Montag, 14. März 2011

Diet­rich Koller: Ein Evan­ge­lium ohne Kreuz?


Das Thomasevangelium

Kann es das geben? Ein Evan­ge­lium ohne Pas­sions- und Oster­ge­schichten? Evan­ge­lien ohne Weih­nachts­ge­schichte gibt es im Neuen Tes­ta­ment gleich zwei: Markus und Johannes. Aber ein Jesus ohne Kreu­zi­gungs- und Aufer­ste­hungs­be­richt? Ein sol­cher Jesus ohne Kreuz - wäre er für unsere Gene­ra­tion nicht hoch inter­essant, die mit der Vor­stel­lung der Erlö­sung durch den Kreu­ze­stod des Erlö­sers immer weniger anzu­fangen weiß? War doch seit dem Mit­tel­alter bis heute das neu­tes­ta­ment­liche "Wort vom Kreuz" meist miss­ver­standen und fehl­ge­deutet worden - so als bräuchte Gott ein blu­tiges Opfer, um ver­söhnt zu werden.

In dem 1945 in Ägypten wieder ent­deckten Tho­ma­sevan­ge­lium haben wir eine alte Form früh­christ­li­cher Ver­kün­di­gung aus dem ost­sy­ri­schen Raum vor uns. Sie ent­hält aus­schließ­lich Aus­sprüche des Wan­de­rers und Weis­heits­leh­rers Jesus, näm­lich seine Bot­schaft vom Reich des Vaters, das sich im Hier und Jetzt ereignet. Jeder Bezug auf "das hei­lige Kreuz, durch wel­ches die Welt erlöst wurde", fehlt!

Es gibt ein ähn­lich gear­tetes, eben­falls ara­mäi­sches Spru­chevan­ge­lium aus West­sy­rien. Obwohl es selbst ver­loren gegangen ist, konnte die theo­lo­gi­sche For­schung seinen Inhalt rekon­stru­ieren, indem sie jene Jesus­worte zusam­men­stellte, die im Mat­thäus- und Luka­sevan­ge­lium gleich lauten ("Spruch­quelle Q"). Die Theorie besagt, dass Mat­thäus und Lukas beide das Mar­ku­sevan­ge­lium und dieses ver­schol­lene Spru­chevan­ge­lium als Vor­lage benutzt haben, die sie dann jeweils mit ihrem jewei­ligen "Son­dergut" ergänzt haben. Aus Q stammen auch die Worte der Berg­pre­digt, die bei Markus nicht vor­kommen. Das Mar­ku­sevan­ge­lium selbst besteht zur Hälfte aus einer nach den Psalmen gestal­teten Pas­si­ons­ge­schichte. Markus hat seinem Werk als erster die Über­schrift "Evan­ge­lium" gegeben (Markus 1,1). Das ist ein Begriff der Kanz­lei­sprache am römi­schen Kaiserhof, z. B. für eine Amnestie an Kai­sers Geburtstag: eine "Gute Nach­richt".

Das Tho­ma­sevan­ge­lium nun besteht aus 114 ursprüng­lich ara­mä­isch über­lie­ferten Jesus­worten ("Logien"). Etwa Drei­viertel davon ent­spre­chen Jesus­worten, die sich auch in den ersten drei Evan­ge­lien, also bei den "Syn­op­ti­kern" Mat­thäus, Markus und Lukas finden. Bei Thomas scheint jedoch eine zum Teil ältere und ursprüng­li­cher klin­gende Fas­sung über­lie­fert zu werden. Es war für mich ein ergrei­fender Moment, als ich im Januar 2008 im neuen kop­ti­schen Museum in Kairo vor der Vitrine mit der ersten Seite der kop­ti­schen Abschrift dieses Evan­ge­liums aus dem Jahre 350 stand. Diese Abschrift hatte ein Bauer 1945 ent­deckt. Der Vor­spruch lautet: "Dies sind die geheimen Worte, die Jesus der Leben­dige sprach und die Didymus Judas Thomas auf­ge­schrieben hat". Die Worte des Tho­ma­sevan­ge­liums kommen also aus dem Munde dessen, der "Jesus der Leben­dige" genannt wird. Die Titel "Christus", "Herr" oder "Meister" sucht man bei Thomas ver­geb­lich.

