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Die Bibel im kulturellen Gedächtnis

Nimm und lies"
Die Bibel ist für uns Christinnen und Christen das Buch des Lebens: zeitlos und aktuell, klärend und verstörend, tröstend und irritierend. In Christus, wie die Bibel ihn bezeugt, zeigt sie das Gesicht Gottes in der Welt. Die Bibel ist Schlüssel zum Glauben und zugleich Schlüssel zum Verständnis unserer Kultur.

Eine Gesellschaft lebt aus ihrem kulturellen Gedächtnis. In diesem Gedächtnis hat sie ihr Fundament und ihren Horizont. Wir sind überzeugt, dass die Bibel Teil dieses kulturellen Gedächtnisses ist.

Als Kirche der Reformation ist es uns deshalb wichtig, dass die Bibel allen zur persönlichen Aneignung und Interpretation zugänglich ist.

Die Synode der EKD lädt im "Jahr der Bibel" ein, sich mit diesem Buch auseinander zu setzen und so am kulturellen Gedächtnis  unserer Gesellschaft mitzuarbeiten.

Die Synode will dazu verlocken, den Reichtum biblischer Traditionen zu entfalten, will Lesehilfen geben, um die Schätze der Texte neu zu heben.

Was geht verloren, wenn das Bild vom "Barmherzigen Samariter" nichts mehr sagt? Welche Perspektive wird gewonnen, wenn vom "geöffneten Himmel" geredet wird, wo "kein Leid mehr sein wird, noch Geschrei ..."?

Die Bibel ins Gespräch bringen

Im kulturellen Gedächtnis zeigt sich das Selbstbild einer Gesellschaft. Texte, Bilder und Riten entfalten einen Erinnerungsraum, der über den des Einzelnen hinausgreift. Es wirkt wie ein Generationenvertrag, der über die Gegenwart in die Zukunft trägt. Deshalb ist es mehr als ein Archiv. Das kulturelle Gedächtnis ist sowohl der Wortschatz als auch die Grammatik, die es ermöglicht, der Gesellschaft immer wieder neu Gestalt und Richtung zu geben.

Das kulturelle Gedächtnis wandelt sich ständig, wie ein fließender Prozess der Wiedererinnerung, Auslegung, Überlagerung und Verschiebung von Traditionen. Sein ständiger Begleiter ist das kulturelle Vergessen.

Unsere Gegenwart ist auch dadurch gekennzeichnet, dass viele Menschen die Bibel gar nicht mehr kennen und nichts von ihr wissen. Wir sehen uns verpflichtet, die Bibel immer wieder ins Gespräch zu bringen. So leisten wir Arbeit am kulturellen Gedächtnis.

Unsere Kultur ist mit der biblischen Tradition verwoben. Mit Luthers Bibelübersetzung aus dem 16. Jahrhundert beginnt die moderne deutsche Sprache und Literatur. Biblische Geschichten werden an vielfältigen Orten jenseits der Kirche tradiert und ausgelegt. Figuren und Erzählungen der Bibel prägen unsere Gegenwartskultur bis in die Alltagssprache. Die Künste, der Film, die Werbung, aber auch die Politik und das Recht bedienen sich dieser Grunderzählungen.

Biblische Worte begegnen uns nicht nur als Taufspruch und bei der Konfirmation der Patenkinder, sondern auch als Zitat im Munde eines öffentlichen Redners, als Anspielung in den Zeilen eines Popsongs, als Hintergedanke in moderner Werbung und in psychologischen Ratgebern: eine Art "Bibel bei Gelegenheit". In den bildenden Künsten und der Musik, dem Kinofilm, in Fernsehserien und im Theater existiert eine vielfältige Rezeption biblischer Motive, Personen und Geschichten.

Über den bewussten Rückgriff auf die Bibel hinaus vollzieht sich die kulturelle Aneignung und Tradierung biblischer Stoffe und Motive heute vielfach in unbewusster und anonymer Form. Bei diesem kulturellen Prozess verwischen sich die Spuren zum biblischen Ursprung.

