Montag, 15. November 2021

Das Trauma der Industriegesellschaft

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Nach der Geburt, oder: Was haben Verlassenheitsängste, die Pest und die Neigung zu Gewalt miteinander zu tun?


Gleich nach der Geburt besteht ein Baby nur aus Empfindungen. Es besitzt noch nicht so etwas wie vernunftmäßiges Denken. Der Säugling lebt total im Moment, in einem Zustand der Glückseligkeit, in natürlicher Erwartung von Mutterliebe, körperlicher wie emotionaler Zuwendung. 


Wenn diese Erwartung nicht erfüllt wird, d. h. wenn das Kind sofort nach der Geburt getrennt wird, in den ersten sechs bis acht Monaten seines Lebens nicht von der Mutter oder einem anderen Erwachsenen am Körper getragen, liebkost und geherzt wird, wenn es nicht im Bett der Eltern schlafen kann sondern in ein isoliertes Bettchen kommt, erleidet es ein Trauma, dessen Ausmaß kaum nachzuvollziehen ist – ein Ausmaß, das die meisten westlichen Menschen kennen und das nicht mehr vollständig rückgängig gemacht werden kann!


Kurz: Der nicht ständig getragene, von der Mutter schon nach der Geburt getrennte und später in eine Wiege oder ein eigenes Bettchen verbannte Säugling lebt in einer Art unerfülltem Verlangen nach Zuwendung, das später eine lebenslange Suche nach Glück, Anerkennung, Zuwendung und Liebe zur Folge hat.


Daraus folgt: “In der Tiefe der Seele jedes Menschen aller Hochkulturen befindet sich ein in Angst und Panik verlassenes Baby. Eine Hölle von ¨Vereinsamung – in mehr oder weniger hohem Ausmaß” (Franz Renggli, Vom Ursprung der Angst). Seine angeborenen Erwartungen mischen sich mit den Erfahrungen des Alltags und determinieren seine oft lebenslangen Grundüberzeugungen ebenso wie seine Prädisposition für psychische und körperliche Krankheiten - mit aktuell grenzüberschreitenden Folgen?


So führt der Psychoanalytiker Franz Renggli in seinem Buch “Selbstzerstörung aus Verlassenheit” (1992) das Wüten der Pest im Europa des 14. bis 17. Jahrhunderts darauf zurück, dass Mütter nachts nicht mehr mit ihren Kindern in einem Bett schlafen durften: “...ein- oder zweihundert Jahr vor dem schwarzen Tod beginnen die Priester in den Kirchen zu predigen, dass es einer Mutter nicht länger erlaubt sei, mit ihrem Baby des nachts im gleichen Bett zu schlafen. Begründet wird dieses Verbot durch die Gefahr des Erdrückens ihres Babys. 


Somit haben die Kleinkinder ihre letzte Möglichkeit verloren eine längere Periode von ununterbrochenem Körperkontakt mit ihren Müttern zu erleben, nämlich während der Nacht. Die Wiege wurde damals erfunden - sie kann auf allen Bildern und Stichen der damaligen Zeit (ab dem 14./15. Jh.) gesehen werden, auf welchen eine Familie und ihre Kleinkinder dargestellt sind.”(https://www.franz-renggli.ch/de/buch2.html).


Ganze Generationen von Kindern wurden damals und werden noch heute traumatisiert indem sie der Mutter entfremdet, gleich nach der Geburt von ihr getrennt, im Alltag in Laufställe gesetzt oder Kinderbettchen, -wägen und -gärten entsorgt wurden, damit die Mutter ruhig schlafen, ihren Haushalt versorgen oder arbeiten gehen konnte.


Nur: ein Menschenkind, dessen natürliche und angeborene Erwartungen in dieser Zeit enttäuscht werden, ist unwiderruflich geschädigt und entwickelt Schutzmechanismen wie die Selbstbetäubung, das Erstarren und körperliche Sich-Versteifen, ebenso wie tiefe (Selbst)Zweifel, Misstrauen, Angst vor dem Verletztwerden, vor Zurückweisung, dem Verlassenwerden sowie einen der stärksten: Die Resignation.


