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Der Arzt im Lichte von Moral und Ethik
Medizin wird seit mehreren Tausend Jahren praktiziert. In welcher
Form ist sie von Moral und Ethik beeinflusst? Wo z.B. in Philosophie,
Religion, Gesetz oder Rechtsprechung finden sich Hinweise dazu?
Aber zunächst einmal: Was bedeuten eigentlich Moral und Ethik?
Was bedeuten Moral und Ethik
.
Die Umgangssprache unterscheidet nicht immer zwischen Moral und
Ethik, sondern betrachtet die beiden Begriffe oft als deckungsgleich.
Sieht man jedoch mit dem philosophischen Auge, so sind die Begriffe
voneinander abzugrenzen. Konkret ließe sich etwa so formulieren:
Moral
Moral beinhaltet die Summe aller Normen, Grundsätze und sittlichen
Werte, die eine bestimmte Gesellschaft in einer bestimmten Epoche als
verbindlich akzeptiert, um das zwischenmenschliche Verhalten zu
regulieren.
Die ärztliche Moral findet ihren Ausdruck beispielsweise im Grundsatz „Heilen, Helfen, Lindern“.
Das gleiche gilt für den Grundsatz „erstens nicht schaden, zweitens
vorsichtig sein, drittens heilen“ („primum non nocere, secundum cavere,
tertium sanare“).
Zunehmende Bedeutung gewinnt ein weiterer Grundsatz, nämlich die
sogenannte Patientenautonomie, also die Forderung, das
Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten. Dazu gehört es
insbesondere, den Patienten umfassend aufzuklären und ihn frei
entscheiden zu lassen. Losgelöst von der ärztlichen Moral sagt uns die
allgemeine Moral grundsätzlich, was aus sittlicher Sicht richtig oder
falsch ist.
Ethik
Die Ethik fragt an dieser Stelle weiter: Davon ausgehend, was richtig
oder falsch ist (Moral), fragt sie, warum etwas richtig oder falsch ist
und wie sich die moralischen Normen, Grundsätze und sittlichen Werte
praktisch umsetzen lassen. Weshalb ist beispielsweise das
Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten? Und gilt dies
uneingeschränkt, ist der Patient also wirklich über alles aufzuklären
oder gibt es da Grenzen? Und wie lässt sich die Selbstbestimmung im
Krankenhausalltag konkret verwirklichen?
Tugenden
Geben uns die Tugenden Aufschluss über ärztliche Moral und Ethik?
Platon (*427 v. Chr.) hat den Tugendbegriff aus der Tugendlehre von Sokrates (*469 v.Chr.) in vier Kardinaltugenden aufgeteilt: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit.
Später erfolgte eine Ergänzung durch die christlichen Tugenden, auch die
theologischen, bzw. die göttlichen Tugenden genannt (vermutlich
erstmals erwähnt im Brief des Paulus an die Korinther um 50 n. Chr.): Glaube, Liebe, Hoffnung.
Zu Zeiten der Aufklärung (um 1650-1800) erweiterte sich dieser Tugendkanon durch einen weiteren Begriff: Toleranz.
Aus dem Wesen dieser Begriffe lassen sich zwar auch Grundsätze für Moral
und Ethik ärztlichen Handelns ableiten. Konkretere Ansätze müssen aber
offenbar an anderen Stellen gesucht werden.
Eid des Hippokrates
Der sogenannte Eid des Hippokrates geht auf Quellen zurück, die über
2000 Jahre alt sind. Moralisch-ethische Vorgaben sind darin bereits
enthalten.
Auch wenn Historiker heute in Frage stellen, dass Hippokrates von Kos
(*um 460 v. Chr.) überhaupt der (alleinige) Autor ist, auch wenn Ärzte
den Eid heute nicht mehr schwören und auch, wenn der Text nach modernen
Wertmaßstäben zu korrigieren und zu ergänzen wäre, so gilt der Eid auch
im Jahre 2016 noch als zumindest historisch bedeutende Beschreibung
ärztlicher Tätigkeit und als in seinem Kern bindend.
