Donnerstag, 31. August 2017

Merkel - ein rotes Kind aus einem Pfarrershaushalt

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Augen zu, CDU! Angela Merkels 

Wohlfühldeutschland



von Hans-Hermann Tiedje



In der Nachkriegszeit kursierten in Deutschland Anti-Nazi-Witze, zum Beispiel dieser: Der Enkel fragt seinen Grossvater: „Du hast mir doch immer erzählt, dass du gegen die Nazis warst.“ Der Opa: „Richtig.“ Der Enkel: „Aber nun habe ich im Album ein Bild gesehen, da fährt Hitler an einer jubelnden Menschenmenge vorbei, und mittendrin stehst du und machst den Hitlergruss. Wie soll ich denn das verstehen?" Der Grossvater: „Um mich herum standen Hunderte, die jubelten. Ich war der Einzige, der die ganze Zeit rief: ‚Moment mal, Herr Hitler, Moment mal.' Leider hat keiner auf mich gehört.“

Die Botschaft: Irgendwie sind wir doch alle dabei gewesen, der eine mehr, der andere weniger verstrickt, wir ahnen es doch voneinander, und deswegen wollen wir es hinterher so genau gar nicht mehr wissen. Das war 1945 so und 1990, beim Untergang der DDR, genauso. Man kannte sich, man wusste voneinander, man war Nachbar, später verbunden im Schweigen über einen Staat, den es glücklicherweise nicht mehr gab.

Womit wir bei Angela Merkel wären, die am 24. September – 27 Jahre nach dem Verschwinden ihres Heimatlandes DDR – ihre vierte Bundestagswahl gewinnen und danach weiter Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein wird. In welcher Konstellation auch immer, mit Rot, Grün oder Gelb, an Merkel führt kein Weg vorbei.

Keine Experimente – warum auch? Die Wirtschaft boomt, die Sonne scheint, der Gegenkandidat Martin Schulz ist Realsatire. Während die Welt aus den Fugen fällt, gondelt Frau Merkel in den Alpen mit der Seilbahn, und der Kandidat aus Würselen besucht in Eckernförde eine Fischfabrik. Die Bilder mit Brille, Bart und Plastic-Haube machen die Runde. Schulz kämpft. Vor allem mit sich selber. „Ich werde Bundeskanzler“, sagte er dieser Tage im Fernsehen. Welches Jahr er meinte, sagte er nicht. Die Wahl ist entschieden, die Deutschen haben sich entschlossen: Augen zu, CDU!
Ein Volk entpolitisiert sich

Und das, obwohl weder im Umgang mit Erdogan noch der Migrantenfrage, noch den Stromtrassen durch herrliche Landschaften, noch mit Griechenland irgendetwas wirklich gelöst ist. Gar nichts ist gelöst in Deutschland – vor allem nicht die Zukunftsfragen: Maschinenintelligenz, Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Arbeitsmarkt, Elektromobilität, Digitalisierung – alles aufgeschoben auf irgendwann. Die vergangenen zwölf Merkel-Jahre sind einfach so dahingeplätschert. Ein Volk hat sich entpolitisiert. „Mutti“ (Merkel) richtet das schon – das ist die Stimmung im Land.

Die SPD wird nicht gebraucht, und Martin Schulz schon gar nicht. Leidet der Mann an Selbstüberschätzung? Selten hatte ein Kanzlerkandidat eine derart geringe Kompetenz. Sigmar Gabriel hat Schulz rechtzeitig das Feld überlassen. Der ist als Tiger gesprungen – und als Bettvorleger gelandet. Jetzt schimpft er sich über die Marktplätze und durch die Hallen, Frau Merkel beschuldigt er eines „Anschlags auf die Demokratie“. Anschlag? Wie bitte? – Verwundert reiben sich viele die Augen.

Die Identität von etwa 500.000 Menschen, die fälschlich vorgeben, Flüchtlinge zu sein, ist in Deutschland ungeklärt. Von vielen dieser Personen droht die Gefahr eines Anschlags auf die Demokratie, vor allem auf Menschen, Hunderte sind brandgefährlich. Aber um wen genau handelt es sich? 

