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Die Demonstration koptischer Christen in Kairo wird zur blutigen Straßenschlacht – und stürzt Ägypten in die gefährlichste Krise seit dem Sturz von Hosni Mubarak
Feuerbänder erhellen das Nilufer, weiße Rauchschwaden wabern über das Pflaster, Steine prasseln, dazwischen fallen vereinzelt Schüsse. Von Weitem schon hört man Schreie und Kampfgeheul. Einzelne taumeln in die dunklen Seitenstraßen, halten sich die blutenden Köpfe, während hinter ihnen durch Tränengaswolken die nächste Angriffswelle Knüppel schwingender Horden rollt. Am Ende sind 26 Menschen tot und gut 200 verletzt. Kairo erlebte in der Nacht von Sonntag zu Montag die schlimmste Gewalt seit dem Sturz von Hosni Mubarak. Die Straßenkämpfe stürzen das postrevolutionäre Ägypten in seine bisher gefährlichste Krise, die Gewalt könnte sich nun im ganzen Land ausbreiten. Für die zweite Nachthälfte verhängte der Oberste Militärrat eine Ausgangssperre. Am Morgen darauf eilten Übergangsregierung und Religionsführer von koptischen Christen und Muslimen zu Krisentreffen, während die Prügeleien vor einem Krankenhaus im Stadtzentrum ungehindert weitergingen, in dem viele der überwiegend koptischen Verletzten liegen. Die Kurse an der Kairoer Börse gingen in den Sturzflug. Ob die für den 28. November angekündigten Parlamentswahlen überhaupt stattfinden können, weiß niemand.
Ebenso unklar ist bisher, was diese Eskalation auslöste, die ganz Ägypten „in Gefahr bringt“, wie es Übergangspremier Essam Sharaf auf seiner Facebook-Seite formulierte. „Vandalische Kräfte“ wollten Chaos im Land säen und religiöse Spannungen schüren, sagte er später in einer Fernsehansprache. „Ich flehe alle Ägypter an, ob Muslime oder Christen, ob Alt oder Jung, ob Männer oder Frauen, bewahrt die Einheit unseres Landes.“ Auch zahlreiche europäische Regierungen reagierten alarmiert. Die Armee setzt eine eigene Untersuchungskommission ein.
Schon mehrmals hatten Kopten in der Vergangenheit auf der Nil-Corniche vor dem staatlichen Fernsehgebäude gegen Übergriffe von radikalen Muslimen und für ihre Rechte demonstriert. Auch am Sonntag waren wieder 2000 Gläubige mit Kreuzen und Jesusbildern aus dem Stadtteil Shobra, wo viele Christen wohnen, friedlich in die Innenstadt gezogen. „Tantawi, wo ist deine Armee? – Dies ist auch unser Land“, skandierten die Menschen, die sich von der Militärführung mit dem Feldmarschall an der Spitze nicht genug geschützt fühlen. So hatten vor anderthalb Wochen Salafisten im Dorf Marinab nahe der Stadt Edfu in Südägypten erneut eine Kirche in Brand gesteckt, die gerade renoviert und erweitert wurde. Im Dorf Sheik Fadl in der Provinz Minia war ein christliches Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen worden, weil es sich weigerte, ein Kopftuch zu tragen.
Als der Kairoer Protestzug in der Abenddämmerung das Nilufer erreichte, wo die Menschen zusammen mit ihren Geistlichen ein symbolisches Sit-in halten wollten, eskalierte die Gewalt. Das staatliche Fernsehen blies sofort in die Propaganda-Trompete. Kopten hätten auf Soldaten geschossen und drei von ihnen getötet, hieß es in ersten Meldungen am Abend. Die Armeeführung sprach laut CNN sogar von zwölf getöteten und 50 verletzten Soldaten. Mit dramatischem Tremolo in der Stimme forderte der TV-Sprecher die Bevölkerung auf, auf die Straße zu gehen und die Soldaten vor dem christlichen Mob zu schützen. Schließlich hatte man drei Tage zuvor im Gedenken an den Sieg „im glorreichen Oktoberkrieg 1973“ gegen Israel die patriotischen Gefühle mit Kranzniederlegung, Armeefest auf dem Tahrir-Platz und einer Parade von Kampfjets am Kairoer Himmel frisch aufgeladen.
Augenzeugen jedoch zeichneten ein deutlich anderes Bild von dem Ablauf der Geschehnisse. Ein Reporter von Al Dschasira berichtete, Banden von zwielichtigen Typen in Zivilkleidung hätten den Koptenzug sofort mit einem Steinhagel empfangen. Unbekannte eröffneten aus einem vorbeifahrenden Zivilauto heraus das Feuer auf die Demonstranten, andere hämmerten auf Straßenschilder ein und machten einen Höllenlärm. In dem anschließenden Getümmel raste dann ein Panzerspähwagen in die Menge, überrollte und tötete fünf Demonstranten. Fotos der grausam Zerquetschten kursieren inzwischen im Internet. „Ich sah den Kopf eines Mannes in zwei Hälften gespalten, ein zweiter war total platt gewalzt“, sagte Ahmed Yahia, ein Muslim, der seine Wohnung in unmittelbarer Nähe hat. Geistliche vor Ort berichteten der in London erscheinenden Zeitung „Al Hayat“, die Armee habe die koptischen Demonstranten vor dem staatlichen TV-Gebäude eingekreist und dann willkürlich auf sie geschossen. „Ich sah von meinem Fenster aus Menschen davonrennen, während die Soldaten wild in die Menge feuerten“, bestätigte ein Augenzeuge der BBC.