Zu korrigieren und zu ergänzen wäre er insbesondere deshalb, da die
Position zum Schwangerschaftsabbruch („auch werde ich keiner Frau ein
Abtreibungsmittel geben“) mit heutigen Maßstäben (§ 218 StGB, sogenannte
Fristenregelung) nicht vereinbar ist. Auch bleiben Patientenautonomie,
Aufklärungspflicht und Selbstbestimmungsrecht des Patienten gänzlich
unberücksichtigt.
Elementare moralisch-ethische Grundprinzipien ärztlichen Handelns, die
auch heute noch Gültigkeit besitzen, fanden sich jedoch schon damals in
der Eidesformel. Das gilt insbesondere für das Gebot zu nutzen, das
Verbot zu schaden und die Schweigepflicht. Zu diesen drei Prinzipien
heißt es im Text: „Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen
der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde
ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise einzusetzen.“
Und: „Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im
Umgang mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde
ich verschweigen und als Geheimnis bewahren.“
Moralische Prinzipien ärztlichen Handelns
Auch wenn bisher kein Konsens über eine allgemeingültige und allumfassende Medizinethik gefunden werden konnte, so sticht doch ein Modell heraus: Das sogenannte Vier-Prinzipien-Modell (Autoren: Tom Lamar
Beauchamp und James F. Childress, 1979). Dieses moralische
Prinzipienquartett ärztlichen Handelns findet weltweite Anerkennung. Die
Prinzipien lauten: 1.) Wohltun, 2.) Nichtschaden, 3.) Gerechtigkeit und
4.) Patientenautonomie.
Wohltun
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Das Prinzip des Wohltuns war bereits dem Eid des Hippokrates zu
entnehmen („zum Nutzen des Kranken“). Die Fürsorgepflicht des Arztes für
seine Patienten wird konkret im Grundsatz „Heilen, Helfen, Lindern“.
Dies umfasst nicht nur die Behandlung von Krankheiten, sondern auch die
Vorbeugung vor Krankheiten und damit deren Vermeidung.
Nichtschaden
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Auch das Prinzip des Nichtschadens findet sich schon bei Hippokrates
(frei: „Hüten werde ich mich, zu schaden“). Der Grundsatz „erstens nicht
schaden“ („primum non nocere“) scheint zunächst selbstverständlich zu
sein. Es gibt aber gerade hiervon häufig Ausnahmen (vgl. unten).
Gerechtigkeit
.
Das Prinzip der Gerechtigkeit (keine Erwähnung bei Hippokrates)
betrifft in erster Linie die Verteilung von Mitteln. Da das
Gesundheitssystem jedoch nur über begrenzte Mittel verfügt, da die
Kosten für einzelne Gesundheitsleistungen immer höher ansteigen, da der
medizinische Fortschritt immer mehr Therapieangebote ermöglicht und da
auch die Erwartungen an die Medizin stetig wachsen, stellt es eine der
größten Herausforderungen für die Gesundheitspolitik der Gegenwart dar,
hier gerechte Verteilungsschlüssel zu erarbeiten.
Grundsätzliche Einigkeit besteht zumindest darüber, dass gleiche
Krankheiten gleich behandelt werden sollen (keine Zwei-Klassen-Medizin).
Schwierig ist jedoch die Frage, ob und inwieweit das medizinisch
Mögliche auch umgesetzt werden soll. Hier gilt der Grundsatz: Je höher
die Kosten und je niedriger der Nutzen einer Maßnahme, desto mehr
spricht gegen sie und umgekehrt.
Patientenautonomie
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Das Prinzip der Patientenautonomie, also das Selbstbestimmungsrecht
(keine Erwähnung bei Hippokrates) stellt den Patienten mit seinen
eigenen Werten, Bedürfnissen und Zielen in den Vordergrund. In diesem
Prinzip liegen auch die Wurzeln der Aufklärungspflicht. Denn nur der
aufgeklärte Patient kann eine Entscheidung nach seinen wahren
Bedürfnissen – autonom – treffen. Das heißt, der Patient hat nicht nur
das Recht, sich frei zu entscheiden, sondern auch das Recht, dass seine
Entscheidungsfähigkeit durch die Aufklärung gefördert wird.