Es braucht also nicht zu verwundern, dass erwachsene Menschen mit einem Liebestrauma anfälliger sind für Infektionen, vor allem wenn es explizit getriggert wird, z. B. durch Arbeitslosigkeit, Armut, Einsamkeit, Beziehungsstress, Trennung vom Partner, einen Aufenthalt im Altersheim anstatt bei der Familie, unfreundliche Behandlung dort oder andere Dinge.


Dauern Krisen allerdings zu lange oder wiederholen sich ständig, kann es zum Ausbruch von Seuchen wie die Pest kommen: “Nicht ein Bakterium oder ein Virus steht im Zentrum, sondern die Menschen einer Gesellschaft, welche durch eine Krise erschüttert worden sind.


Dauert sie zu lange, ist sie zu heftig oder zu traumatisierend, wird das Immunsystem der Bevölkerung langsam schwächer und bricht schließlich zusammen. Die Menschen werden „offen" für eine Krankheit und schließlich für den Tod. Dieses Modell ist gültig für jede Epidemie und kann als Schlüssel verstanden werden zu einem neuen Verständnis der Geschichte” (Franz Renggli, https://www.franz-renggli.ch/de/buch2.html).


Liebestraumata haben zudem starke Auswirkungen auf die spätere Bindungs- und Liebes-(un-)fähigkeit eines Menschen.


So kam kürzlich ein Vater mit seinem Sohn zu einem Gespräch zu mir. Letzterer meinte, er wolle seiner Familie nicht mehr zugehören. Er neigte dazu, wegzurennen, sich zurückzuziehen und verweigerte es, sich seinen Eltern mitzuteilen obwohl diese sich sehr liebevoll um ihn bemühten.


Aber warum?


Es stellte sich heraus, dass er unmittelbar nach der Geburt von der Mutter entfernt wurde. Dazu kam, dass er nur ein halbes Jahr nach der Geburt operiert werden musste. Diese Operation, üblicherweise ohne die Anwesenheit der Eltern durchgeführt, und die vor- wie nachbereitenden Blutabnahmen, verstärkten das ursprüngliche Liebestrauma und führten dazu, dass er beim Anblick eines Arztes sofort wegrennen möchte oder das Trauma re-inszeniert indem er alles wie tot mit sich geschehen lässt.


Was genau geschieht da in ihm?


Nun, er ist hin- und hergerissen zwischen seiner tiefen Sehnsucht nach Zuwendung, Halt und Schutz sowie seinem Bedürfnis, sich zukünftig vor den traumatischen Gefühlen, der überwältigenden Qual und dem tiefen Schmerz des Verlassenseins zu schützen und erstarrt immer wieder in diesem inneren Konflikt.


Um damit nicht weiter überfordert zu werden, trennte er sich von sich selbst, seinen Gefühlen und dem inneren Konflikt ab und damit auch von allen anderen Gefühlen.


Sein Wunsch an mich war, dass er wieder glücklich sein und sich wohlfühlen kann.


Verständlich, oder?


Sein Vater war zutiefst berührt, erstaunt, erfreut und stolz darüber, wie intensiv sein Sohn sich mir in den Sitzungen mitteilte, da er mit seinen Eltern kaum bis gar nicht mehr über seine Gefühle sprach. Für Eltern ist ein Kind, das keine Beziehung mehr zu ihnen eingehen kann und möchte, eine enorme Belastung, ja, viele Eltern sind überfordert damit und reagieren mit der Zeit mit Ärger - was die Probleme zwischen ihnen natürlich noch verschärft.


Erfahrungsgemäß haben Menschen wie er als Erwachsene später auch große Probleme in ihren Beziehungen, sollte er nicht bereit oder in der Lage sein, diese alten Erfahrungen zu einem befriedigenden Ende zu bringen, die körperlichen Spannungen zu entladen und zu lernen, die damals vorhandenen Emotionen immer wieder liebevoll zu halten.


