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Janis Anmerkung:
Spielt der Geist des Islam bei den Massenvergewaltigungen eine Rolle?
Wenn man von Indien spricht, denkt man sicher auch heute noch in
Bezug auf die Religion in erster Linie an die Hindus. Dabei wird
vergessen, dass Indien und der gesamte südasiatische Subkontinent zu den
Regionen gehören, in denen die meisten Muslime leben.
Wenn man von Indien spricht, denkt man sicher auch heute noch in Bezug
auf die Religion in erster Linie an die Hindus. Sie bestimmen mit ihren
Traditionen und Riten in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend die
Vorstellung über das Land. Dabei wird vergessen, dass Indien und der
gesamte südasiatische Subkontinent zu den Regionen gehören, in denen die
meisten Muslime in der Welt leben. Nach Indonesien weist Indien die
zweitgrößte Zahl von Muslimen auf – etwa 150 bis 170 Millionen, die
einem Bevölkerungsanteil von 13,4 Prozent (Zensus 2001) entsprechen.
Damit liegt Indien etwa gleichauf mit Pakistan und Bangladesch. Zusammen
leben hier über 450 Millionen Muslime – etwa zwei bis drei Mal mehr als
in der arabischsprachigen Welt.
Einflüsse des Islam sind nicht nur unter den verschiedenen
muslimischen Gemeinschaften Indiens zu finden, die ungleich über das
ganze Land verteilt leben – vor allem in
Kaschmir,
Uttar Pradesh, Bihar, Westbengalen, Assam, Andhra Pradesh sowie an der
West- und Ostküste des Landes, darunter dem Inselarchipel Lakshadweep.
Der Islam prägte auch viele Gebiete der Kultur wie
Literatur und Sprachen oder Architektur, selbst die
Kino-Industrie
in Mumbai (Bombay). Bis heute spielt die mit Hindi eng verwandte
nordindische Sprache Urdu eine zentrale Rolle in der Kommunikation unter
den Muslimen Indiens und Südasiens. Muslime gelten heute im
Durchschnitt sozialökonomisch als benachteiligt und sind in den
Wachstumsbranchen der Wirtschaft unterrepräsentiert. Trotz einheitlicher
Rechtsverhältnisse in Indien haben Muslime die Möglichkeit,
Personenstandsfragen nach dem Scharia-Zivilrechtsgesetz von 1937
gesondert zu regeln.
Zusammenleben der Religionsgruppen überwiegend friedlich
Die muslimische Minderheit ist ein
Faktor in der Innenpolitik wie auch in den internationalen Beziehungen
Indiens geblieben.
Zwar gibt es in Indien keine gesamtnationale muslimische Partei, aber
auf lokaler und regionaler Ebene haben sich in Kaschmir, Kerala, Andhra
Pradesh, Karnataka, Tamil Nadu, Assam und Westbengalen kleinere Parteien
etabliert, die zum Teil auch als Koalitionspartner in den Bundesstaaten
regiert haben. Bei gesamtnationalen Wahlen bemühen sich die großen
Parteien um die Stimmen der Muslime, die in zehn Wahlkreisen die
Mehrheit bilden und in weiteren zehn Wahlkreisen mit 30 bis 40 Prozent
Stimmenanteil als wahlentscheidend gelten können.
Neben dem Unionsterritorium Lakshadweep ist der Bundesstaat Jammu und Kaschmir der einzige mit einer Muslim-Mehrheit.
Seit den Kriegen mit Pakistan von 1948/49 kontrollieren Pakistan ein und Indien zwei Drittel von Kaschmir. In dem Konflikt spielen auch separatistische Muslim-Gruppen eine Rolle, darunter die örtliche Islamische Partei (
Jama´at-i Islami). Die aktivsten militanten Gruppen wie
Lashkar-e Taiba
(Heilige Armee) und
Jaish-e Muhammadi
(Armee Muhammads) erhalten offenbar auch aus Pakistan Unterstützung.
Mehrere Gruppen haben sich 1993 in Kaschmir in dem oppositionellen
Parteienbündnis der
All Parties Hurriyat Conference
zusammengeschlossen, von denen einige eine pro-pakistanische Position vertreten.