Dieses Selbstbestimmungsrecht entwickelte sich erst in der zweiten
Hälfte des letzten Jahrhunderts zum ärztlichen Standard und gewinnt
stetig an Bedeutung. Seit dieser Zeit nimmt die Autorität des Arztes
(die traditionelle paternalistische Fürsorge) im gleiche Maße ab, wie
die Selbstbestimmung des Patienten (informierte Einwilligung) zunimmt.
Die Autonomie des Patienten steht heute über der Indikation des Arztes.
Es ist der Patient, der entscheidet, ob eine Maßnahme durchgeführt wird
oder nicht. Dieses Prinzip gilt uneingeschränkt. Das bedeutet, dass der
Patient auch eine medizinisch unvernünftige Entscheidung treffen darf.
So darf beispielsweise ein Zeuge Jehovas eine Bluttransfusion ablehnen,
selbst dann, wenn diese lebensnotwendig wäre.
Jedes einzelne dieser vier Prinzipien ist unabdingbar und bei jedem
ärztlichen Handeln zu beachten. Doch die neueren Prinzipien
(Gerechtigkeit und Patientenautonomie) geraten zunehmend in Konflikt mit
den älteren (Wohltun und Nichtschaden), sodass ärztliches Handeln einem
ständigen Abwägungsprozess unterliegt.
Zwischen Wohltun und Gerechtigkeit ist abzuwägen, wenn eine medizinische
Maßnahme dem Patienten hilft, die Kosten aber die
Versichertengemeinschaft belasten. Hier liegen Kosten, Nutzen und das
Leid des Einzelnen in der Waagschale. Zu dieser schwierigen Abwägung
kommt es gerade bei kostenintensiven Maßnahmen zur Lebensverlängerung
bei Schwerstkranken.
Wohltun und Patientenautonomie stehen von Beginn bis Ende der Therapie
in ständig kritischer Beziehung zueinander: Eine indizierte Maßnahme ist
nur durchzuführen, wenn, soweit und solange der Patient zustimmt. Lehnt
der Patient eine Transfusion ab oder wünscht er keine
lebensverlängernden Maßnahmen, so ist dem Willen des Patienten unbedingt
zu folgen.
Aber auch Wohltun und Nichtschaden stehen oft in Konkurrenz: Eine
Chemotherapie soll den Krebs bekämpfen, weist jedoch erhebliche
Nebenwirkungen auf. Jeder Kaiserschnitt hinterlässt eine Narbe.
Medikamententherapie kann zu Abhängigkeit und Organschädigung führen.
Hier sind jeweils Schaden und Nutzen sorgfältig abzuwägen.
Berufsordnung der Ärztekammern
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Für jeden Arzt in Deutschland besteht eine Zwangsmitgliedschaft in einerLandesärztekammer. Jede Landesärztekammer gibt sich eine bindende
Berufsordnung. Grundlage dafür ist die Musterberufsordnung der
Bundesärztekammer. Hierin sind u. a. Aufgaben und Pflichten des Arztes
geregelt. Auch die oben genannten moralischen Prinzipien finden ihre
Berücksichtigung.
Bemerkenswert ist jedoch, dass der Musterberufsordnung ein Gelöbnis
vorangestellt ist, das in seiner gegenwärtigen Fassung (27.05.2015) die
Patientenautonomie verletzt und im Widerspruch zum übrigen Text steht.
Darin heißt es nämlich noch: „Die Erhaltung und Wiederherstellung der
Gesundheit meiner Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot meines
Handelns sein.“ Diese Formulierung entspricht nicht der Bedeutung der
Patientenautonomie, spiegelt eine veraltete Wertepriorisierung wider und
sollte auf dem nächsten Deutschen Ärztetag geändert werden. Denn das
oberste Gebot des Arztes soll nicht das Wohl des Patienten sein,
sondern der Wille des Patienten (vgl. oben).