Deutschland hat sich mit Fragen wie diesen abgefunden, Antworten gibt es nicht, und wenn, dann solche: „Ich sage dazu jetzt weiter nichts mehr, ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“ – Innenminister de Maizière. Bizarre Realität: Wer heute nach Deutschland kommt, braucht keine Papiere, aber ohne Papiere kann er nicht abgeschoben werden. Über ein neues Asylrecht – dringend erforderlich – wird (noch) nicht gesprochen, obwohl breite Mehrheiten dafür sind.
Die Frau aus dem Nichts

Ich habe Angela Merkel das erste Mal 1990 getroffen, da war sie stellvertretende Regierungssprecherin des DDR-Bestatters Lothar de Maizière. Die Gesichter der damaligen SED-Resteverwerter sind mir noch gut in Erinnerung: Gregor Gysi, Wolfgang Berghofer, Lothar Bisky, Sabine Bergmann-Pohl, Wolfgang Schnur, Hans-Joachim Böhme, Rainer Eppelmann, Markus Meckel. Sie nahmen unterschiedliche Wege. Merkel kam aus dem Nichts. Sie nahm den Weg in die CDU, mehr oder minder zufällig.

Man hat das später einen Irrtum genannt oder einen Fehler. Die Frau, die fünfzehn Jahre später die Christlich-Demokratische Union Adenauers und Kohls entgräten sollte, wurde nicht als Camouflage mit einer fragwürdigen Vita erkannt. Sie wurde einfach durchgewunken, ohne dass man sie gescannt hätte. Der damalige Kanzler, Helmut Kohl, war bei Personen mit DDR-Vergangenheit sehr grosszügig. Vergangenheit interessierte ihn besonders im Hinblick auf die Frage, was man künftig besser machen könne.

Angela Merkel, heute 63, war zur Zeit der Wende, 1989, genau 35 Jahre alt. Sie arbeitete in der DDR am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Sie war nicht in der SED, sie hatte mit der Stasi nichts zu tun. Sie war nur Sekretärin für Agitation und Propaganda der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Die FDJ war der einzig zugelassene Jugendverband in der DDR, und er war kommunistisch.

Was hat sie da gemacht? „Kulturbeauftragte“ sei sie gewesen, sagte sie später, sie habe Theaterkarten beschafft oder Buchvorlesungen organisiert. Die Biografie der Autoren Günther Lachmann und Ralf Georg Reuth behauptet jedoch, sie sei Sekretärin für Agitation und Propaganda gewesen. Merkel bestreitet es. Merkel wäre somit zuständig für die Beeinflussung der jüngeren Menschen im Sinne des Staates DDR gewesen: die Bundesrepublik der Klassenfeind, der Kapitalismus als Ideologie der Ausbeutung, die DDR als friedliebend, fortschrittlich, der Zukunft zugewandt.
Auch die DDR war alternativlos

Zeitzeugen erinnern sich immerhin, dass sie Michael Gorbatschow als Hoffnung empfand. Die DDR nahm Angela Merkel damals wahrscheinlich als alternativlos wahr. Sie ist mitgeschwommen im Strom der Zeit. Mimikry? Versteckte Gegnerschaft? Davon hat aus ihrer Umgebung niemand etwas bemerkt. Es gibt keine Zeugnisse dafür, nicht die geringsten, nicht einmal ein Schnipsel Papier. Wann hat sie sich von ihrem Staat entfremdet? Keine Erklärung, bis heute. Als dann die DDR unterging, war Merkel selbst wahrscheinlich am meisten davon überrascht, wie sehr sie eigentlich schon immer dagegen gewesen war.

Zum Vergleich: Viktor Orban, Ungarns Ministerpräsident, von Merkel wegen seiner Migrantenabwehrpolitik in Europa unter Druck gesetzt. Orban war im Abendlicht des zerfallenden Ostblocks in Ungarn Vorsitzender der Jugendorganisation der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Kommunistischer Jugendbund). 1988 hielt er, und das war eine Sensation, eine öffentliche Rede, in der er die UdSSR aufforderte, umgehend ihre Truppen aus Ungarn abzuziehen.

Als Merkel noch Mitläuferin war, riskierte Orban schon Kopf und Kragen. Warum dieser Vergleich? Orban wurde über Nacht bekannt, ein Held in Ungarn. Merkel blieb lange im Schatten. Der Rest der Geschichte ist bekannt. 1990 kam sie in den Bundestag, 1991 wurde sie Familienministerin, dann Umweltministerin, dann – zum Erstaunen aller – die Erbin Helmut Kohls. Den Altkanzler erledigte sie über die „FAZ“: Er habe der Partei „Schaden zugefügt“ (Spendenaffäre). Vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebenslaufs war der Umgang mit Helmut Kohl, dem Kanzler der Einheit, schon ein starkes Stück. Kohl ist tot. Seit 2005 sitzt sie nun in Deutschland an den Hebeln der Macht.

