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Ich habe eine Frage an die Nietzsche-Experten. Nietzsche beeindruckt
mich immer wieder neu durch seine rigorose Aufrichtigkeit. In seiner
Darstellung des Gottesmordes fasst er sprachmächtig das Verschwinden
Gottes am Ende der Neuzeit zusammen (Die fröhliche Wissenschaft,
KSA, Bd. 3, 1999, S. 480–482). Der Abschnitt geht unter die Haut, lässt
doch erst die „Größe“ des Gottesmordes den Menschen groß werden. Hier:
„Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen
Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf
den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche
Gott!‘ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an
Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn
verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind?
sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet erch vor uns?
Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie
durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte
sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es euch
sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!
Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer
auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont
wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne
losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von
allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts,
vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren
wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere
Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht
und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?
Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott
begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch
Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn
getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und
Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern
verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten
wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir
erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen
wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?
Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird,
gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle
Geschichte bisher war!‘– Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder
seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn.
Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang
und erlosch. ‚Ich komme zu früh‘, sagte er dann, ‚ich bin noch nicht an
der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es
ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner
brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen
Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese
Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch
haben sie dieselbe getan!‘ – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch
desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin
sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede
gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen
noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘“
Ernst Benz ist nun der Auffassung, dass dieser Gedanke nur im
Zusammenhang mit Feuerbachs „Projektionshypothese“ zu verstehen sei.
Nietzsches Satz vom Tode Gottes „setzt voraus, daß Gott selbst nur als
eine mythische Setzung des menschlichen Bewusstseins verstanden wird,
deren irrealen Charakter der Mensch inzwischen selbst erkannt hat” (Nietzsches Idee zu Geschichte des Christentums und der Kirche,
1956, S. 168). Kurz: Der Gott, den wir ermordet haben, ist der Gott,
den wir zuvor nach unserem eigenen Bilde geschaffen haben.
Ich habe diese These von Benz bei Wolfhart Pannenberg gefunden (Grundfragen systematischer Theologie,
1967, S. 353f). Pannenberg selbst schließt sich ihr an. Ich halte sie
auch für plausibel. Meine Frage lautet: Ist diese Interpretationen heute
geläufig (also communis opinio)?
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