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Von Jan Fleischhauer
Eines der nachhaltigsten Reformvorhaben der Nachkriegsgeschichte, dessen Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein nie seinen angemessen Platz fand, ist die grundlegende Modernisierung des Strafrechts. Die im Epochenjahr 1969 von der ersten sozialliberalen Koalition ausgelöste Generalüberholung hat die Strafzumessung in Deutschland tiefgreifend verändert.
Die Zahl der Menschen, die wegen schwerer Vergehen ihre Freiheit einbüßten, ging schlagartig und dauerhaft zurück. Wurden 1968, also ein Jahr vor Beginn der Reform, 172.000 Straftäter zu Gefängnis verurteilt, sind es seitdem, mit geringen Schwankungen, nur noch knapp 70.000 im Jahr. Ein schöner Humanisierungseffekt, der sich allerdings nicht der gewachsenen Gesetzestreue der Deutschen verdankt, sondern ausschließlich der gestiegenen Milde der Gerichte.
Den Enthusiasmus der Praktiker für die Strafzurückhaltung haben die Bürger nie wirklich geteilt. Im gemeinen Volk hält sich bis heute hartnäckig die Vorstellung, dass dem Verbrechen eine Vergeltung folgen sollte. Dieses Verlangen flammt bei Gelegenheit immer wieder auf, so sehr sich die Experten auch mühen, die Vorzüge des Vergeltungsverzichts zu preisen. In der vergangenen Wochen waren es die Gewaltbilder aus einem U-Bahnhof in Berlin, die viele nach einer entschiedeneren Aburteilung rufen ließen, in diesem Fall durch die Entscheidung des zuständigen Haftrichters befördert, den Delinquenten sofort wieder auf freien Fuß zu setzen.
Das Problem ist dabei gar nicht so sehr die Haftverschonung für den jugendlichen Exzesstäter - auch wenn man Zweifel haben kann, ob die Verhältnisse bei einem 18-Jährigen, der mal eben einen Passanten auf einem U-Bahnhof fast zu Tode tritt, wirklich so "geordnet" sind, wie die Berliner Staatsanwaltschaft dem Abiturienten nach der erste Anhörung sogleich bescheinigte. Das Problem ist eine Justiz, die weitgehend von Strafen absieht, die von den Tätern und, vielleicht wichtiger noch, auch den Opfern als solche empfunden werden.
Besserung des Übeltäters?
Wer heute seiner Gewaltneigung freien Lauf lässt, wobei die Anlässe meist völlig nichtig sind, kann darauf vertrauen, dass sein Leben keine empfindliche Störung durch den Sanktionsapparat erfährt. Selbst in Fällen, in denen der Tod oder zumindest eine schwere Behinderung des Zufallsopfers in Kauf genommen wird, steht am Ende in der Regel eine Bewährungsstrafe, verbunden mit der Auflage, einige Stunden in einem Altenheim soziale Dienste zu verrichten oder beim örtlichen Gartenamt auszuhelfen.
Wir haben uns angewöhnt, Strafe als pädagogische Maßnahme zu sehen. Weil im Vordergrund des modernen Strafrechts, wie es sich nach 1969 durchgesetzt hat, die Resozialisierung, also Besserung des Übeltäters, steht, misstrauen die Experten dem Gefängnis, das ja von seinem Wesen her noch immer weniger Therapie- denn Strafanstalt ist. So laufen alle Argumente gegen "Warnschussarrest", den die Bundesregierung nun als Reaktion auf die Berliner Vorfall durchsetzen will, auch darauf hinaus, die sozialpädagogisch bedenklichen Wirkungen des kurzfristigen Freiheitsentzuges herauszustellen. "Wenn jugendliche Gewalttäter ins Gefängnis müssen, kommen sie meistens nicht besser raus", erklärte der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele folgerichtig die Ablehnung seiner Partei.
Strafe soll Gewalt sein
In den Hintergrund getreten ist dabei die Idee, dass Strafe Gewalt ist, ja ursprünglich auch sein soll. Sie vergilt das Übel grob asozialen Verhaltens mit einem anderen Übel. Oder wie es bei Karl Binding, einem der Hauptvertreter der bis 1969 gültigen Gerechtigkeitstheorie, heißt:
"Der Zweck der Strafe kann also nicht sein, den Rebellen gegen die Rechtsordnung in einen braven Bürger zu verwandeln… (Die Strafe soll) nicht heilen, sondern dem Sträfling eine Wunde schlagen."
Vor allem bei den Opfern von Straftaten und ihren Angehörigen überwiegt allen Strafrechtsreformen zum Trotz der Wunsch, den Täter leiden zu sehen für das, was er ihnen angetan hat. Sie erwarten von den Vollzugsorganen, ihnen eine Genugtuung zu verschaffen, die sie sich selbst nicht verschaffen dürfen. Ganz unberechtigt ist diese Erwartung nicht: Das Gewaltmonopol des Staates gründet schließlich ganz wesentlich auf dem Versprechen, im Schadensfall nicht nur Appellationsstelle, sondern auch Satisfaktionsinstanz zu sein.
Der doppelte Nachteil des braven Bürgers
Selbst aufgeklärten Menschen kommen mitunter Zweifel, ob wir es mit dem Verständnis für die Täter nicht zu weit getrieben haben - das gilt spätestens, wenn sie selbst zum Opfer einer Gewalttat geworden sind. In einer beeindruckenden Reportage hat die "Zeit"-Redakteurin Susanne Leinemann kürzlich über einen Überfall berichtet, bei dem sie nur knapp mit dem Leben davonkam.
Drei jugendliche Schläger hatten ihr auf dem Nachhauseweg aufgelauert und sie mit der Sprosse eines Treppengeländers so zugerichtet, dass sie sich in einer Blutlache wiederfand. "Dabei sind alle drei das Produkt von lauter gut gemeinten Absichten - einer weitverzweigten Sozial- und Therapieindustrie, von Sozialpädagogen, Psychotherapeuten, Erziehern, Angestellten der Jugendämter", wie Leinemann anschließend schrieb. "Wenn ich ihre Geschichte erzähle, dann weil ich am eigenen Leib erfahren musste, dass im weiten, von der Öffentlichkeit blickdicht abgeschotteten Feld der Heimerziehung und Intensivpädagogik etwas furchtbar schiefläuft".
Man kann nur froh sein, dass sich der Vergeltungswunsch derer, denen der Staat keine Satisfaktion mehr gewährt, nicht öfter außerhalb der vorgeschriebenen Verfahrenswege Bahn bricht. Der Rechtsfriede hält auch deshalb, weil der Staat auf die Aggressionshemmung der Geschädigten vertrauen kann, die sich schon beim ersten Mal nicht wehren konnten. Es ist die Gesetzestreue, die den braven Bürger von seinem Peiniger unterscheidet.
Wie die Dinge liegen, setzt ihn diese Treue im modernen Strafverfahren ein zweites Mal in Nachteil.
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