Dienstag, 9. Oktober 2012

Fremdkörper oder Wurzel: Christentum in Europa

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(gekürzte Fassung der Rede von Kardinal Christoph Schönborn zum Michaelsempfang am 12. September 2012 in Berlin)

Sehr geehrte Damen und Herren!
Haben wir eine große Zukunft vor uns? Wir, die Europäer, die Europäische Union? Sind die Zeichen nicht auf Sturm, auf Krise? Wird das europäische Integrationsprojekt den Spannungen standhalten, denen es schon jetzt ausgesetzt ist und die wohl noch stärker werden? Sie werden von mir sicher keine Antwort auf die Fragen erwarten. Ich versuche vielmehr, Ihnen einige Gedanken zum Verhältnis zwischen dem Christentum und dem europäischen Projekt vorzulegen. 
Könnte nicht schon bald der Zeitpunkt kommen, da die europäische Gesellschaft in ihrer Mehrheit den Christen sagt: Eure Werte sind nicht unsere. Ihr gehört nicht zu uns! Ist das Christentum im säkularen Europa inzwischen zum Fremdkörper geworden? Jenes Christentum, das doch offensichtlich eine der tragenden Wurzeln der europäischen Identität war – oder noch immer ist? Zunehmend empfinden sich Christen, die ihr Christentum ernstnehmen, marginalisiert. Ja zum Teil sogar diskriminiert. Die OSZE mit Sitz in Wien hat eine eigene Stelle errichtet, die in den Ländern der OSZE Diskriminierung von Christen beobachtet und registriert. Sie hat zu tun! 
In immer mehr Bereichen geht der „mainstream“ in eine andere Richtung als das Christentum. Überblicken wir die letzten 40 Jahre, dann erscheint mir die Feststellung unausweichlich: das Christentum wird immer marginaler. Ich sage das nüchtern diagnostisch. Als in Österreich 1974 die sozialistische Alleinregierung unter Bruno Kreisky daranging, die Abtreibung weitgehend straffrei zu stellen, gab es intensive Debatten, die auch zu einer Abstimmung im Parlament und einem Volksbegehren führten. Auf die Frage eines Journalisten, ob er sich nicht vorstellen könnte, dass es in Österreich Menschen geben, die mit der sogenannten „Fristenlösung“ Schwierigkeiten haben werden, antwortete er: „Ich kann mir vorstellen, dass sehr, sehr religiöse Menschen damit Schwierigkeiten haben könnten“. Das klang so, als wären diese Menschen „sehr, sehr“ seltsam. Es muss nicht sein, dass Kreisky das damals verächtlich meinte. Es war es dennoch allemal. Die Abstimmung ging extrem knapp aus: 93 zu 88 Stimmen für die Fristenregelung. Ein Volksbegehren zum „Schutz des Lebens“ erhielt große Unterstützung, blieb aber wirkungslos. Und bis heute hat es keine österreichische Regierung zustande gebracht, alle damals versprochenen „flankierenden Maßnahmen“ zu beschließen, die den Lebensschutz verbessern sollten.
Viel tragischer aber ist m. E., dass für Kreisky der Widerstand gegen die Fristenregelung vor allem bei „sehr, sehr religiösen Menschen“ geortet wurde. Der vor allem kirchliche, christliche Widerstand, angeführt von Kardinal Franz König, war aber nicht primär religiös begründet, auch wenn er stark religiös motiviert war. Es ging vielmehr um die Anerkennung und den gesetzlichen Schutz des menschlichen Lebens, also um elementares Menschenrecht. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag (22. September 2011) genau darauf hingewiesen. Woran liegt es, dass sich, wie der Papst sagte, „im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen“ hat? „Der Gedanke des Naturrechts gilt heute“, so sagte er weiter, „als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raumes zu diskutieren nicht lohnen würde, sodass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen“.
