Das Thomasevangelium
Kann es das geben? Ein Evangelium ohne Passions- und Ostergeschichten? Evangelien ohne Weihnachtsgeschichte gibt es im Neuen Testament gleich zwei: Markus und Johannes. Aber ein Jesus ohne Kreuzigungs- und Auferstehungsbericht? Ein solcher Jesus ohne Kreuz - wäre er für unsere Generation nicht hoch interessant, die mit der Vorstellung der Erlösung durch den Kreuzestod des Erlösers immer weniger anzufangen weiß? War doch seit dem Mittelalter bis heute das neutestamentliche "Wort vom Kreuz" meist missverstanden und fehlgedeutet worden - so als bräuchte Gott ein blutiges Opfer, um versöhnt zu werden.
In dem 1945 in Ägypten wieder entdeckten Thomasevangelium haben wir eine alte Form frühchristlicher Verkündigung aus dem ostsyrischen Raum vor uns. Sie enthält ausschließlich Aussprüche des Wanderers und Weisheitslehrers Jesus, nämlich seine Botschaft vom Reich des Vaters, das sich im Hier und Jetzt ereignet. Jeder Bezug auf "das heilige Kreuz, durch welches die Welt erlöst wurde", fehlt!
Es gibt ein ähnlich geartetes, ebenfalls aramäisches Spruchevangelium aus Westsyrien. Obwohl es selbst verloren gegangen ist, konnte die theologische Forschung seinen Inhalt rekonstruieren, indem sie jene Jesusworte zusammenstellte, die im Matthäus- und Lukasevangelium gleich lauten ("Spruchquelle Q"). Die Theorie besagt, dass Matthäus und Lukas beide das Markusevangelium und dieses verschollene Spruchevangelium als Vorlage benutzt haben, die sie dann jeweils mit ihrem jeweiligen "Sondergut" ergänzt haben. Aus Q stammen auch die Worte der Bergpredigt, die bei Markus nicht vorkommen. Das Markusevangelium selbst besteht zur Hälfte aus einer nach den Psalmen gestalteten Passionsgeschichte. Markus hat seinem Werk als erster die Überschrift "Evangelium" gegeben (Markus 1,1). Das ist ein Begriff der Kanzleisprache am römischen Kaiserhof, z. B. für eine Amnestie an Kaisers Geburtstag: eine "Gute Nachricht".
Das Thomasevangelium nun besteht aus 114 ursprünglich aramäisch überlieferten Jesusworten ("Logien"). Etwa Dreiviertel davon entsprechen Jesusworten, die sich auch in den ersten drei Evangelien, also bei den "Synoptikern" Matthäus, Markus und Lukas finden. Bei Thomas scheint jedoch eine zum Teil ältere und ursprünglicher klingende Fassung überliefert zu werden. Es war für mich ein ergreifender Moment, als ich im Januar 2008 im neuen koptischen Museum in Kairo vor der Vitrine mit der ersten Seite der koptischen Abschrift dieses Evangeliums aus dem Jahre 350 stand. Diese Abschrift hatte ein Bauer 1945 entdeckt. Der Vorspruch lautet: "Dies sind die geheimen Worte, die Jesus der Lebendige sprach und die Didymus Judas Thomas aufgeschrieben hat". Die Worte des Thomasevangeliums kommen also aus dem Munde dessen, der "Jesus der Lebendige" genannt wird. Die Titel "Christus", "Herr" oder "Meister" sucht man bei Thomas vergeblich.
Jesus, der Lebendige: ist das etwa der authentische historische Jesus, den die Jesusforschung immer wieder zu finden hofft? Nein! Fragt doch der Engel am Grab auch uns: "Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?" Der Lebendige ist der, von dem Lukas in Apostelgeschichte 1 sagt: "Jesus zeigte sich nach seinem Leiden durch viele Zeichen als der Lebendige und ließ sich 40 Tage lang unter ihnen sehen und redete mit ihnen über das Reich Gottes". Genau das tut Jesus im Thomasevangelium: Er redet nicht über sein Leiden, Sterben und Auferstehen, sondern über "das Königreich des Vaters". Zu Thomas - und durch ihn zu uns Heutigen! - spricht also Jesus ähnlich wie in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums als der für immer Lebendige, der ewig Gegenwärtige. Er sagt kein Wort von einem Opfer- oder gar Sühnetod zur Erlösung von Sünde, Tod und Teufel. Er sagt nichts von einer ewigen Seelen-Seligkeit oder ewigen Seelen-Verdammnis nach dem Tod. Aber er sagt alles über eine hier und jetzt beginnende Verwandlung und Transformation des (natürlichen und auch des religiösen!) Menschen in einen Jünger oder eine (ausdrücklich den Männern gleichgestellte und ebenbürtige) Jüngerin. Der Schüler/die Schülerin "trinkt" in der Nachfolge Jesu unmittelbar "aus dem Munde des Lebendigen" - und "wird wie ich sein, und ich, ich werde wie er/sie sein" (Logion 108) - also eine Art Spiegelbild oder "Zwilling" Jesu! Im Thomasavengelium verwandelt sich Thomas der Zweifler in Thomas den Zwilling! Der Jünger wird analog zu Jesus zum Sohn, die Jüngerin zur Tochter des Vaters.