Jesus, der Leben­dige: ist das etwa der authen­ti­sche his­to­ri­sche Jesus, den die Jesus­for­schung immer wieder zu finden hofft? Nein! Fragt doch der Engel am Grab auch uns: "Was sucht ihr den Leben­digen bei den Toten?" Der Leben­dige ist der, von dem Lukas in Apo­stel­ge­schichte 1 sagt: "Jesus zeigte sich nach seinem Leiden durch viele Zei­chen als der Leben­dige und ließ sich 40 Tage lang unter ihnen sehen und redete mit ihnen über das Reich Gottes". Genau das tut Jesus im Tho­ma­sevan­ge­lium: Er redet nicht über sein Leiden, Sterben und Aufer­stehen, son­dern über "das König­reich des Vaters". Zu Thomas - und durch ihn zu uns Heu­tigen! - spricht also Jesus ähn­lich wie in den Abschieds­reden des Johan­nes­evan­ge­liums als der für immer Leben­dige, der ewig Gegen­wär­tige. Er sagt kein Wort von einem Opfer- oder gar Süh­netod zur Erlö­sung von Sünde, Tod und Teufel. Er sagt nichts von einer ewigen Seelen-Selig­keit oder ewigen Seelen-Ver­dammnis nach dem Tod. Aber er sagt alles über eine hier und jetzt begin­nende Ver­wand­lung und Trans­for­ma­tion des (natür­li­chen und auch des reli­gi­ösen!) Men­schen in einen Jünger oder eine (aus­drück­lich den Män­nern gleich­ge­stellte und eben­bür­tige) Jün­gerin. Der Schüler/die Schü­lerin "trinkt" in der Nach­folge Jesu unmit­telbar "aus dem Munde des Leben­digen" - und "wird wie ich sein, und ich, ich werde wie er/sie sein" (Logion 108) - also eine Art Spie­gel­bild oder "Zwil­ling" Jesu! Im Tho­ma­sa­ven­ge­lium ver­wan­delt sich Thomas der Zweifler in Thomas den Zwil­ling! Der Jünger wird analog zu Jesus zum Sohn, die Jün­gerin zur Tochter des Vaters.

Am Anfang der Nach­folge ver­stehen die Jünger im Tho­ma­sevan­ge­lium alles falsch. Sie stellen die fal­schen Fragen, weil sie noch einer gesetz­li­chen Fröm­mig­keit ver­haftet und ver­pflichtet sind ("Sollen wir fasten?"). Aber es geht Jesus dem Leben­digen nicht um eine Gehor­sams­be­zie­hung, son­dern um eine part­ner­schaft­liche Bezie­hung, nicht um eine dua­lis­ti­sche Reli­gion, die einen unend­li­chen Abstand zwi­schen Gott und Mensch behauptet und auf­richtet, son­dern um eine Ein­heits­er­fah­rung, um die Mystik der Ver­ei­ni­gung. Adam soll wieder zum Licht­wesen werden. Es geht dem Jesus des Tho­ma­sevan­ge­liums nicht um ein Glauben an das Unsicht­bare (anders als dem Johan­nes­evan­ge­lium: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!"). Es geht ihm ganz im Gegen­teil um ein Sehen und Schme­cken des All­ge­gen­wär­tigen. Es geht ihm nicht um eine Dog­matik (rich­tige Lehre), son­dern um eine Gnosis (Erkenntnis auf­grund von Erfah­rung).

Das erste Logion gleich nach dem Vor­sprach lautet: "Und er, der Leben­dige, sprach: Wer die Bedeu­tung dieser Worte (dieThomas auf­ge­schrieben hat) findet, wird den Tod nicht schme­cken." Und wann und wo finden und sehen wir diesen leben­digen Jesus? "Wenn ihr euch ohne Scham ent­kleidet, wie es die kleinen Kinder tun" (Logion 37). Kleider ablegen bedeutet bei Thomas vor allem, die "Bilder" ablegen. Gemeint sind damit unsere Ansprüche, wie das Leben zu sein hat, unsere fal­schen Wün­sche, die Titel und Rollen, unsere gewohnten Reak­ti­ons­muster, unsere gesamte gewor­dene Per­sön­lich­keit samt ihrer Ver­drän­gungs­me­cha­nismen, mit denen wir uns vor unserem wahren Sein, vor dem wirk­li­chen Leben, vor dem "leben­digen Vater" drücken und ver­ste­cken. Alle großen Mys­te­rien des Lebens erfahren wir ja buch­stäb­lich nackt: die Geburt, die Taufe, die Hoch­zeit, den Tod. Der Mär­tyrer Bon­ho­effer starb wie Jesus bar aller Kleider - ebenso der Mys­tiker Franz von Assisi.