Muslime sind auch regelmäßig Opfer inter-religiöser Gewalt, zuletzt 2002 bei den
Pogromen im Bundesstaat Gujarat,
denen nach offiziellen Angaben 800 Muslime und 250 Hindus erlagen,
Nichtregierungsorganisationen sprechen sogar von über 2000 Todesopfern.
Doch obwohl Muslime häufig von radikalen Hindu-Nationalisten zu "Feinden
der Nation" deklariert werden, verläuft das Zusammenleben zwischen den
Religionsgruppen auf ganz Indien bezogen überwiegend friedlich.
Außenpolitisch muss sich Indien vor allem mit den Ansprüchen
einzelner politischer Kräfte in Pakistan auseinandersetzen. Diese
verlangen eine Mitsprache beim Umgang mit den Muslimen in Indien.
Zugleich hat Pakistan häufig versucht, Indiens Beziehungen zu
muslimischen Staaten zu behindern. Das richtete sich auch gegen Indiens
frühere Versuche, der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC)
beizutreten. Dennoch unterhält es, nicht zuletzt aus diesen Gründen,
enge Beziehungen zu einer Reihe islamischer Länder wie Iran,
Saudi-Arabien und Indonesien. Im Nahost-Konflikt steht Indien
traditionell auf der Seite der Palästinenser, obwohl es seit einigen
Jahren auch graduell seine Beziehungen zu Israel entwickelt.
Um die Rolle des Islam in Indien und Südasien richtig zu
verstehen, muss man das Land auch im Zusammenhang mit seinen Nachbarn
Pakistan und Bangladesch sehen. Alle drei waren bis 1947 Teil der
Kolonie Britisch-Indien.
Damals hatten sich die mehrheitlich von Muslimen bewohnten Gebiete als selbständiger Staat Pakistan abgespalten.
Dessen Ostteil erlangte wiederum 1971 als eigener Staat Bangladesch die
Unabhängigkeit. In diesem Teilungsprozess verblieb allerdings eine
erhebliche Zahl von Muslimen in Indien.
Islamische Einflüsse prägen Indien sein Jahrhunderten
Die Mehrheit der indischen Muslime ist stark säkularisiert.
Dennoch haben die religiösen Institutionen eine große Ausdifferenzierung
erfahren und in den letzten Jahrzehnten wieder stärkeren Zuspruch
erhalten. Der Islam kam schon zu Lebzeiten des Propheten nach Indien,
offenbar durch arabische Händler, vor allem an der Westküste Indiens und
später durch muslimische Truppen aus Richtung Afghanistan im Gebiet der
heutigen Provinz Sindh in Pakistan (711) und im Punjab (10./11.
Jahrhundert). Auch Missionare in der Tradition des Sufismus trugen
erheblich zur Ausbreitung des Islam bei. Nicht selten traten ganze
Bevölkerungsgruppen unter der Führung ihres Kasten-, Klan- oder
Stammeschefs geschlossen über. So bildeten sich Gebiete heraus, in denen
der Islam dominierte. In anderen Gebieten vertraten Muslime bestimmte
Berufsstände, wie die Textilarbeiter und einige Händlergruppen in
Gujarat, sowie Bauern oder auch Grundbesitzer in anderen Gegenden.
Über 600 Jahre regierten muslimische Dynastien Indien, zunächst
als Herrscher des Sultanats von Delhi (1211-1315), später als Kaiser des
Mogul-Reiches (ab 1526). Mit dem Beginn der britischen Vorherrschaft
(1756) wurde der letzte Mogul-Kaiser Bahadur Schah II. verdrängt. Er
wurde formal nach dem indischen Aufstand 1857/58 abgesetzt, bevor die
britische Königin Viktoria 1877 auch zur Kaiserin von Indien proklamiert
wurde. Während zeitweilig die muslimische Herrschaft neben
Hindu-Reichen bestand, vereinte sie in den Zeiten ihrer größten
Ausdehnung fast den gesamten Subkontinent. Besonders die Regierungszeit
der Mogul-Kaiser Akbar (1556-1605) und Aurangzeb (1658-1707) wird als
Höhepunkt angesehen. Vor allem unter Akbar erreichten auch die Künste
eine Blütezeit, für die unter anderem die bekannte Miniaturmalerei
steht. Berühmte Architekturdenkmäler wie das Taj Mahal in Agra, ein
Grabmal für eine Mogul-Prinzessin, sind islamisch geprägt.