Am Anfang der Nachfolge verstehen die Jünger im Thomasevangelium alles falsch. Sie stellen die falschen Fragen, weil sie noch einer gesetzlichen Frömmigkeit verhaftet und verpflichtet sind ("Sollen wir fasten?"). Aber es geht Jesus dem Lebendigen nicht um eine Gehorsamsbeziehung, sondern um eine partnerschaftliche Beziehung, nicht um eine dualistische Religion, die einen unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch behauptet und aufrichtet, sondern um eine Einheitserfahrung, um die Mystik der Vereinigung. Adam soll wieder zum Lichtwesen werden. Es geht dem Jesus des Thomasevangeliums nicht um ein Glauben an das Unsichtbare (anders als dem Johannesevangelium: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!"). Es geht ihm ganz im Gegenteil um ein Sehen und Schmecken des Allgegenwärtigen. Es geht ihm nicht um eine Dogmatik (richtige Lehre), sondern um eine Gnosis (Erkenntnis aufgrund von Erfahrung).
Das erste Logion gleich nach dem Vorsprach lautet: "Und er, der Lebendige, sprach: Wer die Bedeutung dieser Worte (dieThomas aufgeschrieben hat) findet, wird den Tod nicht schmecken." Und wann und wo finden und sehen wir diesen lebendigen Jesus? "Wenn ihr euch ohne Scham entkleidet, wie es die kleinen Kinder tun" (Logion 37). Kleider ablegen bedeutet bei Thomas vor allem, die "Bilder" ablegen. Gemeint sind damit unsere Ansprüche, wie das Leben zu sein hat, unsere falschen Wünsche, die Titel und Rollen, unsere gewohnten Reaktionsmuster, unsere gesamte gewordene Persönlichkeit samt ihrer Verdrängungsmechanismen, mit denen wir uns vor unserem wahren Sein, vor dem wirklichen Leben, vor dem "lebendigen Vater" drücken und verstecken. Alle großen Mysterien des Lebens erfahren wir ja buchstäblich nackt: die Geburt, die Taufe, die Hochzeit, den Tod. Der Märtyrer Bonhoeffer starb wie Jesus bar aller Kleider - ebenso der Mystiker Franz von Assisi.
Das alles geschieht bei Thomas ohne eine Theorie vom Kreuzopfer. Aber alles, was in dieser Art von Nachfolge geschieht, gleicht einem Sterben des natürlichen Menschen und einem Auferstehen des Lichtmenschen. Nicht irgendwann dort und dann im Jenseits, sondern hier und jetzt im erwachten Bewusstsein des allzeit gegenwärtigen Reiches Gottes. Schon Dietrich Bonhoeffer hat betont: Das Christentum ist keine Erlösungsreligion am Rande und Ende des Lebens, welches die Jenseitsfragen lösen will. Der Nachfolge- und Umwandlungsprozess geschieht konkret in der Mitte der Welt. "Mitten im Diesseits jenseitig sein" nennt Bonhoeffer das. Und umgekehrt: "Das Jenseitige ist nur für das Diesseitige da!"
Aber auch der "thomasinische Jesus" weiß etwas vom Leiden und Sterben als wesentlicher transformativer menschlicher und geistlicher Erfahrung: "Selig der Mensch, der gelitten hat. Er hat das Leben gefunden" (Logion 58). Oder: "Wer Vater, Mutter und Geschwister nicht verachtet (sondern zwischen sich und den wahren Vater treten lässt), kann nicht mein Jünger sein. Und wer sein Kreuz nicht trägt, wie ich es trage, wird meiner nicht würdig sein" (Logion 55). Das ist die einzige Erwähnung des Kreuzes im Thomasevangelium! Einen Spezialkult um das Kreuz Jesu, der über das Kreuz der Nachfolge hinausgeht, will der lebendige Jesus des Thomasevangeliums nicht.
