Samstag, 22. Februar 2014

Dieses Leben an der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt?

...
»Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?» fragt Jesus in Gethsemane. Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden.
.
Er muß also wirklich in der gottlosen Welt leben und darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie religiös zu verdecken, zu verklären; er muß »weltlich» leben und nimmt eben darin an den Leiden Gottes teil; er darf »weltlich« leben, d. h. er ist befreit von allen falschen religiösen Bindungen und Hemmungen. 
 .
Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös sein, auf Grund irgendeiner Methodik etwas aus sich machen (einen Sünder, Büßer oder einen Heiligen), sondern es heißt Menschsein, nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns. Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. Das ist [...] nicht zuerst an die eigenen Nöte, Fragen, Sünden, Angste denken, sondern sich in den Weg Jesu Christi mithineinreißen lassen, in das messianische Ereignis, daß Jes. 53 nun erfüllt wird! Daher: »glaubet an das Evangelium“ bzw. bei Joh. der Hinweis auf das »Lamm Gottes, das der Welt Sünden trägt“ (nebenbei: A. Jeremias hat kürzlich behauptet, »Lamm“ sei im Aramäischen auch durch »Knecht“ zu übersetzen. Ganz schön, im Hinblick auf Jes. 53!)
.

Dieses Hineingerissenwerden in das — messianische — Leiden Gottes in Jesus Christus geschieht im Neuen Testament in verschiedenster Weise: durch den Ruf der Jünger in die Nachfolge, durch die Tischgemeinschaft mit den Sündern, durch ,,Bekehrungen» im engeren Sinne des Wortes (Zachäus), durch das (ohne jedes Sündenbekenntnis sich vollziehende) Tun der großen Sünderin (Luk. 7), durch die Heilung der Kranken (s. o. Matth. 8,17), durch die Annahme der Kinder. Die Hirten wie die Weisen aus dem Osten stehen [an] der Krippe, nicht als »bekehrte Sünder», sondern einfach, weil sie, so wie sie sind, von der Krippe her angezogen werden (Stern). Der Hauptmann von Kapernaum, der gar kein Sündenbekenntnis ablegt, wird als Beispiel des Glaubens hingestellt (vgl. Jairus). Den reichen Jüngling »liebt“ Jesus. Der Kämmerer (Apg. 8), Cornelius (c. 10) sind alles andere als Existenzen am Abgrund. Nathanael ist ein »Israelit ohne Falsch« (Joh. 1, 47); schließlich Joseph v. Arimathia, die Frauen am Grabe. Das einzige, ihnen allen Gemeinsame, ist das Teilhaben am Leiden Gottes in Christus. Das ist ihr »Glaube«. Nichts von religiöser Methodik, der »religiöse Akt« ist immer etwas Partielles, der »Glaube« ist etwas Ganzes, ein Lebensakt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben.
.

Wie sieht nun aber dises Leben aus? Dieses Leben der Teilhabe an der Ohnmacht Gottes in der Welt? [...] Wenn man von Gott ,,nicht-religiös“ sprechen will, dann muß man so von ihm sprechen, daß die Gottlosigkeit der Welt dadurch nicht irgendwie verdeckt, sondern vielmehr gerade aufgedeckt wird und gerade so ein überraschendes Licht auf die Welt fällt. Die mündige Welt ist Gott-loser und darum vielleicht gerade Gott-näher als die unmündige Welt.


Aus dem Brief vom 18. 7. 1944
...

Keine Kommentare: