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"Toa" statt "Tor": Viele Grundschüler lernen mit einer Methode Lesen und Schreiben, bei der auf Regeln verzichtet wird. Pädagogen warnen.
Erst gut einen Monat ist es her, dass die sechsjährige Marie eingeschult wurde. Doch schon nach der dritten Woche führte das Berliner Mädchen stolz vor, was sie schon schreiben kann: „Toa“ und „Rat“ zum Beispiel. Richtig so, lobte die Lehrerin.
Maries Eltern sind ratlos. Sie wissen, dass es korrekt „Tor“ und „Rad“ heißen müsste. Ihrer Tochter dürfen sie das aber nicht sagen. Was er dem Kind antworten solle, wenn es frage, ob das Wort so richtig sei, wollte am ersten Elternabend ein besorgter Vater wissen. Die Antwort der Lehrerin: Er solle dies bejahen - oder „ausweichend“ beantworten.
„Lesen durch Schreiben“ heißt die Methode, mit der nicht nur viele Grundschüler in Berlin besser Schreiben und Lesen lernen sollten. Sie geht auf den 2009 verstorbenen Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen zurück, der das Konzept Anfang der 70er-Jahre entwickelte und zunächst in der Schweiz erprobte. Die Kinder lernen dabei, zunächst so zu schreiben wie sie sprechen.
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Statt per Fibel Buchstabe für Buchstabe zu lernen und diese dann zusammenzusetzen, nutzen sie dafür eine Anlauttabelle. Ein Wort wird in Laute zerlegt; die Kinder suchen auf der Tabelle anhand von Bildern die ihnen passend erscheinenden Buchstaben und setzen das Wort selbst zusammen.
Aus „Die Schule fängt an“ wird da schnell: Die Schule „fenkt“ an. Korrigiert werden die Kinder von den Lehrern gar nicht oder nur, indem diese gelegentlich das korrekte Wort daneben schreiben.
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Mehr Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche
Maries Mutter Nina Riefke (Name geändert), Referatsleiterin in einer Bundesbehörde, graut schon jetzt vor dem Moment, wenn ihre Tochter die korrekte Rechtschreibung anwenden muss. „Die Umstellung wird ihr schwerfallen“, fürchtet die 46-Jährige, die bereits einen 21 Jahre alten Sohn hat: „Wahrscheinlich werden wir das als Eltern dann noch intensiver begleiten müssen.“
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Seit 1995 wird Lesen durch Schreiben, kurz LdS, auch an deutschen Schulen verwendet. Seither hat sich die Methode rasant verbreitet, wird inzwischen in allen Bundesländern, wenngleich nicht an allen Schulen, verwendet. In Fachforen schwärmen Lehrer von den Erfolgen, die sie mit dem Konzept hatten. Doch immer wieder warnen renommierte Pädagogen davor: Ihnen zufolge entbehrt die Methode jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und bringt mehr Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche hervor als das Lernen mit der Fibel.
Das legt auch die „Marburger Studie“ nahe, die 2005 die Effekte verschiedener Unterrichtsmethoden auf den Schriftspracherwerb bei Grundschülern untersuchte. Sie zeigte, dass in der Gruppe, die nach der Methode Rechtschreibwerkstatt von Sommer-Stumpenhorst unterricht wurden, einer Variation von LdS, der Anteil der Kinder mit Lese- und Schreibproblemen deutlich höher war als in zwei Kontrollgruppen.
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Nach einem Schuljahr lag der Anteil der rechtschreibschwachen Kinder in der LdS-Gruppe bei 16 Prozent, nach zwei Jahren sogar bei 23 Prozent. In der Vergleichsgruppe, in der mit der Fibel gelernt wurde, hatten nach dem ersten Schuljahr sechs Prozent der Schüler Probleme mit der Rechtschreibung, nach der zweiten Klasse sogar nur noch fünf Prozent.
