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Der große Rückzug des Westens
- Von allen französischen
Soldaten, die derzeit an Militäroperationen beteiligt sind, ist die
Hälfte in Frankreich im Einsatz. Von diesen wiederum ist die Hälfte dazu
eingeteilt, 717 jüdische Schulen zu beschützen.
- Der massive Einsatz von Streitkräften in unseren eigenen Städten
ist beispiellos in der Geschichte. Mehr noch als eine militärische ist
es eine moralische Abrüstung.
- Warum entscheidet sich überhaupt jemand, in einem Krieg zu
kämpfen? Wenn zivilisierte Nationen in den Krieg ziehen, dann bedeutet
das, dass Angehörige der heutigen Generation möglicherweise ihr Leben
opfern, um zukünftige Generationen zu schützen. Doch wenn es keine
zukünftigen Generationen gibt, gibt es für heutige junge Männer
überhaupt keinen Grund, in einem Krieg zu sterben. It's the demography, stupid.
Am 11. März 2004 wurden in Madrid bei einer Serie von
Terroranschlägen 192 Menschen getötet und 1.400 verletzt. Drei Tage
später wurde der Führer der spanischen Sozialisten, José Luis Rodríguez
Zapatero, zum Ministerpräsidenten gewählt. Nur 24 Stunden nach seiner
Vereidigung befahl Zapatero den "schnellstmöglichen" Rückzug spanischer
Truppen aus dem Irak.
Diese Direktive war ein monumentaler politischer Sieg für den
extremistischen Islam. Seitdem hat Europa keine Truppen mehr außerhalb
Europas eingesetzt, um den Dschihadismus zu bekämpfen; stattdessen
werden sie in europäischen Ländern eingesetzt, um Gebäude und Zivilisten
zu schützen.
"Opération Sentinelle"
ist die erste der neuen großangelegten Militäroperationen in
Frankreich. Die Armee schützt nun Synagogen, Kunstmuseen, Schulen,
Zeitungen, Ämter und U-Bahn-Stationen. Von allen französischen Soldaten,
die derzeit an Militäroperationen beteiligt sind, ist die Hälfte in Frankreich im Einsatz. Von diesen wiederum ist die Hälfte dazu eingeteilt, 717 jüdische Schulen
zu beschützen. Unterdessen hat Frankreichs Lähmung angesichts des IS
einen symbolischen Ausdruck gefunden im Bild der Polizei, die von dem
Büro des Satiremagazins Charlie Hebdo wegrennt, während dort das Massaker stattfindet.
Dieselben Zahlen in Italien: 11.000 italienische Soldaten sind
derzeit an Militäroperationen beteiligt, über die Hälfte von ihnen wird
für die Operation "Sichere Straßen"
eingesetzt, die, wie der Name schon sagt, Italiens Städte sichert.
Zudem ist Italiens Armee damit beschäftigt, Migranten, die das
Mittelmeer überqueren, Hilfe zu leisten.
2003 war Italien gemeinsam mit Spanien und Großbritannien eines der
sehr wenigen Länder gewesen, die in dem ehrenwerten Krieg im Irak an der
Seite der Vereinigten Staaten gestanden hatten – ein Krieg, der bis zu
dem schändlichen US-Rückzug am 18. Dezember 2011 erfolgreich war.
Heute rennt Italien wie Spanien vor seiner Verantwortung im Krieg
gegen den Islamischen Staat davon. Dass Italien sich an Aktionen gegen
den IS beteiligen könnte, hat Italiens Verteidigungsminister Roberta Pinotti
ausgeschlossen, nachdem die EU-Verteidigungsminister eine französische
Anforderung nach Hilfe zuvor noch einhellig unterstützt hatten.
Italienische Soldaten, die auch vor dem Büro meiner Zeitungsredaktion
in Rom stationiert sind, bieten den Anschein von Sicherheit, doch die
Tatsache, dass die Hälfte von Italiens Armee sich um die innere
Sicherheit kümmert, statt offensive Militäraktionen durchzuführen,
sollte uns zu denken geben. Diese Zahlen werfen nicht nur ein Licht auf
Europas innere Front im Kampf gegen den Terror – von den französischen banlieues bis nach "Londonistan" –, sondern auch auf den großen Rückzug des Westens.
US-Präsident Barack Obama hat mit dem Rückzug der amerikanischen
Streitkräfte aus dem Nahen Osten geprahlt, der Teil seines Erbes als
Präsident sein soll. Doch sein schmählicher Abgang aus dem Irak ist der
Hauptgrund dafür, dass der Islamische Staat an die Macht gekommen ist –
und der Grund, warum Obama den militärischen Rückzug aus Afghanistan
verschoben hat. Dieser Rückzug der USA kann nur mit dem Fall von Saigon
verglichen werden; seinerzeit musste die amerikanische Botschaft
mithilfe eines Hubschraubers evakuiert werden.
