Vor einigen Tagen hörte ich von der „Gewaltstudie 2013“,
die im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung von der Universität
Bielefeld unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Holger Ziegler
umgesetzt wurde. „Gewalt ist in Deutschland für viele Heranwachsende
erschreckender Alltag. Fast ein Viertel (22,3 Prozent) wird von
Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen; 28 Prozent davon sind Kinder
ab sechs Jahren, etwa 17 Prozent Jugendliche“ ist in der Zusammenfassung
zu lesen. Für die Studie wurden 900 Kinder und Jugendliche in den
Altersgruppen zwischen 6 bis 11 und 12 bis 16 Jahren interviewt. Die
strukturierten Gespräche wurden in den Städten Berlin, Köln und Dresden
von geschulten Befragern geführt.
Diese Daten erinnerten mich an die Untersuchungsergebnisse einer Studie des „Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen“ (KFN), die vor einigen Jahren vor allem durch den NDR öffentlichkeitswirksam verbreitet worden sind. Christian Baars fasst die Ergebnisse dieser Studie mit folgenden entschlossenen Worten zusammen:
„In sehr religiösen freikirchlichen Familien werden Kinder demnach
besonders häufig Opfer von Gewalt. Mehr als jeder sechste freikirchliche
Schüler hat in der Kindheit schwere elterliche Gewalt erlebt. Und: Je
religiöser die Eltern sind, desto häufiger und massiver schlagen sie
ihre Kinder. Bei den katholischen und evangelischen Schülern liegt die
Quote deutlich tiefer.“ Grundlage für die „KFN-Studie“ bildeten zwei
Befragungen. Einmal wurden 45.000 Schüler aus der neunten Jahrgangsstufe
(also zwischen 14 und 15 Jahre alt) und ein zweites Mal ungefähr 11.500
Erwachsene befragt. „Von diesen Jugendlichen gehören 11.831 dem
katholischen Glauben, 11.627 dem evangelischen Glauben an. Unter den
evangelischen Jugendlichen finden sich insgesamt 431 Schüler, die
angaben, einer Freikirche anzugehören. Um welche Freikirche es sich
genau handelt, wurde nicht erfragt“ (S. 3).
Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Studie durch die
Aussage, dass sich bei den evangelisch-freikirchlichen Jugendlichen das
höchste innerfamiliäre Gewaltniveau ermitteln ließ. Die
evangelisch-freikirchlichen Schüler bildeten die mit Gewalt am stärksten
belastete Gruppe. „Am deutlichsten zeigt sich dies in Bezug auf die
Nicht-Akademiker-Familien: 17,4 % der evangelisch freikirchlichen
Schüler haben in ihrer Kindheit schwere elterliche Gewalt erlebt …“ (S.
6). Hinzu kommt, „dass mit stärkerer Religiosität das Ausmaß
innerfamiliärer Gewalt zunimmt“ (S. 6). In der Zusammenfassung heißt es
entsprechend (S. 13):
„Mitglieder evangelisch-freikirchlicher Gemeinden sind von ihren Eltern öfter geschlagen worden als Befragte aus evangelischen oder katholischen Gemeinden. Vor allem aber wird eine Besonderheit deutlich: Je religiöser evangelisch-freikirchliche Eltern sind, umso häufiger und massiver schlagen sie ihre Kinder. Für katholische und evangelische Befragte hat sich dieser Zusammenhang nicht bestätigt. Im Gegenteil: Bei den katholischen Befragten zeigt sich sogar eine gegenteilige Tendenz.“
Erklärt wird der Befund vornehmlich mit den rigiden Erziehungsvorstellungen der Eltern (S. 14):
„Eine Erklärung für diese Befunde dürfte sein, dass in den freikirchlichen Gemeinden und hier insbesondere unter den Hochgläubigen noch immer antiquierte Erziehungsvorstellungen aufrechterhalten werden, die Gewalt als legitimes Mittel einschließen und die mit in der Bibel geäußerten Erziehungsvorstellungen übereinstimmen.“
Verantwortet wurde die „KFN-Studie“ von Christian
Pfeiffer und Dirk Baier. Bei meinem Versuch, insbesondere die Sorgen des
Kriminologen Christian Pfeiffer besser zu verstehen, bin ich auf seinen
Vortrag „ Parallel Justice – warum brauchen wir eine Stärkung des Opfers in der Gesellschaft?“ gestoßen. Dieser Vortrag eröffnet aufschlussreiche Einblicke in sein pädagogisches Menschenbild.
Für Pfeiffer ist die Urform „schwerer Viktimisierung“
(jemanden zum Opfer machen) eine alte religiös begründete
Erziehungsmethode. Hinter dem Glauben, Kinder durch Züchtigung erziehen
zu können, „steht der religiöse Glaube an eine angeborene Verderbtheit
und Erbsünde des Menschen. Dem galt es, von Beginn an mit aller Härte
entgegen zu wirken. ‚Kindern den Teufel aus dem Leib prügeln‘, war über
Jahrhunderte mehr als nur eine Redewendung“ (S. 1).
Während Pfeiffer also namentlich den christlichen
Ursündengedanken für innerfamiliäre Gewalt verantwortlich macht,
schwärmt er für die romantische Pädagogik, wie sie beispielsweise bei
Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf
zu finden ist.