Traditionsaneignung ist mit Um- und Neudeutungen verbunden, in die sich auch fremde kulturelle und religiöse Strömungen mischen. Dieser Prozess ist in der populären Kultur besonders wirksam. Ohne Rücksicht auf die kirchliche Überlieferung passt sie die biblischen Motive den Bedürfnissen, den Wahrnehmungsmustern und dem Verständnishorizont eines großen Publikums an. Es gehört zu den Aufgaben der evangelischen Kirche, zur Lesbarkeit der gegenwärtigen Kultur durch das Erinnern an die biblischen Quellen beizutragen, kulturelle Erlebnisse zu vertiefen, die Menschen für Grundfragen ihrer Existenz empfänglicher zu machen und so einem kulturellen Gedächtnisverlust zu wehren.

Ihre Mitverantwortung für Deutung und Lesbarkeit zeitgenössischer Kultur und deren Strömungen nimmt die Kirche im Bereich von Bildung und Ausbildung wahr.

Die Bibel erzählen lassen

Die Bibel ist ein Dokument der Menschheitsgeschichte, erzählt über tausende Jahre, wortgetreu weitergegeben von Generation zu Generation, aufgeschrieben und gehütet, ausgelegt und ins eigene Leben hineingenommen. Sie ist ein geistiges Weltkulturerbe, das Menschen und Gesellschaften zukunftsfähig macht. Lebenswissen der Menschheit ist aufgehoben in der Geschichte des jüdischen Volkes und der christlichen Zeugnisse. Menschheitstexte in allen Gattungen und Formen sind dort gesammelt: Sprüche und Rätsel, Lieder und Gedichte, Briefe und Novellen, Dramen und Romane, Geschichtsbücher und Fabeln, Gesetze und Gleichnisse. Wir verstehen die Bibel als Zeugnis der langen Geschichte Gottes mit den Menschen und der Menschen mit Gott. In diesem Sinn ist die Bibel ein Glaubensbuch.

Was Menschen erleben und erleiden, ist in diesen Texten entfaltet: Brudermord, Krieg und Ringen um den Frieden, Gesetzlichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens, Fragen nach Macht und Recht, Familienzwist und Kinderlosigkeit, Kampf um bebaubares Land und ausreichend Wasser, Staunen vor der Schöpfung, Erotik und Liebe, Verrat und Verlust, abgründige Gottesverzweiflung und jubelnde Gottesleidenschaft.

Diese biblischen Dokumente verdichten Menschheitserfahrungen in all ihren Höhen und Abgründen. Lebensbilder und Überlebensbilder in den biblischen Texten ermöglichen, die Zwiespältigkeiten menschlicher Existenz zu deuten. Sie erschließen Horizonte individueller und gesellschaftlicher Fragen sowie Lebensdramaturgien unterschiedlicher Zeiten und Kulturen.

Viele Texte sind radikal. Sie stellen menschliche und gesellschaftliche Lebensentwürfe infrage. Sie sind auch Freiheitstexte. Prophetische Worte der Bibel haben inspirierende und verändernde Kraft.

Die Bibel überliefern und auslegen

Die Bibel selbst ermuntert zur Weitergabe ihrer Texte über Generationen hinweg: "Was wir gehört haben und wissen und unsre Väter uns erzählt haben, das wollen wir nicht verschweigen ihren Kindern." (Ps. 78,3-4).

Jesus und seine Jünger lebten mit den Heiligen Schriften Israels. Christen vertrauen darauf, dass der Gott Israels ihr Gott ist und bleibt. In diesem Horizont verstanden die Osterzeuginnen Jesus. Gott selbst, der Herr des Lebens, hat Jesus auferweckt. Christen verstehen den Heiligen Geist als den Geist Gottes, den die Propheten für die Endzeit verheißen haben. Bereits die ersten Christen haben sich Jesu Schicksal und ihre eigene Existenz aus den jüdischen Schriften erschlossen: "Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen" (Lk. 24,44), sagt Jesus den Jüngern.

Neutestamentliche Texte sind Bekenntnistexte zum auferstandenen Christus - in den Spuren der Messiaserwartungen des Alten Testaments. Sie sind der Kern und der Rahmen, in dem sich die Bekenntnisbildung der Kirche trotz unterschiedlicher kultureller Wurzeln und verschiedener Gemeindetraditionen verstehen lässt. Sie stellen bis heute die Gemeinde in eine lange Traditionsreihe. Über den Rahmen von Bekenntnis und Gemeinde hinaus können sie von Einzelnen neu weitererzählt werden.