.
Das Nebeneinander des Islam mit anderen Religionen in einer Mischung aus
Herrschaftsform und persönlichem Minderheitenbekenntnis brachte schon
früh unterschiedliche Strömungen hervor. Während Akbar für die
Aussöhnung mit und weit reichende Toleranz gegenüber den anderen
Religionen stand, markierte Aurangzeb die Rückkehr zu einer
konservativen, buchgetreuen Auslegung des Islam. Mit der Ausdehnung der
britischen Herrschaft über Indien im Verlaufe des 19. Jahrhunderts
organisierte sich der indische Islam in verschiedenen Gruppen und
Bewegungen, die bis heute weitgehend Bestand haben. Angesichts des
westlichen und christlichen Einflusses machten Muslime wie auch die
Hindus oder Sikhs auf diese Weise ihren Anspruch deutlich, ihre eigene
Identität zu wahren. Sie legten gemeinsam die Grundlagen für eine
moderne indische Nation und den Kampf um deren Unabhängigkeit.
Deoband, Lucknow, Bareli – einflussreiche Schulen des Islam
Ihre Bewegungen organisierten sich häufig um bestimmte Schulen,
die mehrere Hundert Ableger im ganzen Land und auch über die Grenzen
hinaus bildeten. Das Religionsseminar von Deoband in Nordindien wurde
1867 gegründet und steht seither für eine orthodoxe, puristische
Interpretation des Islam, der es um die strikte Auslegung der Schriften
und die strenge Einhaltung der religiösen Vorschriften geht. Den danach
benannten
Deobandis
geht es auch um die Beseitigung fremder kultureller Einflüsse auf die Glaubenspraxis.
Gesonderte Erwähnung verdient die
Nadwa, das islamische
Religionsseminar aus Lucknow (1893). Obwohl es viele Deobandi-Grundsätze
teilt, erlangte es relative Eigenständigkeit mit seiner Betonung
moderner Sprachkenntnisse. Sein Rektor spielt traditionell eine
herausgehobene öffentliche Rolle im Muslimischen Rechtsrat (
Muslim Law Board), der verschiedene islamische Gruppen zusammenführt, um das islamische Recht für die indischen Verhältnisse auszulegen.
Wachsenden Einfluss verzeichnet die ebenfalls der Deobandi-Tradition folgende Missionsbewegung der
Tablighi Jama'at,
die eher pietistischen Charakter hat. Sie entstand 1926 im Zuge der
Auseinandersetzung mit Hindu-Reformern um die Bekehrung muslimischer
Stammesgruppen. Heute agiert sie weltweit von ihrem Zentrum in Neu Delhi
und wendet sich vor allem an Muslime, die sie zu einer religiösen
Lebensführung veranlassen will. Politische Aufmerksamkeit hat vor allem
die Berufung der afghanischen Taliban auf die Deobandi-Tradition erregt,
obwohl keine direkte Verbindung zum Leitseminar in Deoband besteht.
In dem Nachbarort Bareli entstand die danach benannte Bewegung der
Barelwis,
die 1900 von Ahmad Raza Khan (1856-1921) begründet wurde. Sie
verteidigt die für Südasien typischen, dem Sufismus nahe stehenden
Glaubenspraktiken. Diese schließen auch die Verehrung von Schreinen und
die besondere Hervorhebung des Propheten ein, woran die Deobandis Anstoß
nehmen. Während beide Gruppen,
Deobandis
und
Barelwis, trotz ihrer Rivalität als Anhänger der sunnitischen
Hanafi-Rechtsschule im Islam viele theologische Gemeinsamkeiten aufweisen, grenzen sich andere Gruppen stärker ab.