Das alles geschieht bei Thomas ohne eine Theorie vom Kreuzopfer. Aber alles, was in dieser Art von Nach­folge geschieht, gleicht einem Sterben des natür­li­chen Men­schen und einem Aufer­stehen des Licht­men­schen. Nicht irgend­wann dort und dann im Jen­seits, son­dern hier und jetzt im erwachten Bewusst­sein des all­zeit gegen­wär­tigen Rei­ches Gottes. Schon Diet­rich Bon­ho­effer hat betont: Das Chris­tentum ist keine Erlö­sungs­re­li­gion am Rande und Ende des Lebens, wel­ches die Jen­seits­fragen lösen will. Der Nach­folge- und Umwand­lungs­pro­zess geschieht kon­kret in der Mitte der Welt. "Mitten im Dies­seits jen­seitig sein" nennt Bon­ho­effer das. Und umge­kehrt: "Das Jen­sei­tige ist nur für das Dies­sei­tige da!"

Aber auch der "tho­ma­si­ni­sche Jesus" weiß etwas vom Leiden und Sterben als wesent­li­cher trans­for­ma­tiver mensch­li­cher und geist­li­cher Erfah­rung: "Selig der Mensch, der gelitten hat. Er hat das Leben gefunden" (Logion 58). Oder: "Wer Vater, Mutter und Geschwister nicht ver­achtet (son­dern zwi­schen sich und den wahren Vater treten lässt), kann nicht mein Jünger sein. Und wer sein Kreuz nicht trägt, wie ich es trage, wird meiner nicht würdig sein" (Logion 55). Das ist die ein­zige Erwäh­nung des Kreuzes im Tho­ma­sevan­ge­lium! Einen Spe­zi­al­kult um das Kreuz Jesu, der über das Kreuz der Nach­folge hin­aus­geht, will der leben­dige Jesus des Tho­ma­sevan­ge­liums nicht.

Der christ­liche Glaube ist ein Glaube an den leben­digen, den ver­klärten Jesus hier und jetzt. Das christ­liche Mahl ist keine Gedenk­feier für den Gekreu­zigten ("Tut dies zu meinem Gedächtnis!"), son­dern recht ver­standen eine Feier der Ver­ge­gen­wär­ti­gung des öster­li­chen, des kos­mi­schen Christus. Brot ist ein Symbol des Lebens. Blut ist eben­falls ein Symbol für das Leben. In einem Dop­pel­ri­tual bekommen wir zweimal Anteil am leben­digen Leib und am Leben des Aufer­stan­denen. So kom­mu­ni­zieren wir real und per­sonal mit ihm, dem Leben­digen, in der Gegen­wart des Rei­ches des Vaters.

In Logion 60 fragt Jesus seine Jünger, als sie einen Mann mit einem Lamm auf den Schul­tern sehen: "Was wird er mit dem Lamm machen?" Sie sagen: "Es töten und essen." Er sagt zu ihnen: "Solange es lebt, wird er es nicht essen können." Offenbar meint er damit: Erst wenn ich einmal nicht mehr irdisch bei euch bin, werdet ihr mich wirk­lich (geist­lich) schme­cken können in einer Weise, dass ich in euch über­gehe und ihr in mich. Ähn­lich sagt es der johannei­sche Jesus in seinen Abschieds­reden: "Es ist gut für euch, dass ich zum Vater gehe, sonst käme der Tröster, mein Hei­liger Geist, nicht zu euch" (Joh. 16,7). Das alles aber ist über­haupt keine Opfer­sprache. Es ist Pfingst­sprache.