Denn auch wenn diese Erfahrungen zutiefst prägend sind, und die einzigartige symbiotische Mutterbindung im Erwachsenenalter nicht nachgeholt werden kann, kann man auch dieses verlorene, verlassene und hungrige Kind im Jugendlichen oder Erwachsenen ins Bewusstsein holen, seine damals vernachlässigten Bedürfnisse, Sorgen und Ängste hören, (mit)fühlen, liebevoll integrieren und heilen - aus der Stille, Dem, was du wirklich bist - und damit weitere unnötige Re-Inszenierungen verhindern, die Eltern-Kind-Beziehung ebenso wie die des Kindes zu sich selbst verbessern.


Wenn er dazu bereit ist, ist er den meisten Erwachsenen weit voraus - denn erst dann ist er in der Lage wirklich erwachsen zu werden.


Sehr viele erwachsene Klienten kommen zu mir, weil sie große Verlassenheitsängste ausstehen, wenn der /die PartnerIn kurze oder längere Zeit ohne sie in Urlaub fährt oder einfach auch mal Zeit ohne sie oder mit anderen verbringen möchte. Für einen Menschen ohne Bindungs- bzw. Liebestrauma ist das kein Thema. Aber wenn ein frühes Bindungstrauma vorliegt, kann dies heftige psychische wie körperliche Stressreaktionen auslösen, denn es hat großen Einfluss auf die sogenannten Stressgene sowie den Ausbau von Stress-Nervenbahnen im Körper.


Und: Umso früher ein Trauma entsteht, desto tiefer der Abdruck, den es im Gehirn hinterlässt.

So kam kürzlich eine junge Frau zu mir, die sehr stark darauf reagierte, wenn ihr Freund das Haus verließ. Es stellte sich heraus, dass ihre Mutter für einen Moment nicht achtsam war, und sie deshalb in der Badewanne als 1 - 2 Jährige mit dem Kopf unter Wasser kam und in Panik geriet. Das Fühlen seiner tiefen Not und das nachträgliche “Erretten” beruhigten ihr Nervensystem und schufen eine neue Erfahrung, nämlich, dass sie selbst dieses innere Baby halten und heilen kann.


Bindungstraumatisierte Kinder nehmen auch die unbewältigten Angst-, Wut-, Scham- und Schuldgefühle ihrer Eltern in sich auf. Sie haben nicht die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen, da es nicht ihre eigenen sind. Sie lernen zudem nicht, wie Kinder von relativ gesunden und selbstreflektierten Eltern, ihre Gefühle angemessen zu regulieren. “Daher reagieren sie unangemessen auf geringsten Stress, sind ständig überfordert, geben schnell auf oder gehen in Opposition gegen ihre Eltern und versuchen durch Unselbständigkeit und Anklammern, möglichst nahe bei den Eltern, insbesondere bei der Mutter, zu sein” (Ruppert 2007, S. 97).


Sie wenden sich zudem, von Schule, Berufsausbildung und ihrer wachsenden Freiheit zunehmend überfordert, immer mehr gegen die Eltern sowie gegen Regeln, Gesetze, Normen und Autoritäten jeglicher Art. Sie entwickeln immer mehr destruktive Verhaltensweisen, indem sie ihre Aggressionen unvermittelt und oft ohne sichtbaren Grund gegen andere ebenso wie gegen sich selbst richten. Gewalt, Alkohol, Drogen und gefühlloser Sex ebenso wie die Suche nach gesellschaftlichen oder politischen Feindbildern dienen der Abreaktion bzw. der Verdrängung der vermiedenen Gefühle.


Kurz: Es geht immer mehr ums Überleben, nicht um ein Leben in Liebe, Frieden und Freude.


Es ist erwiesen, dass Menschen mit frühen Bindungstraumata im späteren Leben stärker zu aggressiven Reaktionen bis hin zu Gewalt neigen als Menschen ohne Bindungstraumata (Joachim Bauer 2008, S. 82ff). Man könnte auch sagen, dass die Wut, die sie nach Außen richten, die Wut über die selbst erlebte Vernachlässigung, Gewalt und Bindungslosigkeit ist. Diese re-inszenieren sie dann als Erwachsene wieder mit ihren Kindern, Partnern, Arbeitskollegen, Nachbarn etc. - ein Teufelskreis, der sich über Generationen fortsetzen kann. 


