent arbeitslos, und mehr als 50 Prozent der unter
25-jährigen. Auf dem zweiten Platz liegt Griechenland mit 21 Prozent. Am
niedrigsten ist sie in einer Reihe nordeuropäischer Staaten wie
Österreich (vier Prozent) und Deutschland, dessen offizielle
Arbeitslosenquote 5,7 Prozent beträgt.
Man kann davon ausgehen, dass die Zahlen von Eurostat die
tatsächliche Lage in Europa stark beschönigen. Laut Eurostat beträgt die
Arbeitslosenquote in Deutschland 5,7 Prozent, aber die Bundesagentur
für Arbeit gibt sie mit 7,2 Prozent an. Wenn man die Diskrepanz zwischen
den offiziellen Zahlen aus Deutschland und der Schätzung der EU als
Vergleichsgrundlage nimmt, müsste die tatsächliche Arbeitslosenzahl in
der Europäischen Union über 21 Millionen liegen.
Weder die nationalen noch die europäischen Arbeitslosenstatistiken
berücksichtigen das wachsende Problem der Unterbeschäftigung, d.h.
derjenigen Arbeiter, die schlecht bezahlte Teilzeitstellen haben und
eine reguläre Stelle zu angemessenem Lohn suchen. Dieses Problem ist in
Deutschland besonders drängend. Hier sind zurzeit 7,5 Millionen Menschen
in 400-Euro-Jobs beschäftigt.
Dieser riesige Niedriglohnsektor hat zu einem dramatischen Anwachsen
der Armut bei Arbeitslosen und Beschäftigten in Deutschland geführt. Er
ist das Herzstück des „deutschen Wirtschaftsmodells“, das von Politikern
und Finanzinstitutionen zunehmend als Musterbeispiel für Europa
dargestellt wird.
Dass die Arbeitslosigkeit weiter steigt, ist eine direkte Folge der
Sparmaßnahmen, die auf dem ganzen Kontinent durch die Europäische Union
und den Internationalen Währungsfonds durchgesetzt werden. Sie haben
weite Teile Europas in die Rezession gestürzt. Irland, Griechenland,
Belgien, Portugal, Italien, die Niederlande und Slowenien stecken
offiziell in der Rezession. In Großbritannien ist das Wachstum minimal,
in Frankreich und Deutschland geht das Wachstum zurück.
Der Trend zur Rezession wurde auch durch den aktuellen Purchasing
Managers Index (Einkaufsleiterindex, PMI) bestätigt, einem wichtigen
Indikator für die Wirtschaftsaktivität in der Eurozone. Er ist von 49
Punkten im Februar auf 47,7 Punkte im März gesunken, wobei alles unter
50 Punkten als Anzeichen für eine Rezession gilt. Der Index ist seit
August unter 50 Punkten.
Laut Markit, dem Herausgeber des PMI, gingen die Arbeitsplätze in der
Produktion im März so schnell zurück wie seit zwei Jahren nicht mehr,
wobei von der französischen Wirtschaft besonders schlechte Zahlen
kommen. Auch in Deutschland verlangsamte sich die Wirtschaftsaktivität.
Die Nachfrage nach deutschen Waren ist nicht nur in Europa gesunken,
sondern auch in Asien. Auch China hat mit einem Rückgang seiner
Wirtschaftsleistung zu kämpfen.
Vor dem Hintergrund wachsender Inflation rechnet Markit für die
nächsten Monate mit einer weiter sinkenden Wirtschaftsleistung. Dieser
Rückgang wird weiteren Arbeitsplatzabbau in Europa zur Folge haben.
Der Ökonom Martin van Vliet von dem Bankunternehmen ING erklärte zu
diesen Zahlen, die Verschlechterung des PMI „werfe einen dunklen
Schatten auf die Wachstumsvorhersagen der Region“. Die hohe
Arbeitslosigkeit in vielen südeuropäischen Ländern sei Ausdruck der
„kurzfristigen wirtschaftlichen Härten, die von den drakonischen
Sparprogrammen verursacht werden.“
Die drakonischen Sparprogramme, von denen van Vliet spricht, werden
für viele Millionen europäische Familien nicht nur zu „kurzfristigen
wirtschaftlichen Härten“ führen, sondern für Jahrzehnte zu großem Elend.
Ein Artikel aus der französischen Zeitung Le Monde, über die
Rückkehr der Kinderarbeit auf dem europäischen Kontinent zeigt, wie
stark die derzeitige Sparpolitik den europäischen Lebensstandard gesenkt
hat.
Der Artikel trägt die Überschrift „Kinderarbeit kehrt in Neapel
zurück“ und beschreibt, dass in der süditalienischen Metropole tausende
Kinder dazu gezwungen sind, die Schule abzubrechen, um zu arbeiten und
so ihre Familien zu unterstützen. Der Artikel zitiert aus einem Bericht
der lokalen Behörden von 2011, laut dem in der Region Kampanien vom 2005
bis 2009 54.000 Kinder die Schule abgebrochen haben. Etwa 38 Prozent
von ihnen waren jünger als dreizehn Jahre.
Der Artikel beschreibt, wie Kinderarbeit zu einer alltäglichen
Erscheinung in der Region geworden ist, wobei kleine Kinder in einer
ganzen Reihe von Berufen tätig sind. Der stellvertretende Bürgermeister
von Neapel wird folgendermaßen zitiert: „Wir waren natürlich die ärmste
Region in Italien, aber so etwas haben wir seit Ende des Zweiten
Weltkriegs nicht gesehen… Mit zehn Jahren arbeiten diese Kinder schon
zwölf Stunden am Tag. Das ist eine klare Verletzung ihres Rechts auf
Entwicklung.
Der Le Monde-Artikel weist darauf hin, dass das verzweifelte
Schicksal der Kinder und Jugendlichen in der Region ein direktes
Ergebnis der „Finanzreformen“ ist, die mehrere italienische Regierungen
durchgeführt haben. Durch sie haben Arme und Arbeitslose entweder
schwierigeren oder gar keinen Zugang mehr zu staatlichen
Hilfsleistungen.
Der Hauptteil der Unterstützung für junge Menschen und ihre Familien
in der Region kommt von Gemeindeeinrichtungen, die zunehmend in
Finanznot geraten. Laut dem Artikel haben in der Region Kampanien 20.000
Arbeiter in derartigen Systemen seit zwei Jahren keinen Lohn mehr
erhalten.
Die Rückkehr der Kinderarbeit ist nicht nur ein Problem in Italien.
Zweihundert Jahre nach der Geburt des britischen Schriftstellers Charles
Dickens, der die Folgen derartiger Praktiken eindrücklich geschildert
hatte, ist die Kinderarbeit ein Problem für ganz Europa. Sie ist ein
verheerendes Armutszeugnis des politischen Konsenses in Europa, dem sich
auch sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften angeschlossen
haben, die die Europäische Union und ihre Politik unterstützen.
wsws.org
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