Reli­gi­ons­ge­schicht­lich betrachtet ist die christ­liche Reli­gion ursprüng­lich keine Erlö­sungs- und Mys­te­ri­en­re­li­gion, son­dern die Weis­heits­lehre eines großen spi­ri­tu­ellen Meis­ters, der selbst trans­for­miert war und seine Schüler und Schü­le­rinnen zu "Kin­dern des Lichtes" trans­for­miert und "wie Schafe unter die Wölfe" in die Fins­ternis der Welt zur Trans­for­mie­rung der Welt schickt. Der Abschied neh­mende Jesus sagt zu ihnen in Mat­thäus 28: "Nun geht hin in alle Welt und macht Men­schen in allen Völ­kern zu meinen Schü­lern!" Wie soll das geschehen? Auf zwei Weisen: 1. "…indem ihr sie in den Tauftod und die Tau­fau­fer­ste­hung ein­ladet". Und 2. "…indem ihr sie lehrt, wie man prak­ti­ziert und so fest­hält an allem, was ich euch in meinen Reden auf­ge­tragen habe." Dabei sind die großen Reden Jesu gemeint, ins­be­son­dere die Berg­pre­digt mit den Selig­prei­sungen (Matth. 5-7), die See­pre­digt mit den Gleich­nissen vom Sämann, vom Unkraut, vom Schatz im Acker (Matth. 13), die Gemein­de­regel mit ihrem Ver­ge­bungs- und Ver­söh­nungs­ap­pell (Matth. 18), die große Pha­ri­sä­er­schelte (Matth. 23) und die End­zeit­rede (Matth. 25).

Man kann sich wun­dern, wes­halb die Kirche eine reli­giöse Kul­t­in­sti­tu­tion wurde, die sich extern von den herr­schenden Mächten sank­tio­nieren ließ, intern jedoch nicht die Lehre Jesu lehrte, wie sie zum Bei­spiel in der Berg­pre­digt oder in den Reich-Gottes-Gleich­nissen über­lie­fert ist. Viel­mehr lehrte sie eine Chris­tus­dog­matik, die nicht die Bot­schaft Jesu, son­dern das Geheimnis seiner Person zum Haup­tin­halt hat. Das alte christ­liche Tauf­be­kenntnis, das "Apo­sto­likum", weiß von Jesus nur "emp­fangen, geboren, gelitten, gekreu­zigt, hin­ab­ge­fahren, aufer­standen, auf­ge­fahren, wie­der­kom­mend, rich­tend". Außer den his­to­ri­schen Eck­daten "Maria" und "Pon­tius Pilatus" sind alle soge­nannten Heil­stat­sa­chen aus der altägyp­ti­schen Reli­gion über­nommen: Jung­frau­en­ge­burt, Tod und Aufer­ste­hung, Toten­au­fer­ste­hung, Welt­ge­richt.

Das ist zwar für die Jesus­be­we­gung ein hilf­rei­ches, ja zen­trales Deu­tungs­muster geworden, um das Geheimnis Jesu des Leben­digen zu bekennen. Aber ich möchte doch den ursprüng­li­chen Geist der Jesus­be­we­gung gerade für unser heu­tiges Leben wieder in den Mit­tel­punkt stellen: die von den Apo­steln (inklu­sive Thomas) über­lie­ferten Worte der Bot­schaft Jesu vom ange­bro­chenen Reich des Vaters, von der den Men­schen trans­for­mie­renden Nach­folge ins Licht, von der Berg­pre­digt als revo­lu­tio­närem Lebens­stil. Wir brau­chen wieder einen unge­heu­eren Bewusst­seins­schub von der insti­tu­tio­na­li­sierten und dog­ma­ti­sierten Reli­gion zur Weis­heit Jesu, vom Aber­glauben zum Licht, vom ange­passten zum alter­na­tiven Lebens­stil. 

Diese zwei unter­schied­lich akzen­tu­ierten Gestalten des einen Chris­ten­tums gab es von Anfang an. Sie können und müssen heute neu ins Gleich­ge­wicht gebracht werden. Dazu hilft uns das Tho­ma­sevan­ge­lium als "ein Evan­ge­lium ohne Kreuz".


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