In Europa sind die Armeen nicht einmal mehr für einen Krieg bereit. Die deutsche Armee ist inzwischen nutzlos,
und Deutschland gibt lediglich 1,2 Prozent des BIP für Verteidigung
aus. Das deutsche Heer hat die niedrigste Truppenstärke in der
Geschichte.
2012 hat das Bundesverfassungsgericht mit einem 67 Jahre alten Tabu
gebrochen, wonach es verboten war, das Militär innerhalb der deutschen
Grenzen einzusetzen; es erlaubte den Einsatz der Streitkräfte bei
inländischen Operationen. In der Nach-Hitler-Ära hatte es die Angst
gegeben, dass die Armee sich wieder zu einem Staat im Staate entwickeln
könnte, die die Demokratie einschränkt; diese Angst lähmt nach wie vor
das größte und reichste Land Europas. Im Januar kam ans Licht, dass die Aufklärungsflugzeuge der deutschen Luftwaffe nicht bei Nacht fliegen können.
Viele europäische Staaten haben mit ähnlichen Umständen zu kämpfen
wie Belgien mit seinem gescheiterten Sicherheitsapparat. Selbst ein
hochrangiger US-Geheimdienstoffizier verglich kürzlich die belgischen Sicherheitskräfte mit "Kindern". Und Schwedens oberster Befehlshaber, Sverker Göranson, sagt, sein Land könne eine Invasion höchstens eine Woche lang abwehren.
Auch Großbritannien wird sowohl von seinen amerikanischen als auch
von seinen europäischen Verbündeten schon seit zehn Jahren als eine im
Abstieg begriffene Macht angesehen, die sich nur noch auf innere
Angelegenheiten konzentriert. Die Briten werden immer mehr zu einem
Inselvolk – zu einem Kleinengland.
Die britischen Streitkräfte wurden geschrumpft, allein die Armee soll
von 102.000 Soldaten im Jahr 2010 auf 82.000 im Jahr 2020 verkleinert
werden – der niedrigste Stand seit den Napoleonischen Kriegen. Der frühere Kommandant der Royal Navy, Admiral Nigel Essenigh, spricht von "unangenehmen Ähnlichkeiten"
zwischen dem Zustand der britischen Landesverteidigung heute und dem in
den frühen 1930er Jahren, während des Aufstiegs Nazideutschlands.
In Kanada
werden Militärstützpunkte jetzt für die Unterbringung von Migranten aus
dem Nahen Osten benutzt. Der neue kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau stoppte zuerst die Luftangriffe auf den IS, dann weigerte er sich,
sich der Koalition gegen den IS anzuschließen. Offenbar hatte die
Bekämpfung des Terrorismus für Trudeau nie Priorität – im Gegensatz zu
"Gendergleichheit", Klimawandel, Euthanasie und Ungerechtigkeiten gegen
Kanadas Indianer.
Die größere Frage lautet: Warum entscheidet sich überhaupt jemand, in
einem Krieg zu kämpfen? Wenn zivilisierte Nationen in den Krieg ziehen,
dann bedeutet das, dass Angehörige der heutigen Generation
möglicherweise ihr Leben opfern, um zukünftige Generationen zu schützen.
Doch wenn es keine zukünftigen Generationen gibt, gibt es für heutige
junge Männer überhaupt keinen Grund, in einem Krieg zu sterben. It's the demography, stupid.
Am stärksten ist die Fruchtbarkeitsrate in Spanien
gefallen – sie ist die niedrigste in Westeuropa der letzten 20 Jahre
und die extremste demografische Spirale, die jemals irgendwo beobachtet
worden ist. Auch in Italien
wurden 2015 weniger Babys geboren als zu irgendeinem Zeitpunkt seit der
Staatsgründung vor 154 Jahren. Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten ist
Italiens Bevölkerung geschrumpft. Auch in Deutschland gibt es einen demografischen Selbstmord.
Der massive Einsatz von Streitkräften in unseren eigenen Städten ist
beispiellos in der Geschichte. Mehr noch als eine militärische ist es
eine moralische Abrüstung. Europa erlebt einen neuen Weimar-Moment. Die
Weimarer Republik wurde durch den Aufstieg des Nationalsozialismus auf
dramatische Art aufgelöst. Die Weimarer Republik steht auch heute noch
für ein kulturelles Durcheinander, ein Lehrbeispiel für eine wehrlose
Demokratie, die sich einem verstümmelten Pazifismus hingab, eine
Mischung aus naiver Kultur, politischem Reformismus und dem ersten
hochentwickelten Wohlfahrtsstaat.
Wie der Historiker Walter Laqueur
sagt, war Weimar der erste Fall vom "Leben und Sterben einer
freizügigen Gesellschaft". Wird Europas neues Weimar auch wieder zu Fall
gebracht werden, diesmal von den Islamisten?
Giulio Meotti, Kulturredakteur der Tageszeitung Il Foglio, ist ein italienischer Journalist und Autor.
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