Seit den Siebzigerjahren ist die Entwicklung konsequent in dieselbe Richtung weitergegangen. Nach der rechtlichen „Freigabe“ des Lebensanfangs kam unausweichlich die des Lebensendes. Die Euthanasiedebatte erfasst mit unerbittlicher Konsequenz immer mehr Länder Europas. Österreich ist (noch?) in der glücklichen Lage, dass es einen Allparteienkonsens gegen die Euthanasie und für die Hospizbewegung zur Sterbebegleitung gibt. Hier verdanken wir viel dem kräftigen Zeugnis von Kardinal König, der wenige Wochen vor seinem Tod den Satz geprägt hat: „Menschen sollen an der Hand eines anderen Menschen sterben, und nicht durch die Hand eines anderen Menschen“. Wie lange wird dieser Konsens in Österreich dem Druck des europäischen Mainstreams standhalten?
Ist in dieser seither scheinbar unaufhaltbaren, unumkehrbaren Entwicklung das Christentum in Europa, von einem Nachhutgefecht zum anderen, auf unaufhaltsamen Rückzug? Immer mehr erleben sich engagierte Christen als Minderheit. In den diversen Ethikkommissionen figurieren sie mit ihren Positionen meist „unter ferner liefen“.
Ich glaube, wir haben noch zu wenig reflektiert, was diese Marginalisierung für die christliche Identität im heutigen säkularen Europa bedeutet. Wie weit kann der politische Kompromiss gehen, der sich bei der Gesetzgebung der parlamentarischen Mehrheit beugt? Sicher sind viele Gesetzesmaterien kompromissfähig. Papst Benedikt hat im Bundestag aber darauf hingewiesen, „dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht“.
Dann ist die Versuchung naheliegend, sich, wie Paulus warnend sagt, „dieser Welt anzugleichen“ (Röm 12,2). Dann fehlt die Kraft zum Widerstand, der Mut zur Alternative. Der Versuch, den „christlichen Werten“ im Kanon der säkularen Gesellschaft Raum zu geben, scheitert meist schon daran, dass vieles in der Kirche schon soweit säkularisiert ist, dass es profillos und kaum zu unterscheiden ist. Dann „Wenn das Salz schal wird, taugt es zu nichts mehr“, hat Jesus gesagt (Mt 5,13). Das vieldiskutierte Wort Papst Benedikts von der „Entweltlichung“ ist das Gegenstück zur „Verweltlichung“ der Kirche.
Paradoxerweise ist eine „entweltlichte“ Kirche besser geeignet, weltoffen zu sein, wie es das Konzil wollte: „Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selber zu führen“, indem sie sie zu Gott führt. 
Diese „Entweltlichung“ meint sicher nicht den Rückzug aus allen institutionellen, wohl aber ein Freierwerden für das Eigentliche des Christentums, das Evangelium und seine Bezeugung. Gerade in der säkularen Gesellschaft hat der Gläubige die Freiheit, seine Überzeugung ins Spiel zu bringen. Er darf nur nicht wehleidig sein, und auch nicht prätentiös. 
Doch mehr als alle Worte spricht die Tat. Vielleicht müssen wir Christen mehr darauf vertrauen, dass die selbstlose, interessensfreie Tat des Glaubens oft mehr bewirkt als alle noch so wichtigen gesetzgeberischen Maßnahmen. Kaum jemand hat in den letzten Jahrzehnten mehr überzeugt als Mutter Teresa von Kalkutta. In der so schmerzlichen Auseinandersetzung um den Lebensschutz hat sie die einzig überzeugende Antwort gefunden: „Tötet sie nicht! Gebt sie mir!“
Fremdkörper oder Wurzel Europas: das Christentum. Ist nicht in so mancher säkularen Kritik am Christentum auch ein Stück Sehnsucht verborgen, es möge doch so etwas wie ein authentisches, gelebtes Christentum geben? Insgeheim wissen wir wohl, ob säkular oder gläubig, dass hier die tragfähigen Wurzeln Europas liegen. Nahe kommen wir dem fremdgewordenen Christentum freilich nur um einen Preis: die eigene Bekehrung. Und die ist ein lebenslanger Prozess.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 




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