Deutsche Ideen, europäische Realitäten
von Gerd Held
Seit dem November 2015 stand ein Versprechen im Raum, auf das
sich viele Menschen in Deutschland, die die Politik der Grenzöffnung
nicht billigten und doch der Bundeskanzlerin die Treue halten wollten,
vertraut haben. Frau Merkel hatte zu diesem Zeitpunkt den Eindruck
erweckt, sie sei für eine Begrenzung der Migrationszahlen durch das
Mittel der Kontingentierung. Allerdings, so Merkel, müssten es auf jeden
Fall „europäische Kontingente“ sein. Das hatten viele Menschen
akzeptiert, weil auch ein Datum im Raum stand: Die Entscheidung sollte
auf einem EU-Gipfel Anfang 2016 gefasst werden. Damit schien endlich ein
greifbares Ziel gegeben. Man würde wissen, woran man ist. Merkel sagte
auch zu, eine Bilanz ihrer Grenzöffnungspolitik zu ziehen und mancher
wollte darin das Vorzeichen einer Korrektur erkennen. Merkel sei eben
doch eine pragmatische und lernfähige Politikerin, deren Langsamkeit
letztlich ein Zeichen von Führungsstärke sei - und dem Zusammenwachsen
Europas besonders dienlich. Unsere weltweise, vorausschauende Kanzlerin!
Doch nun ist alles ganz anders. Der EU-Gipfel vom 18./19. Februar,
der vielerorts zur „Stunde der Wahrheit“ erklärt worden war, behandelte
das Migrationsthema nur am Rande. Die Frage einer europäischen
zahlenmäßigen Begrenzung verschwand gleich ganz von der Tagesordnung. Um
diese Frage soll es auch auf dem nächsten Gipfel Anfang März nicht
gehen. Sie ist praktisch zum Tabu-Thema geworden. Dabei waren die
Vorgaben für die Festlegung einer Zuwanderungszahl (im Voraus für einen
bestimmten Zeitraum) da. Zahlreiche europäische Länder hatten eine
solche Zahl für das eigene Hoheitsgebiet schon festgelegt, zuletzt
Österreich und Frankreich. Frankreich hatte auch schon klargemacht, dass
„Kontingent“ nicht heißen kann, dass man die Hunderttausende von
Migranten, die die deutsche Politik angelockt hatte, nun europaweit
umverteilt. Souveränität existiert nur als Vorgabe und nicht als
nachsorgende Problemverwaltung. Eine Verteilungsquote würde keine
Grenzen setzen – sie wäre alles andere als eine Deckelung der
Zuwanderung.
Um die aber geht es den Menschen in Europa und auch in Deutschland.
Die einzige Vorgabe, die für einen europaweiten Begrenzungsbeschluss
fehlt, ist der deutsche Beitrag. Doch nun hat sich gezeigt, dass das
Versprechen einer europäischen Begrenzung eine Irreführung der
Öffentlichkeit war. Merkel hat die Vorgaben der anderen europäischen
Länder nicht aufgegriffen, sondern als „Alleingänge“ kritisiert.
Gleichzeitig hat sie bekräftigt, dass sie von ihren Entscheidungen zur
Öffnung der deutschen Bundesgrenze, mit der Deutschland in Europa
tatsächlich allein dasteht, nicht korrigieren will. So deutlich standen
sich deutsche Ideen und europäische Realitäten selten gegenüber.
Auf dem EU-Gipfel wurde, mit hilfreicher Assistenz von Junckers
Kommission, der politische Einsatz, um den es eigentlich geht, – unter
eifriger Beschwörung des „Gemeinsam handeln“ – verwässert. Es gehe um
„eine Verbesserung der Kontrolle an den Außengrenzen der EU“ laute nun
die Formel. Das ist natürlich etwas ganz Anderes als ein messbares
Begrenzungsresultat. Als „Verbesserung“ kann man alles Mögliche
verbuchen. Selbst wenn die Zahl der Grenzübertritte noch steigt, weil
die Grenzmaßnahmen mit dem Druck nicht Schritt halten, kann man trotzdem
sagen, man habe „Fortschritte“ bei der Kontrolle gemacht. Und überhaupt
seien die Dinge damit „auf einen guten Weg gebracht“. Das gilt offenbar
von nun an als die EU-Formel im Umgang mit der Migrationswelle. Es ist
eine sehr „deutsche“ Formel.