Wer aber ist diese Angela Merkel wirklich oder wie viel wovon? Fest steht ihr Hintergrund als Kind einer sozialistischen Pfarrersfamilie. Wie schön, dass so eine Frau den Absprung aus der grauen DDR-Welt an die Spitze der Bundesrepublik geschafft hat, könnte man meinen. Aber niemand lebt ohne Herkunft und eigene Geschichte, sie beeinflussen Denken und Handeln.
Was Schulz meint, ist belanglos

Pro bono, contra malum. Merkels Kampagne 2017. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Wer wollte dem widersprechen? Dass das Land, zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage, in zwei Lager (zwei Drittel dagegen, ein Drittel dafür) gespalten ist, kann man getrost ausklammern, solange nicht der nächste unregistriert eingereiste Islamist ein Attentat begeht. 

Wer freilich an diese Aussicht erinnert, stört den vorgegebenen öffentlichen Frieden, verkörpert durch Merkel, und stellt sich ins Aus. Die für ihre Politik wichtigen Medien und das Juste Milieu sind genau auf dieser Linie. An der Stelle sei auch die CSU zur Vorsicht gemahnt. Merkel wird nicht zögern, Seehofer und seine Freunde in die rechte Ecke zu stellen, wenn ihr das nutzt. Was Gegenkandidat Schulz meint, ist belanglos. Er hat die falschen Themen, kommt damit meist zu spät und wirkt wie ein Mann von vorgestern.

Wohlfühldeutschland – was hat Angela Merkel persönlich dazu beigetragen? Sehr viel, vor allem in der Innenpolitik. Sie hat strittige Fragen meist auf Kosten ihrer eigenen Partei aus dem Weg geräumt (Mindestlohn, AKW, Ehe für alle). Sie hat den Spielraum der SPD eingeengt, indem sie die CDU zur zweiten Sozialdemokratie transformierte. Ihre Europapolitik hat die Vorbehalte gegenüber Deutschland befördert – das wäre Vorgänger Kohl nicht passiert. Wahrscheinlich hat sie auch den Brexit mitverursacht, so wie sie den Grexit zu Lasten des deutschen Steuerzahlers abgesagt hat.

Sie hat in ihren zwölf Jahren Kanzlerschaft manches unterlassen, was die deutsche Wirtschaft zukunftsfester gemacht hätte. Sie ist weder Thatcher noch Schröder noch Kohl. Ihr Herrschaftsprinzip ist ganz simpel. Merkel wird nicht angetrieben von einer grossen Idee. Sie hat keine. Europa, deutsche Einheit, Marktwirtschaft – das alles war schon erledigt, bevor sie kam. Sie hofft darauf, dass die Menschen ihre Fehlleistungen vergessen – und damit ist sie gut gefahren.
Merkel bekämpft den Schaden, den sie Deutschland zugefügt hat

Aber verantwortliche zukunftsorientierte Staatsführung geht anders. Man hätte gern gewusst, wie sie das Thema Migration lösen will. Millionen von Menschen nehmen in Afrika Anlauf, um nach Europa zu gelangen, insbesondere ins gelobte Deutschland, das seit Merkels Selfies bei Flüchtlingen, Schutzsuchenden, Asylbetrügern, echten und falschen Migranten und anderen Eindringlingen das allererste Ziel ist. 

Das Paradoxon: Merkel bekämpft jetzt aktiv den Schaden, den sie selbst Deutschland 2015 zugefügt hat. „Die Situation von 2015 darf sich nicht wiederholen“, sagt sie heute. Das ist etwa so, als wenn der Technikchef von VW erklärte: „Diese Herumschraubereien am Diesel dürfen sich nie wiederholen.“ Aber die Deutschen, die schon an ihrer Kanzlerin zweifelten, hören es gern.

Ein Blick in die aktuelle Wahlkampagne der CDU zeigt: Das Grossthema Flüchtlinge, das die nächsten Jahre bestimmen wird, kommt überhaupt nicht vor. Kein Flüchtling, nirgendwo. Es hätte ja schon das Versprechen gereicht, vor den weiteren anstehenden Migrationswellen einmal anzukündigen, den Bundestag zu fragen. Nichts, nirgendwo. Kein Wort auch zur „Obergrenze“ der Schwesterpartei CSU.