Nach diesen tödlichen Provokationen gab es für die rasende Menge keinen Halten mehr. Mehrere Soldaten wurden offenbar auf der Stelle totgeprügelt, wie Zeugen noch am Abend berichteten. Fernsehbilder zeigten einen koptischen Priester, der verzweifelt versuchte, einen Soldaten vor den eigenen Jugendlichen zu schützen. Der Truppentransporter war in Sekunden durch Molotow-Cocktails in eine brennende Fackel verwandelt, das Pflaster aufgerissen, sämtliche Autos im Umkreis des Hilton Ramses Hotels zertrümmert, ausgeraubt oder angezündet, während im Inneren die etwa 200 Gäste des halb gefüllten Hauses sich in die oberen Etagen flüchteten. Vier nachrückende grüne Lastwagen mit Bereitschaftspolizei wurden mit einem solchen Steinhagel empfangen, dass ihre Fahrer in Panik wendeten und in einer dichten Staubwolke wieder davonrasten.
Wer auf wen einprügelte, war den ganzen Abend nicht genau zu enträtseln. Immer wieder skandierten Demonstranten „Muslime und Christen gehen Hand in Hand“, sammelten sich zu Menschenketten vor den Dreierreihen der schwarzen Bereitschaftspolizei. Dann gab es plötzlich wieder einen Sturmangriff von Holzstangen schwingenden Menschen. Journalisten, die sich etwas notierten, wurden drohend umringt. „Ihr schreibt sowieso nur Schlechtes über Ägypten, dass es hier Straßenschlachten gibt“, schrie einer. „Wie würden Sie das hier denn nennen?“, nach dieser Gegenfrage dreht er schließlich bei und zieht mit seinem Eisenprügel von dannen. Andere Reporter vor Ort wurden als Juden beschimpft oder als Spione verdächtigt.
Wie dieser Schläger kommen auch viele andere erkennbar aus einfachen Verhältnissen, den Armenvierteln Kairos, wie dem nahe gelegenen Bulaq, sind arbeitslos oder einfach nur auf Randale aus. Die Hauptakteure jedoch sind offenbar ehemalige Regimeschläger in Zivil, die wissen, wie man provoziert, prügelt und auch schießt. 200 000 sind seit dem Sturz des Mubarak-Regimes ohne Job, so schätzt die Übergangsregierung, lungern auf den Straßen herum und trauern den alten Zeiten nach. Sie wollen Chaos stiften, offenbar in der Hoffnung, so eines Tages mal wieder gebraucht zu werden. „Die allermeisten Ägypter verabscheuen solche Gewalt“, sagt Muhammed Taha, der mit seinem tadellosen Nadelstreifenanzug und gelbem Schlips in dem Chaos wie ein Wesen von einem anderen Stern wirkt. „Wenn so etwas im Zentrum von Kairo passiert, dann trifft das Ägypten ins Herz“, sagt der 38-Jährige. Er arbeitet im Tourismus und weiß, was jetzt wieder kommt. Stornierungen über Stornierungen, weitere Entlassungen und noch mehr Aussichtslosigkeit – seit acht Monaten sind nun schon Hotels, Badestrände und Museen leer.
Aber auch immer mehr junge, gut ausgebildete Kopten kehren ihrer Heimat den Rücken. Mehr als 100 000 haben seit dem Sturz Mubaraks bereits das Land verlassen, bilanziert die „Egyptian Union for Human Rights“, weil sie sich von radikalen Muslimen immer stärker in die Enge gedrängt fühlen. Als im Mai ein salafistischer Mob im Armenviertel Imbaba von dem koptischen Ortspfarrer die Übergabe einer angeblich zum Islam konvertierten Christin forderte, standen am Ende zwei Großkirchen in Flammen. Zwölf Menschen starben, über 230 wurden bei den siebenstündigen Straßenschlachten verletzt.
In Alexandria, wo die Salafisten ihre Hochburg haben, treten die Ermittlungen nach dem Selbstmordattentat in der Neujahrsnacht weiter auf der Stelle. 21 Beter wurden damals vor der „Kirche der zwei Heiligen“ in den Tod gerissen, über 150 verletzt. Die Kirchenführung will nun per Gerichtsbeschluss erzwingen, dass sich die Polizei endlich Mühe gibt, den Täter zu identifizieren und die Hintermänner zu finden.
Die Salafisten-Bewegung in Kairo jedoch wies jegliche Mitschuld an dem jüngsten Gewaltausbruch weit von sich. Man verurteile, was geschehen sei, erklärte ein Sprecher, während nach Mitternacht eine kleine Schar seiner Miteiferer inmitten von Glassplittern, herausgerissenen Gehwegplatten und ausgebrannten Autos „Mit unserem Blut und unserer Seele, wir beschützen den Islam“ und „Ein islamischer Staat – bis zum Tod“ skandierte. Andere hieben zur selben Zeit in der Innenstadt – ungehindert von Polizei und Militär – auf Autos ein, in denen sie Christen vermuteten. {Quelle: www.tagesspiegel.de}
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