„Doch dann entdeckten unabhängige Köpfe im Zeitalter der Aufklärung ganz andere Zusammenhänge. Von dem französischen Philosophen und Humanisten Michel de Montaigne stammt die Aussage: ‚Von der Rute habe ich bisher keine andere Wirkung gesehen, als dass sie die Kinder zu Kriechern oder zu immer verstockteren Bösewichtern machte‘. 1692 wandte sich der englische Philosoph John Locke in seinem Werk ‚Gedanken über Erziehung‘ gegen das Konzept der angeborenen Verderbtheit, die man durch Prügel bekämpft. Zitat: ‚Kinder sind wie weißes Papier oder wie Wachs, das man positiv und negativ gestalten und formen kann‘. Und 70 Jahre später setzte Jean Jacques Rousseau dem christlichen Begriff der Ursünde den der kindlichen Unschuld entgegen. Kinder sollten die Chance erhalten, ihre Kreativität zu entfalten und selber aus ihren Erfahrungen schrittweise zu lernen. Es dauerte dann jedoch weitere 200 Jahre, bis in Schweden und den nordischen Ländern die wunderbaren Kinderbücher von Astrid Lindgren den Boden für eine grundlegende Reform vorbereiteten.“
Dazu drei kurze Gedanken:
(1) Ich kenne weder eine Bekenntnisschrift noch einen
Christen, der meint, die Erbsünde aus einem Menschen herausprügeln zu
können. Die Antwort auf die von uns Menschen ererbte Neigung zum Bösen
heißt Gnade, Vergebung sowie eine aufrichtige Liebe zu Gott und dem
Nächsten. Zwar lassen sich etwa bei einflussreichen pietistischen
Pädagogen Texte finden, die davon sprechen, dass der natürliche
Eigenwille des Kindes „gebrochen“ werden müsse. Aber das ist eben etwas
anderes als Herausprügeln des Teufels oder der Sünde. Die maßgeblichen
Erziehungsmittel für August Herrmann Francke hießen „Vorbild, Verheißung
und Strafe (Aufsicht), das Gebet und der Unterricht“ (Philipp vom
Stein, Der Blick auf das Kind, 2005, S. 7., der sich beruft sich auf: Peter Menck, Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes, Tübingen: 2001, S. 43-62.).
(2) Pfeiffer wischt das christliche Menschenbild
einfach beiseite und beruft sich auf eine „aufgeklärte Pädagogik“, die
davon ausgeht, dass der Mensch ein unbeschriebenes Blatt ist (John
Locke) oder von Natur aus gut erst durch falsche Erziehung zum Bösen
verbogen wird (Jean-Jacques Rousseau).
So sehr ich dafür dankbar bin, dass Pfeiffer damit
seinen pädagogischer Unterbau offengelegt, so sehr wundert es mich, dass
glattweg der Eindruck erweckt wird, dieses humanistische Menschenbild
sei unbestreitbar gültig. Einsichten anderer großer Pädagogen, unter
ihnen Comenius, Hobbes oder Pestalozzi, werden einfach ausgeblendet.
Gerade Letzterer war einst Anhänger Rousseaus, hat sich aber nach
eingängiger pädagogischer Arbeit von ihm abgewandt. In seiner reifen
Phase war er davon überzeugt, dass der Mensch ambivalent offen ist für
Gutes und Böses. Das Menschenbild der „Pipi Langstrumpf-Pädagogik“ mag
weit verbreitet sein, gut begründet ist es nicht. Es ist schon gar nicht
die heute einzig vertretbare Sichtweise auf den Menschen.
Meines Erachtens werden wir derzeit auf eher
unangenehme Weise mit den Einseitigkeiten jener Menschenbilder
konfrontiert, die auf die Unschuld des Kindes setzen. Aus „süßen Pipis“
können nämlich Tyrannen werden. Gerade das christliche Menschenbild
erscheint mir demgegenüber realitätsbezogen und aufgeklärt. Es geht
davon aus, dass jeder Mensch einerseits ein wertvolles Geschöpf Gottes
ist (in der Bibel auch „Ebenbild Gottes“ genannt, vgl. Gen 1,27),
andererseits nimmt es die Disposition zum Bösen ernst. Das christliche
Menschenbild ist weder so naiv wie das von Rousseau oder Locke, noch ist
es so hoffnungslos deterministisch wie das vieler posthumanistischer
Soziobiologen oder Geistphilosophen (z. B. Richard Dawkins oder Wolf
Singer).
(3) Was ich aber eigentlich sagen möchte (obwohl ich
natürlich weiß, dass Studien sich seriös nicht so einfach
gegenüberstellen lassen): Nach Pfeiffer erleben unter den
freikirchlichen Nicht-Akademiker-Familien 17,4 % Gewalt. Dieser Wert
entspricht ungefähr den 17 % unter den Jugendlichen zwischen 12–16, die
laut der „Gewaltstudie 2013“ familiäre Gewalt erfahren. Demnach läge die
innerfamiliäre Gewalt in den evangelisch-freikirchlichen Kreisen
ungefähr genauso hoch wie die in der Gesamtbevölkerung. Zieht man die
Pauschalaussagen der Studien heran, erleben in den freikirchlichen
Kreisen weniger Kinder Gewalt (jeder sechste Schüler) als Kinder in der
Gesamtbevölkerung (jeder vierte Schüler).
Das ist sicher kein Grund zur Entwarnung, zeigt aber,
dass der Befund im Blick auf die Freikirchen auch keinen Anlass für
Panikmache gibt.
Theo-Blog
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