Die Kirche Jesu Christi in all ihrer konfessionellen Vielfalt hat sich an die eine Bibel gebunden. Von Bibellektüre und Bibelstudium sind immer wieder grundlegende Impulse  ausgegangen. Ohne Luthers Bibelstudium hätte es die Reformation nicht gegeben. Trotz der konfessionellen Spaltungen bleibt die Bibel Basis der Ökumene. In intellektueller Auseinandersetzung und im sachlichen Streit um das Verstehen vollzieht sich ihre Auslegung in die zeitgenössische Welt. Dieser sachliche Streit ist notwendig. Er ist Ausdruck der vielfältigen Verstehensmöglichkeiten der Bibel. Die Bibel ruft nicht zu einer Einheitsinterpretation auf, sondern zum Wettstreit um die Wahrheit, die uns in ihren Texten begegnet.

Die göttliche Wahrheit haben wir, wie Martin Luther sagt, in einem "irdenen Gefäß, in Lumpen gehüllt". Darum ist die Bibel auslegungsfähig und auslegungsbedürftig.

Bereits die Bibel selbst ist ein Ort praktizierter Auslegung. Unterschiedliche Traditionen, Altes und Neues Testament, verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Geschichte sind zu einem Ganzen verwoben, ohne darin vollends aufzugehen. Die unterschiedlichen Erzählungen und Motive ergänzen und relativieren sich.

Wir verstehen die Bibel als Gotteswort in Menschenwort. Schriftauslegung gehört wesentlich zu unserer Tradition. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens ist es der Geist Gottes, der bewirkt, dass Menschen immer wieder durch das Wort der Bibel angesprochen sind. Die biblischen Texte in ihrer unterschiedlichsten Form werden so selbst zur Verkündigung.

Es ist notwendig, das Zeugnis der Bibel in unsere Zeit zu "übersetzen", damit wir es verstehen. Die Bibel kann nur verstehen, wer erkennt, dass sie von einer Geschichte Gottes mit den Menschen berichtet. "Verstehst du auch, was du liest?" (Apg 8,30). Die Frage des Philippus ist eine zentrale evangelische Frage.

Dieses Verstehen vollzieht sich auf vielfältigste Weise innerhalb wie außerhalb von Theologie und Kirche. Unterschiedliche Auslegungsmethoden sind wichtige Hilfsmittel des Verstehens. Wenn die Botschaft der Bibel durch die Zeiten geht und zu anderen Menschen in anderen Länder kommt, verändert sie Sprache, Kultur und weltanschauliche Sichtweisen der Menschen. Umgekehrt wird auch die Auslegung der Bibel selbst davon beeinflusst. Wo es zu Begegnungen von Angehörigen unterschiedlicher Kulturräume kommt, die jeweils von der Bibel beeinflusst sind, kann es zu Erfahrungen von Fremdheit, aber auch zu überraschenden, neuen und befruchtenden Einsichten kommen. Verstehen vollzieht sich als Akt der Kommunikation.

Auch die besonderen, manchmal fremden Perspektiven auf die biblischen Geschichten in der bildenden Kunst, Literatur, Musik oder Film bereichern unsere kirchliche Auslegung. Das Fremde und das Eigene geraten damit in eine produktive Spannung.

Die Bibel lesen

Wer die Bibel liest, begegnet ihrer Schönheit. Sie fasziniert Menschen, die sie achten, mit ihr ringen, sich an ihr reiben und sie in ihrer Eigenart würdigen. Die evangelische Kirche ist deshalb dankbar für die Weitergabe der Bibel und versteht diese Arbeit als ihre bleibende kulturelle Aufgabe.

Die Bibel ist kein einfaches Buch. Sie öffnet sich dem Gottessucher, nicht dem Gottesbesserwisser. Die Bibel sperrt sich gegen eine Auslegung, die die Mehrdimensionalität ihrer Texte einer religiösen Rechthaberei oder einem theologischen Fundamentalismus opfert. Ohne Neugier, ohne genaues Hinhören und ohne intensives Bemühen wird das Buch der Bücher immer nur bestätigen, was die Leser selbst schon gewusst hatten. Mit ihren vielfältig miteinander verwobenen Texten ist die Bibel mehr als nur ein Katalog von Gebrauchsanweisungen zum glücklichen Leben.

