Montag, 8. März 2010

Wer wirft den ersten Stein?

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Für Margot Käßmann ist ihr Amtsverzicht richtig und stimmig - für viele von uns traurig und doch achtunggebietend. Dieser Rücktritt passt zu ihr - das Fahren unter Alkohol nicht. Sie hatte von ihrer Grundhaltung her kaum eine andere Wahl und sie hat sie doch frei getroffen.

Ich kann mir erklären, wie es zu jenem Fehlverhalten gekommen sein mag. Deswegen werde ich es nicht rechtfertigen. Das ist in ihrer Position nicht tolerierbar. Aber was ist das für eine Welt, die andere zu Makellosen stilisiert? Sie selbst hat sich gerade nicht als Un-Fehlbare verstanden oder aufgeführt. Aber viele haben zu viel auf sie projiziert. Sie auf diesen einen Punkt in ihrem Leben zu reduzieren, wäre selbstgerecht und pharisäisch. Ich hoffe weiter auf ihre unverwechselbare Stimme, die sie auch ohne Amt hat. In der aufgepeitschten Diskussion trat wieder ein grundlegendes Missverständnis des Christlichen zutage. Christliches Reden ist nicht moralisierendes, sondern orientierendes Reden. Der Mensch kann sich seiner eigenen Fehlbarkeit stellen. Nicht das Appellative steht im Vordergrund, sondern das Reflexive. Aber differenzierende Reflexion schafft es kaum in die größere mediale Öffentlichkeit. Da muss ein Präsident immer "mahnen", ein Papst "kritisieren", eine Bischöfin dazu "auffordern" etc. Wer als Christ Leitlinien für zuträgliches Verhalten ausgibt, tut dies als jemand, der weiß, dass er selbst keineswegs immer das Förderliche oder Erforderliche tut oder tun kann. Wo das Heilige sich meldet, ist das Teuflische nicht fern.

Kein Buch von Heiligen

Der Diabolus, der Durcheinanderbringer, schläft nicht. Wir alle sind ansteckbar durch Gier, Macht, Begehrlichkeiten, Wut, Schweigen und Verschweigen, durch Rache- und Gewaltfantasien. Die Bibel aber stellt vor den Anspruch den Zuspruch Gottes: Vor dem Imperativ zu lieben, steht die Zusage, geliebt zu sein. Vor der Aufforderung, das Gute zu tun, sind wir in Gnaden Angenommene. Der Glaube besteht nicht aus einem bigotten Moralvademecum. Die Heilige Schrift ist kein Buch von Heiligen über Heilige zu Heiligen, sondern ein variantenreicherer Bericht über den Menschen im Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen, Prinzipien und Taten.

Nach 2000 Jahren kommt wieder und wieder dieses moralistische Missverständnis des Christseins auf. Das hat etwas mit Erwählungsbewusstsein, mit Gut-Böse-Schemata und mit Heiligkeitsprojektionen zu tun. Dabei sind wir nicht prinzipiell besser als "die anderen" - aber wir wissen um eigenes Nicht-Bessersein. Ein Christ muss nichts weglügen, wenn er gefehlt hat. Reue und Vergebung eröffnen neues Leben. Die Maßstäbe des Menschlichen haben und behalten trotz unseres Versagens Gültigkeit - etwa wird Menschsein als Mitmenschsein verstanden. Barmherzigkeit ist mehr als Herzlosigkeit des Rechts und des Rechthabens.

In einer polemischen Predigt von 1539 hat Luther harte Worte über Schlemmen, Fressen und Trunksucht gefunden und zu einem christlichen Lebenswandel ermahnt. Einschränkend - selbst ein fröhlicher Genießer! - formuliert er: "Es wäre noch zu dulden und zu übersehen, wenn die Schwelgerei und Sauferei in Maßen erfolgte, etwa wenn einer von Zeit zu Zeit unabsichtlich einen Schluck zu viel tränke oder nach großer Mühe und Arbeit misslich gelaunt, sich einmal berauschte. Einem Weibe muss man ja auf einer Hochzeit auch erlauben, dass sie dort einen Schluck mehr zu sich nimmt als bei sich zuhause."

Das kann eben auch ein nächtliches Freundeskreistreffen sein. Doch das Auto muss stehen bleiben, wenn die Person auch nur ein wenig wankt. "Mitten im Leben" heißt Käßmanns Erfolgsbuch. Was da eines späten Abends geschehen ist, war ganz daneben. Aber eben auch mitten im Leben. Schade um sie, schade für uns. Über Kirchengrenzen hinaus. "Nichts ist gut in Afghanistan!", sagte sie. Europäischer Pazifismus ist laut dem amerikanischen Verteidigungsminister Gates gefährlich.

War auch sie gefährlich? Und für wen?


von Friedrich Schorlemmer


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