In einem Interview, das der Kanzleramtsminister und
Flüchtlingskoordinator Altmaier der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
gegeben hat (FAZ 24.2.16), gibt es eine bemerkenswerte Passage. Er
spricht von einer „Grundsatzdebatte“, die in der EU geführt werde, und
sich um Frage drehe: „Sollen wir das Problem gemeinsam lösen, oder soll
jeder Staat es für sich versuchen, notfalls auf Kosten der jeweiligen
Nachbarn?“ Altmaier fährt dann fort: „Auf dem EU-Gipfel haben wir mit
Blick auf den nächsten Gipfel einstimmig beschlossen, den europäischen
Weg zu gehen“. Das ist eine grobe Irreführung. Keineswegs hat der
EU-Gipfel beschlossen, dass ausschließlich Initiativen legitim seien,
die von allen EU-Ländern getragen werden. Das Treffen, das Österreich
mit weiteren südosteuropäischen Ländern zum Grenzschutz auf der
Balkanroute durchführte, hat gezeigt, dass gezielte Maßnahmen sehr wohl
im Kreise der direkt betroffenen Staaten verabredet werden können. Die
Alternative „entweder Gesamt-EU oder eine Nation alleine“ ist eine
bewusste Verfälschung der tatsächlichen Alternativen. Sind die einzelnen
Initiativen von kleineren Ländergruppen etwa uneuropäische Umtriebe?
Auf jeden Fall ist nun klar, dass Frau Merkel der Verweis auf
europäische Lösungen nicht dazu diente, den Rahmen für eine Korrektur
der deutschen Politik zu bauen. Europa wird von Deutschland nur als
nachgeordnete Größe behandelt, die dazu da ist, die immensen Folgelasten
der deutschen Politik zu tragen. Die Bundesregierung hätte vielfach
Gelegenheit gehabt, den Partnern zu signalisieren, dass sie zu einer
Verständigung über eine gemeinsame Obergrenze bereit ist. Sie hat es
nicht getan. Im Gegenteil tut die Bundesregierung so, als sei ihr Kurs
der eigentliche europäische Kurs. Wie dummdreist ist die Behauptung
Merkels, die Forderung nach Kontingenten sei lächerlich, weil die
beschlossene Verteilung von 160000 Migranten nicht geklappt habe! Hätte
Deutschland nicht eine Million illegaler Migranten in die Mitte Europas
geholt und würde es diesen Kurs nicht stur fortsetzen, würden seine
Nachbarn – wie bei anderer Gelegenheit durchaus erwiesen – natürlich
ihre beschlossene Zahl erfüllen. Wie arrogant müssen solche Sätze in den
Ohren anderer Europäer klingen.
Es ist nun deutlich geworden, wie sehr die deutsche Politik durch das
Kanzleramt tatsächlich für die Zukunft festgelegt hat. Der
Grenzöffnungsbeschluss vom September war kein Schnellschuss, keine
spontane humanitäre Geste. Er war Teil einer Strategie. Die Vorstellung,
wir hätten eine Kanzlerin, die angesichts der inzwischen sichtbaren
Folgen ihrer Entscheidung umzusteuern versucht, ist Wunschdenken. Eine
kritische Bilanz? Ein Begrenzungsbeschluss? Alles abgesagt. Das hat zu
einer tiefen Entfremdung zwischen Deutschland und den europäischen
Partnerländern geführt. Man misstraut Merkel, weil man sieht, dass sie
angesichts der Migrationswelle die Realitäten in Europa nicht mehr zur
Kenntnis nimmt, und fühlt sich hintergangen.
Und die Deutschen? Vielen Menschen wird erst in diesen Tagen und
Wochen allmählich klar, in welche unendliche Zwangsgeschichte sie da
versetzt sind. Bisher glaubten doch sehr viele, dass es sich um eine
einmalige Entscheidung handelte. Alles könne wieder in die gewohnten
Bahnen zurückfinden. Das erweist sich jetzt als Täuschung. Es gibt kein
Licht am Ende des Tunnels. Aber viele Irrlichter und Scheinlösungen.
Von
einem redlichen Verhältnis dieser Kanzlerin zu den Deutschen kann nicht
mehr die Rede sein.
.....
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