Der christliche Glaube ist ein Glaube an den lebendigen, den verklärten Jesus hier und jetzt. Das christliche Mahl ist keine Gedenkfeier für den Gekreuzigten ("Tut dies zu meinem Gedächtnis!"), sondern recht verstanden eine Feier der Vergegenwärtigung des österlichen, des kosmischen Christus. Brot ist ein Symbol des Lebens. Blut ist ebenfalls ein Symbol für das Leben. In einem Doppelritual bekommen wir zweimal Anteil am lebendigen Leib und am Leben des Auferstandenen. So kommunizieren wir real und personal mit ihm, dem Lebendigen, in der Gegenwart des Reiches des Vaters.
In Logion 60 fragt Jesus seine Jünger, als sie einen Mann mit einem Lamm auf den Schultern sehen: "Was wird er mit dem Lamm machen?" Sie sagen: "Es töten und essen." Er sagt zu ihnen: "Solange es lebt, wird er es nicht essen können." Offenbar meint er damit: Erst wenn ich einmal nicht mehr irdisch bei euch bin, werdet ihr mich wirklich (geistlich) schmecken können in einer Weise, dass ich in euch übergehe und ihr in mich. Ähnlich sagt es der johanneische Jesus in seinen Abschiedsreden: "Es ist gut für euch, dass ich zum Vater gehe, sonst käme der Tröster, mein Heiliger Geist, nicht zu euch" (Joh. 16,7). Das alles aber ist überhaupt keine Opfersprache. Es ist Pfingstsprache.
Religionsgeschichtlich betrachtet ist die christliche Religion ursprünglich keine Erlösungs- und Mysterienreligion, sondern die Weisheitslehre eines großen spirituellen Meisters, der selbst transformiert war und seine Schüler und Schülerinnen zu "Kindern des Lichtes" transformiert und "wie Schafe unter die Wölfe" in die Finsternis der Welt zur Transformierung der Welt schickt. Der Abschied nehmende Jesus sagt zu ihnen in Matthäus 28: "Nun geht hin in alle Welt und macht Menschen in allen Völkern zu meinen Schülern!" Wie soll das geschehen? Auf zwei Weisen: 1. "…indem ihr sie in den Tauftod und die Taufauferstehung einladet". Und 2. "…indem ihr sie lehrt, wie man praktiziert und so festhält an allem, was ich euch in meinen Reden aufgetragen habe." Dabei sind die großen Reden Jesu gemeint, insbesondere die Bergpredigt mit den Seligpreisungen (Matth. 5-7), die Seepredigt mit den Gleichnissen vom Sämann, vom Unkraut, vom Schatz im Acker (Matth. 13), die Gemeinderegel mit ihrem Vergebungs- und Versöhnungsappell (Matth. 18), die große Pharisäerschelte (Matth. 23) und die Endzeitrede (Matth. 25).
Man kann sich wundern, weshalb die Kirche eine religiöse Kultinstitution wurde, die sich extern von den herrschenden Mächten sanktionieren ließ, intern jedoch nicht die Lehre Jesu lehrte, wie sie zum Beispiel in der Bergpredigt oder in den Reich-Gottes-Gleichnissen überliefert ist. Vielmehr lehrte sie eine Christusdogmatik, die nicht die Botschaft Jesu, sondern das Geheimnis seiner Person zum Hauptinhalt hat. Das alte christliche Taufbekenntnis, das "Apostolikum", weiß von Jesus nur "empfangen, geboren, gelitten, gekreuzigt, hinabgefahren, auferstanden, aufgefahren, wiederkommend, richtend". Außer den historischen Eckdaten "Maria" und "Pontius Pilatus" sind alle sogenannten Heilstatsachen aus der altägyptischen Religion übernommen: Jungfrauengeburt, Tod und Auferstehung, Totenauferstehung, Weltgericht.
Das ist zwar für die Jesusbewegung ein hilfreiches, ja zentrales Deutungsmuster geworden, um das Geheimnis Jesu des Lebendigen zu bekennen. Aber ich möchte doch den ursprünglichen Geist der Jesusbewegung gerade für unser heutiges Leben wieder in den Mittelpunkt stellen: die von den Aposteln (inklusive Thomas) überlieferten Worte der Botschaft Jesu vom angebrochenen Reich des Vaters, von der den Menschen transformierenden Nachfolge ins Licht, von der Bergpredigt als revolutionärem Lebensstil. Wir brauchen wieder einen ungeheueren Bewusstseinsschub von der institutionalisierten und dogmatisierten Religion zur Weisheit Jesu, vom Aberglauben zum Licht, vom angepassten zum alternativen Lebensstil.
Diese zwei unterschiedlich akzentuierten Gestalten des einen Christentums gab es von Anfang an. Sie können und müssen heute neu ins Gleichgewicht gebracht werden. Dazu hilft uns das Thomasevangelium als "ein Evangelium ohne Kreuz".
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