Jeder Konflikt wird ausgeklammert oder verschwiegen. Die Vorlage dieser Politik war Armenien. Da hatte sich die Parteivorsitzende Merkel im Bundesvorstand der CDU für eine Armenien-Resolution des Bundestages ausgesprochen, um dann bei der Sitzung zu fehlen und hinterher mitteilen zu lassen, sie habe ja nicht dafür gestimmt – nur um ihren Hals gegenüber Erdogan zu retten. So geht Politik heute.

Augen zu, CDU! Martin Schulz hat schon recht, wenn er Merkels Entpolitisierungspolitik beklagt. Dem Land tut das nicht gut. Aber Schulz ist der falsche Herausforderer. Sein Amtsvorgänger Gabriel, der den Absprung ins Aussenministerium nahm, ist viel facettenreicher und interessanter als Schulz in seiner Eindimensionalität. Einen Wahlkampf „Gabriel gegen Merkel“ hätte man gern erlebt.
Merkels Ziel: Ein gutes Gefühl für alle

Merkel verwaltet das Land, ohne Veränderungswillen. Sie lobt Amtsvorgänger Schröder für die Agenda 2010, die ihr eine solide Wirtschaftslage beschert hat. Das hört sich gut an, aber in diesem Zusammenhang ist es hilfreich, nachzulesen, was Angela Merkel 2003 als Oppositionsführerin Schröder entgegenschleuderte, als dieser die Agenda auf den Weg brachte: „Trippelschritte.“ – „Stückwerk.“ – „Gift für das, was Deutschland jetzt braucht.“

Einen Rückschluss auf Merkels innere Verfassung liefert auch das Personal, mit dem sie sich umgibt. Statt wie einst Gerhard Schröder mit Schwergewichten (Steinmeier, Eichel, Clement, Müntefering, Steinbrück) die Politik umzugestalten, pflegt sie an ihrer Seite Personen, die vor allem die Eigenschaft der Willfährigkeit haben: die gescheiterte Verteidigungsministerin von der Leyen, der Schönredner Altmaier, der hilflose Innenministerdarsteller de Maizière und Fraktionschef Kauder, eine Art Vollzugsbeamter. Der einzige andere Hauptdarsteller im Grossformat ist Wolfgang Schäuble, aber der wird demnächst 75 und ist, so ein CDU-Grande, „leider zu loyal“.

Merkels Hoffnung liegt sonnenklar zutage: Fehler und Versäumnisse unter den Tisch kehren, allen ein gutes Gefühl geben, Zufriedenheit verbreiten, Sedativa verteilen und darauf hoffen, dass Schulz sich wund schimpft. Sie wird auch die Fernsehdiskussion Anfang September mit ihm gut überstehen, eben weil er nicht die Alternative ist. Die Leute lechzen ja nach einem Sheriff, gegebenenfalls auch nach einem roten, der den Staat säubert, Kriminelle hinauswirft und die Ordnung verteidigt. Aber diesen Staat will Schulz selber nicht – stattdessen predigt er, Migranten über Europa zu verteilen. Kopfschütteln. Wo die Bevölkerung Schutz einfordert, zum Beispiel in Form von Registrier- und Aufnahmezentren in Nordafrika, da verlangt Schulz, ein Gesicht des Brüsseler Europas, Gerechtigkeit. Sein Wahlkampf liegt völlig neben der Sache.

Und was passiert nach dem 24. September? Gefahrlos kann man prognostizieren: Aus No-Bail-Out wird die Vergemeinschaftung der Schulden Europas mit Deutschland als Schuldenpatron, alles für die Bevölkerung natürlich eingepackt in eine Sprache aus Watte. Die Lösung von Problemen durch Fassadenmalerei – das ist der eigentliche Kern des Merkelismus, den ihre Partei mit geballter Faust in der Tasche mitträgt, weil sie nur so an den Töpfen der Macht verbleibt.

Schon Talleyrand wusste: „Kein Abschied auf der Welt fällt schwerer als der Abschied von der Macht.“ Wann Merkel den einleitet, liegt nicht nur an ihr, sondern auch an der Partei. Sicher ist nur: Wer zu spät aufhört, den bestraft das Leben. Frei nach Gorbatschow, ihrem früheren Idol.

Hans-Hermann Tiedje war Medienberater von Bundeskanzler Kohl. Er ist Aufsichtsratschef der Medienagentur WMP EuroCom AG in Berlin. Zuerst erschienen in der Neuen Züricher Zeitung.
Foto: Bundesregierung/Bilan

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