Patientenrechtegesetz
Man sagt, dass der Gesetzgeber der Ärzteschaft ein hohes Maß an Freiheiten und Selbstverwaltung einräumt. So müssen die Berufsordnungen
der Landesärztekammern beispielsweise nur von den Landesregierungen
genehmigt werden, ohne dass eine darüber hinausgehende Mitwirkung
vorgesehen ist. Dennoch existieren eingrenzende gesetzliche Normen, die
auch auf moralisch-ethische Erwägungen zurückgehen:
So ist beispielsweise das sogenannte Patientenrechtegesetzt (§§ 630 a-h
BGB) am 26.02.2013 in Kraft getreten. Es übernimmt im Wesentlichen die
Grundsätze, die der Bundesgerichtshof (BGH) in jahrzehntelanger
Rechtsprechung entwickelt hat. Im Einzelnen sind darin die folgenden
Aspekte geregelt:
§ 630a BGB: Vertragstypische Pflichten beim Behandlungsvertrag
§ 630b BGB: Anwendbare Vorschriften
§ 630c BGB: Mitwirkung der Vertragsparteien, Informationspflichten
§ 630d BGB: Einwilligung
§ 630e BGB: Aufklärungspflichten
§ 630f BGB: Dokumentation der Behandlung
§ 630g BGB: Einsichtnahme in die Patientenakte
§ 630h BGB: Beweislast bei Haftung für Behandlungs- und Aufklärungsfehler
Gerade das Selbstbestimmungsrecht, konkret die Aufklärungspflicht und
die Notwendigkeit der Einwilligung sind nun explizit und gesetzlich
geregelt.
So heißt es in § 630d BGB: „Vor Durchführung einer medizinischen
Maßnahme, insbesondere eines Eingriffs in den Körper oder die
Gesundheit, ist der Behandelnde verpflichtet, die Einwilligung des
Patienten einzuholen. (…)“ Und: „Die Einwilligung kann jederzeit und
ohne Angabe von Gründen formlos widerrufen werden. (…)“
In § 630e BGB ist geregelt, dass der Arzt verpflichtet ist, über alle
für die Einwilligung wesentlichen Umstände, insbesondere Risiken und
Alternativen aufzuklären. Darüber hinaus muss die Aufklärung mündlich,
rechtzeitig und verständlich erfolgen.
Rechtsprechung
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In der Rechtsprechung ist es wieder die Patientenautonomie,
die herausragt und die Gegenstand zahlloser Gerichtsentscheidungen ist.
Sie wird so hochgehalten, dass der Arzt – so der BGH – dem Patienten
die Möglichkeit lassen muss, über den Eingriff selbst zu entscheiden und
ihn gegebenenfalls abzulehnen, selbst bei vitaler (also
lebenswichtiger) Indikation und auch dann, wenn ein solcher Entschluss
medizinisch unvernünftig ist (BGH NJW 1994, 799).
Gerade die Anforderungen an die Aufklärungspflicht sind sehr hoch:
So ist über Risiken grundsätzlich auch dann
aufzuklären, wenn sie im Promillebereich liegen (BGH NJW 1994, 793).
Maßgebend ist, ob das Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und bei
seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet
(BGH VersR 2000, 725).
Über Alternativen ist aufzuklären, wenn und soweit
mehrere Behandlungsmethoden existieren, die gleichermaßen indiziert sind
und wesentlich unterschiedliche Risiken oder Erfolgschancen aufweisen, so dass eine echte Wahlmöglichkeit besteht (BGH NJW 2000, 1788).
Hinsichtlich des Zeitpunktes der Aufklärung gilt der
Grundsatz, dass diese „so früh, wie möglich“ zu erfolgen hat (OLG
Stuttgart VersR 2002, 1428), bzw. grundsätzlich schon dann, wenn der
Arzt zum operativen Eingriff rät und zugleich einen festen
Operationstermin vereinbart (BGH NJW 1994, 3009).
Das Prinzip des Nichtschadens findet seinen Ausdruck
darin, dass ein Verstoß dagegen zu einem Schadensersatzanspruch des
Patienten führt, vorausgesetzt natürlich, der eingetretene Schaden ist
auf einen Behandlungs- oder Aufklärungsfehler zurückzuführen.
IhrAnwalt
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