Die Bibel eignet sich nicht zum spirituellen Fast-Food. Ihre Worte verlangsamen und unterbrechen den Alltag. Ihre Geschichten reißen uns so aus dem Dauerentertainment unserer Zeit heraus. Die Bibel gehört zu den wenigen Größen des modernen Lebens, die eine "Totalisierung des Augenblicks" verhindern können.

Wer auf die Bibel hört, lässt sich unterbrechen. Hören auf die Bibel ist wie ein Sonntag mitten im Alltag. Das macht die Qualität einer kurzen Andacht oder Losungsbesinnung aus: Für einen Moment sich Ruhe gönnen, hinein gelockt werden in eine andere Dimension. Solche Momente der Besinnung verdienen eine aufmerksame Gestaltung. Das gehört zum Wesen einer evangelischen Andachtskultur.

Wer in der Bibel nach Gottes Wort sucht, der fragt nach Gott, der nimmt Gott ernst, sich selbst und den anderen. Die Bibel würdigt den Einzelnen, weil sie ihn mehr sein lässt als die Summe seiner Leistungen und Erfolge. In allem Freiheitsgewinn, in aller Forderung nach unbedingter Achtung der Menschenwürde, aber auch noch in allem Entsetzen über die Grausamkeit des Menschen leuchtet eine Erinnerung an diese biblische Grundkraft auf: Jeder Mensch hat einen unzerstörbaren Wert für und vor Gott. Jeder Einzelne darf niemals bloß als Mittel zum Zweck missbraucht werden. Die Kirche, die auf die Bibel hört, wird immer für den Einzelnen und seine Würde eintreten und nach Partnern Ausschau halten, die diesen Schutz des Einzelnen bewahren.

Wer die Bibel als Buch des Lebens begreift, weiß, dass hinter all den biblischen Geschichten auch eine Dimension steht, die dem unmittelbaren Zugriff des Menschen entzogen ist. Das Leben bleibt Geheimnis, das sich nie erschöpft. Ob man von der Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten hört oder über die Seligpreisungen Jesu staunt, ob man die lebenssatten Geschichten von Abraham und Sara, Isaak und Rebekka sowie Jakob, Lea und Rahel wahrnimmt oder über die Heilungen und Wundertaten Jesu nachdenkt, ob sich die Heilige Schrift mit der Tiefe ihres Kreuzesgeschehens oder mit dem Glanz ihres Osterlichtes der Seele einprägt, immer wird der Hörer, die Hörerin der Bibel vor das Geheimnis des Lebens gestellt, das stärker ist als der Tod. Dass in Zeit und Ewigkeit weder Macht noch Gewalt, weder Bosheit noch Grauen das letzte Wort behalten werden, sondern Gott und mit ihm Sinn und Trost, Güte und Barmherzigkeit, das kann man mit der Bibel nicht beweisen, aber bezeugen.

Wer diesen Grundklang der Bibel im Spiegel der Kunstgeschichte, des Kirchbaues oder der Malerei, wer die Bibel in den Klängen der Musik oder in den Farben von Kathedralfenstern wiedererkennt, der ahnt selbst unter den säkularen Bedingungen der Gegenwart das Geheimnis Gottes als Trost der Welt.


Zwölf Anstöße, die Bibel zu lesen:

1.   Wer die Bibel liest, begegnet seinen Wurzeln.
2.   Wer die Bibel liest, achtet Israel.
3.   Wer die Bibel liest, versteht mehr von Kultur.
4.   Wer die Bibel liest, lernt andere zu würdigen.
5.   Wer die Bibel liest, hält inne.
6.   Wer die Bibel liest, sucht Wahrheit.
7.   Wer die Bibel liest, gewinnt Freiheit.
8.   Wer die Bibel liest, wird reich.
9.   Wer die Bibel liest, weiß sich geliebt.
10. Wer die Bibel liest, bleibt nicht allein.
11. Wer die Bibel liest, gewinnt das Leben.
12. Wer die Bibel liest, begegnet Gott.
Darauf hoffen wir.

Trier, den 6. November 2003

Die Präses der Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland


EKD Handreichung Klarheit und gute Nachbarschaft - Christen und Muslime





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