Nicht umsonst ist Narzissmus, extreme Selbstbezogenheit, die Unfähigkeit zu Empathie und zu einer zärtlichen, liebevollen und zugewandten Beziehung inzwischen sehr verbreitet.


Kurz: Wird ein solches Trauma nicht bearbeitet, bestimmt es die Beziehung zu dir selbst, deinen Mitmenschen und der Umwelt als solches - oft ein Leben lang. Und jede Re-Inszenierung verstärkt die daraus resultierenden Veränderungen im Gehirn, Genmaterial und damit die Stressreaktionen (Ausschüttung von Cortisol und Noradrenalin etc.). Sie sensibilisieren dich gewissermaßen für traumatischen Stress. 


Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass eine kompetent durchgeführte Psychotherapie dies verhindert bzw. zur Rückbildung bereits bestehender Veränderungen führt (Joachim Bauer 2016).


Mögliche spätere Trauma-Auslöser


Aufenthalte in der Kinderkrippe, im Kindergarten oder Heim (umso früher desto heftiger und tiefgehender das Trauma)


Unfreundliche Trennungen von der Mutter (Mutter wie Kind müssen sich bei und mit einer, auch noch so kurzfristigen, Trennung wohlfühlen, sonst entsteht ein Trauma)


Allein- oder Verlassenwerden (womöglich immer wieder)

Verlust oder Trennung der Eltern, Scheidungen, Adoptionen

Eingeschlossen-, Weggesperrtwerden, vor allem wenn es dazu noch eine Art Bestrafung ist


Entfernung von den Eltern in ein getrenntes Bett, einen Laufstall oder Kinderwagen ohne Beachtung der Reaktion des Kindes (ein menschlicher Säugling braucht bis zu seinem 10. Lebensmonat den kontinuierlichen Körperkontakt mit der Mutter)


Der Verlust von geliebten Wesen, von Heim, Heimatland und/oder Zugehörigkeit


Verletzungen oder Krankheiten


Stürze, Auto- und andere Unfälle


Krankenhausaufenthalte und Operationen ohne das beruhigende, liebevolle Beisein und den Schutz der Eltern.


Übergriffige Routineeingriffe von Ärzten (v. a. bei Kindern oder Erwachsenen, die gegen ihren Willen festgehalten und narkotisiert werden und danach in einem leeren Krankenzimmer alleine aufwachen; Behandlungen ohne Narkose bei Kindern wie Erwachsenen)


Emotionaler, sexueller bzw. körperlicher Missbrauch


Die Erfahrung oder das Miterleben von Gewalt (als Opfer wie als Täter), Krieg und Naturkatastrophen

Unmenschliche, unnatürliche Zwänge, Druck, Stress


Emotionale und körperliche Übergriffe, Vergewaltigungen


Mobbing, starke, länger anhaltende Überforderung (z. B. am Arbeitsplatz)


Extrem heißen oder kalten Temperaturen ausgesetzt sein

Plötzliche, laute Geräusche (v. a. bei kleinen Kindern)


Deprivation, Vernachlässigung (bei kleinen Kindern, alten, kranken oder behinderten Menschen)


Generationsübergreifende Traumata (ungelöste Traumata der Eltern oder Großeltern werden an die Kinder weitergegeben)


Wesentlich ist, dass Menschen, die sich nicht wehren, sich selbst helfen, kämpfen oder weglaufen können, das heißt die in irgendeiner Form Bewegungs- oder Abwehreinschränkungen unterliegen (vor allem Kinder, Frauen, kranke, behinderte, alte Menschen) oder, aufgrund von frühen Traumata und den daraus resultierenden Überzeugungen wie Überlebensstrategien, glauben, dass sie sich nicht wehren können, am stärksten betroffen sind. 


Aber grundsätzlich kann ein (Re-)Trauma auch bei einem Erwachsenen jedes Geschlechts auftreten, der sich existentiell bedroht und zugleich zu etwas gedrängt oder gezwungen fühlt, was ihm nicht entspricht respektive der sich durch eine Situation überfordert fühlt.


(Quelle: Gabriele Rudolph, (Un)Endlich frei! - Traumata als Tor zur Freiheit, Ottersberg 2021)


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