Die ebenfalls sunnitische Sekte der
Ahl-i Hadith
(Volk der Tradition) lehnt alle vier anerkannten Rechtsschulen ab und
verlangt die direkte Berufung auf den Koran und die Prophetentraditionen
(
Hadith). Sie entstand um 1864 in Bhopal. Ihre religiösen
Schulen konzentrieren sich in Indien in den nördlichen und zentralen
Bundesstaaten Uttar Pradesh, Bihar und Madhya Pradesh. Seit den 70er
Jahren unterhält sie zunehmend enge theologische und politische
Verbindungen zu Saudi Arabien, wofür sie von anderen Gruppen häufig
kritisiert wird.
Zahlreiche Kontroversen löst die Sekte der
Ahmadiya
aus, die um 1889 ebenfalls in Nordindien, in Punjab entstand. Ihr
Begründer Ghulam Ahmad Khan (1839-1908) ist vor allem wegen seiner
prophetischen Ansprüche bei den meisten Muslimen umstritten. Radikale
Sunniten verfolgen die Sekte als "Abweichler" mit zum Teil militanten
Methoden.
Modernen politischen Grundsätzen folgte die islamische Partei der
Jama'at-i Islami,
die 1941 von Sayyid Abu'l 'Ala Maududi (1903-1979) begründet wurde.
Theologisch zwar von der Deoband-Bewegung beeinflusst, trägt sie wegen
ihres Modernisierungsanspruchs dennoch stark eigenständige Züge.
Während die erwähnten Gruppen religiöse Grundsätze in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten rücken, verfolgten die Anhänger der
Aligarh-Bewegung
eher weltliche Ansprüche. In Aligarh, nicht weit von Deoband und Bareli
gelegen, etablierte sich dank dem energischen Engagement von Sayyid
Ahmad Khan (1817-1898) nach dem Vorbild englischer Bildungseinrichtungen
1877 das erste
Muslim College, das 1920 zur Muslim-Universität
aufstieg, die bis heute besteht. Ihm ging es darum, religiöses
Bekenntnis mit moderner weltlicher Bildung in Einklang zu bringen. Auf
seine Vorstellungen von der besonderen Rolle der indischen
Muslim-Gemeinschaft stützten sich später die Politiker der Muslim-Liga
unter Mohammad Ali Jinnah (1876-1948) mit ihren
Forderungen nach einem Separatstaat für die indischen Muslime, Pakistan. Zugleich berufen sich bis heute viele muslimische Modernisierer auf die Aligarh-Schule.
Einen festen Bestandteil des islamischen Spektrums in Indien
bilden die verschiedenen Richtungen der Schiiten. Ihr Anteil wird auf 12
bis 15 Prozent der Muslime geschätzt. Ihre Zentren befinden sich
ebenfalls in Uttar Pradesh sowie an der Westküste.
Zusammenfassung
Die 150 bis 170 Millionen Muslime sind nicht nur die größte
religiöse Minderheit in Indien (13,4 Prozent), sondern auch im
internationalen Vergleich ein bedeutender Faktor. Sie leben ungleich
verteilt über das ganze Land, konzentrieren sich besonders im Norden und
an den Küsten. Der durch den Konflikt mit Pakistan bekannte Bundesstaat
Jammu und Kaschmir hat eine Muslimmehrheit. Obwohl es keine nationale
Muslimpartei gibt, spielen muslimische Politiker in vielen Parteien eine
Rolle, vor allem auf regionaler und lokaler Ebene. In Bildung,
Wirtschaft und Verwaltung gelten Muslime als benachteiligt. Religiöse
Strömungen und Schulen des Islam (Deobandis / Tablighi Jama´at, Barelwis, Ahl-i Hadith)
haben sich erheblichen Einfluss bewahrt und ihn auch auf andere
islamische Länder ausgedehnt. Trotz gelegentlicher örtlicher
Gewaltausbrüche bei Spannungen mit Vertretern anderer Religionen,
verläuft das Zusammenleben überwiegend friedlich.
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