Einer der schärfsten Kritiker von LdS ist Günter Jansen. Als die älteste Enkelin des pensionierten Lehrers und Fachleiters 2005 in einem kleinen Ort in der Eifel mit LdS Schreiben lernen sollte, war Jansen entsetzt. Er begann, akribisch alle Informationen über die Methode zu sammeln und in Form von „Elternbriefen“ auf einer Website aufzuschreiben. „Es gibt keinerlei empirische Grundlage über die Wirksamkeit dieser Methode“, sagt Jansen. Er bestreitet nicht, dass LdS-unterrichtete Schüler zunächst „verblüffende Lese- und Schreibleistungen“ zustande brächten. „Das sind aber nur Scheinerfolge“, sagt Jansen.
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"Eine Karriere als Schulversager"
Der Einbruch komme, wenn die Schüler sich auf die korrekte Rechtschreibung umstellen müssten. Meist ist das in der dritten Klasse der Fall. Weil LdS auch individuelle Rechtschreibeschwächen verdecke, hätten sich Probleme dann schon festgesetzt. „So wird bei vielen Kindern unreflektiert eine Karriere als Schulversager angebahnt.“
Warum sich die Methode dennoch verbreitet, dafür hat Jansen eine einfache Erklärung: „Da sind die Lobbyisten der Verlage am Werk, die mit neuem kostspieligem Unterrichtsmaterial natürlich besser verdienen als nur mit dem traditionellen.“ Auch seien nicht wenige Professoren an der Verbreitung von LdS interessiert, weil sie inzwischen selbst für Verlage Materialen entwickelt hätten oder für diese bei der Herausgabe entsprechender Lehrerwerke als „wissenschaftliche Berater“ tätig seien.
Jansen investiert täglich mehrere Stunden Arbeit in die Website, die inzwischen über 10.000 Mal pro Monat angeklickt wird. Um auf dem neuesten Stand zu sein, hat er mehrere Tausend Euro in aktuelles Lehrmaterial und wissenschaftliche Neupublikationen investiert.
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Er hat ein Ziel: darauf aufmerksam zu machen, dass es mit der Rechtschreibung, nicht zuletzt dank der vielen „modernen“ Reformpädagogikansätze immer weiter bergab geht. Immerhin: Als seine jüngere Enkeltochter eingeschult wurde, musste sich der Pädagoge keine Sorgen mehr machen. Die Schule hatte die Methode wieder abgeschafft.
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Günter Jansen steht mit seiner Kritik nicht allein. In Internetforen bringen betroffene Eltern ihren Zorn und ihre Verunsicherung zum Ausdruck. „Ich bin sehr enttäuscht und wütend“, schreibt „Dornröschen 2868“ im Forum der Website des Rechtschreibwerkstatt-Erfinders Norbert Sommer-Stumpenhorst. Ihr Sohn habe mit Sommer-Stumpenhorsts Methode gelernt. Nun sei er in der dritten Klasse und könne damit nicht umgehen, dass das, was vorher richtig war, plötzlich falsch ist: „Er ist total durcheinander.“
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"Er benötige nun teuer bezahlte Nachhilfestunden"
Auch sei vor einem halben Jahr bei ihm eine Lese-Rechtschreib-Schwäche diagnostiziert worden. Er benötige nun teuer bezahlte Nachhilfestunden. „Ich bin mir sicher, dass viele der Probleme meines Sohnes auf Ihre Rechtschreibwerkstatt zurückzuführen sind“, schreibt die Mutter empört. „Bei der Auswahl der nächsten Grundschule werde ich mir schriftlich zusichern lassen, dass diese nicht nach Ihrem Konzept arbeitet.“
Monika Krahl kann die Kritik nicht nachvollziehen. Frustriert von den sich wiederholenden Lernproblemen ihrer Schüler, stieß die Grundschulpädagogin auf der Suche nach alternativen Lehrmethoden 1994 auf LdS. Vier Jahre später führte Krahl, Vize-Rektorin einer Grundschule im schwäbischen Horb, die Methode auch an ihrer Schule ein. 13 Jahre später ist sie immer noch davon begeistert. „Die Kindern lernen mit einer ganz anderen Freude das Schreiben, jeder kann nach seinem eigenen Tempo lernen, der Erfolgsdruck der Fibel, bestimmte Buchstaben in einer bestimmten Zeit zu schaffen, ist weg“, sagt sie.
Die fehlende wissenschaftliche Absicherung der Methode stört Monika Krahl nicht; ihr reicht die Erfahrung, dass ihre Schüler seither besser lesen und schreiben lernen. Angesichts dieser Erfolge seien selbst die anfangs sehr kritischen Eltern schnell „Fans“ des Konzepts geworden.
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In „Reinform“ wird das Konzept von Jürgen Reichen allerdings nur selten unterrichtet. Wenn Lehrer seinen Ansatz nutzen, kombinieren sie ihn, wie Monika Krahl, oft mit anderen Methoden und Materialen. Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Potsdam, hält das Prinzip, Kinder zunächst über die Laute die Schriftsprache entdecken zu lassen, zwar für sinnvoll.
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Die Methode Reichen findet sie aber äußerst problematisch: „Der Ansatz ist einseitig, das Konzept nur für das erste Schuljahr angelegt“, sagt sie. „Außerdem wird der Prozess des Lesenlernens dabei nicht unterstützt.“ Vor allem leistungsschwache Schüler könnten bei dieser Methode häufiger Lese-Rechtschreib-Probleme bekommen als bei anderen Konzepten.
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"Fülle von Reformen"
Skeptisch sieht Schründer-Lenzen auch die „Fülle von Reformen“, mit der die Grundschulen derzeit überschwemmt werden. Dazu zählen das jahrgangsübergreifende Lernen oder die jüngste Entscheidung des Hamburger Senats, die Pflicht zur Erlernung der Schreibschrift abzuschaffen. „Es werden ganz viele Reformen eingeführt, ohne an den Schulen die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen, diese auch vernünftig umzusetzen“, so das Fazit von Schründer-Lenzen. Denn Reformen erforderten oft mehr Lehrer oder mehr Räume für eine intensivere Arbeit in Kleingruppen. Das aber können die meisten Schulen gar nicht leisten.
Im Fall von Hamburg bleibt nach Ansicht der Wissenschaftlerin offen, wie der sinnvolle Wiederholungseffekt, den das Einführen der Schreibschrift in der zweiten Klasse mit sich bringt, anderweitig aufgefangen werden kann. „Gerade für die vielen Migrantenkinder in den Hamburger Grundschulen sind solche ‚Übungsschleifen‘ eine gute Gelegenheit, um besser Deutsch zu lernen.“
Grundsätzlich gibt Schründer-Lenzen beim Schreiben- und Lesenlernen allerdings Entwarnung. Die Forschung zeige, dass die nach dem Reichen-Konzept unterrichteten Kinder nach der ersten Klasse die schlechtesten Leistungen zeigten, bis zum Ende des vierten Schuljahrs in der Regel aber wieder aufgeholt hätten. „Ein normal entwickeltes Kind lernt lesen und schreiben - egal, wie es unterrichtet wurde“, sagt Schründer-Lenzen: „Kinder sind da einfach methodenresistent.“
Jani's Anmerkung:
Ist Deutschland auf den Weg in einen Bildungsnotstand? Oder sind wir bereits mittendrin? - Wir sind mittendrin! Denn nicht kluge Menschen entscheiden, was richtig ist, sondern die Lobbyisten. Und denen geht es bekanntlich nicht um Menschen, sondern um ihr Konto.
Allerdings versteh ich auch die Eltern nicht. Gut, wir haben natürlich bei der Wahl der Grundschule keine Wahl. Aber trotzdem. Das Sorgerecht - Erziehungsrecht liegt bei den Eltern und nicht beim Staat. Mein Kind wird also erzogen, wie ich es für richtig halte und nicht, was Lobbyisten dem Staat erzählen.
Übrigens - wie sollen Legastheniker bei dieser Methode eine Chance haben? Es gibt doch immer noch ein Problem mit dem Erkennen dieser Lernschwäche an unseren Schulen.
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