Interview mit Henryk M. Broder
| „Es kann doch nicht sein, dass die Geschlossenheit der Partei wichtiger ist als ideologische Klarheit.“ | 
Er kritisiert, spitzt zu und polemisiert wie kein Zweiter – Henryk M.  Broder. Mit Cicero Online spricht er über eine Kloschüssel auf dem  Obersalzberg, über Mainstream und über das Phänomen des Antisemitismus  in der Linken. 
Herr Broder, Sie gelten gemeinhin als Provokateur. Der  Feuilletonchef der FAZ – Patrick Bahners – spricht im Zusammenhang mit  der Art und Weise wie Sie Kritik üben von einer „Polemik als symbolische  Übersprunghandlung  einer zeitgemäßen Liberalität“. Er sieht darin eine  Umwertung aller Werte als bewährtes Verfahren der Aphoristik. Und in  der Tat ist ihre Polemik doch sehr speziell. Wenn Sie sich  beispielsweise in ihrer TV-Sendung als Holocaust-Mahnmal-Stele  verkleiden und auf eine Holocaust-Gedenkfeier gehen, schießen Sie da  nicht übers Ziel hinaus?
 Hat das Patrick Bahners mit diesem Beispiel illustriert?
 Nein.
 Zu Patrick Bahners sage ich nichts, weil ich das, was er schreibt,  nicht verstehe. Und zu Dingen, die ich nicht verstehe, sage ich nichts.  Was die Stele angeht: Für eine gute Pointe würde ich zum Islam  übertreten. Hamed Abdel-Samad und ich fanden die Idee gut und dann  sagten wir, das machen wir. In der Staffel, die wir jetzt gerade drehen,  laufen Hamed und ich mit einer Kloschüssel, die wir im Baumarkt gekauft  haben, auf den Obersalzberg und stellen die Schüssel dort ab, wo früher  die Terrasse des Führers war. Wir fanden das beide sehr lustig. Ob es  die Leute lustig finden, ist mir egal.
 Kann man von einer Methode Broder sprechen? Das folgende  Zitat von Ihnen bringt ihre Art der Zuspitzung und Formulierung auf den  Punkt: „Ich halte Toleranz für keine Tugend, sondern für eine Schwäche –  und Intoleranz für ein Gebot der Stunde.“ 
 Ich gehe an das, was ich mache, wirklich vollkommen unschuldig  heran. Es gibt Sachen, die ich nicht verstehe. Ich versuche dann, mir  diese Sachen zu erklären, nähere mich ihnen und schreibe darüber. Wenn  Leute darin ein Konzept sehen, ok. Ich glaube aber, ich habe keines.
 Sie sagen, Sie haben kein Konzept. Schaue ich mir ihren Blog  „Die Achse des Guten“ an, entdecke ich doch eines: Ein Konzept des  politisch Inkorrekten.
 Sie entdecken ein Konzept, ein anderer ein anderes Konzept. Das ist das Schöne an einem Konzept: Jedem das Seine.
 Gegen alles vermeintlich politisch Korrekte und  Gutmenschentum zu polemisieren, das ist doch, schaut man sich das  Meinungsbild im Internet an, mittlerweile Mainstream.
 Kann sein. Wir beabsichtigen mit der Seite „achgut“ nicht gegen oder  mit dem Mainstream zu sein. Wir gehen von Fall zu Fall vor. „Achgut“  hat ein sehr weites Spektrum. Von linken Autoren bis zu konservativen  Katholiken. Auch da gibt es kein festgelegtes Konzept. Wir sind einfach  radikal für den Gedanken der Meinungsfreiheit, der persönlichen  Verantwortung und dafür, dass Leute nicht entmündigt werden. Es macht  uns riesigen Spaß, Blasen aufzustechen und zu zeigen, dass sie aus  lauwarmer Luft bestehen. Das ist schon alles. Wenn das querdenkerisch  ist, dann ist es querdenkerisch, und wenn es Mainstream ist, dann ist  das Mainstream.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass diese Plattform das  politisch Inkorrekte zu einem Dogma erhebt. Also genau das macht, was es  den vermeintlich linken Ideologen vorwirft?
 Nein, schauen Sie, wir sind ja nicht gegen den Ausstieg aus der  Atomenergie, weil alle dafür sind. Meinetwegen soll der Ausstieg aus der  Atomkraft vollzogen werden. Mir ist diese Technologie ja auch  unheimlich. Ich bin nur dagegen, dass daraus eine pseudo-religiöse  Angelegenheit gemacht wird. Ich war kürzlich auf einem  Nachhaltigkeitskongress und da hat Bundesumweltminister Röttgen, der nun  wirklich die größte Luftblase in diesem Kabinett ist, den Satz gesagt:  „Die Regierung braucht die Unterstützung der Gesellschaft.“ Und da ich  ja versehentlich in Polen aufgewachsen bin, sind bei mir sofort alle  Alarmglocken angegangen. 
Die Regierung braucht die Unterstützung der  Gesellschaft? Ich unterstütze sie, in dem ich sie alle vier Jahre wähle  und alle vier Jahre wieder abwähle. Mehr können die von mir nicht  verlangen.
 Die Regierung ist dafür da, meinen Müll abzuholen, meinen Pass  auszustellen und die Polizei zu bezahlen, die meine Sicherheit  garantiert. Aber die Aussage, die Regierung will von der Gesellschaft  unterstützt werden, ist eine Aufforderung an die Arbeiterbrigaden,  wieder auf die Straße zu gehen, um die Fünfjahrespläne des ZK zu  unterstützen. Das ist eine unglaubliche Blase und ich bin entsetzt, wenn  sie niemandem auffällt, wenn die Leute nicht in Ohnmacht fallen, wenn  ein Bundesminister einen solchen Einstiegskanal in eine totalitäre  Zukunft aufmacht.
Schaut man sich Debatten im Internet an, die Anfeindungen  denen  vermeintliche Gutmenschen ausgeliefert sind, müsste es da heute  nicht heißen: Der Mutige ist der politisch Korrekte?
 Schauen Sie, Mut ist eine Kategorie, die ich aus meinem Wörterbuch  gestrichen habe. Es gibt in diesem Land etwa zwei Dutzend Preise für  Mut, Zivilcourage und Toleranz. Das gehört alles aus dem Wörterbuch  gestrichen. Hier brauchen Sie Mut, um eine Einladung zu Anne Will  abzusagen. Mehr Mut braucht es in diesem Land nicht. Alles was wir  machen, erfordert eine Haltung aber keinen Mut. Wenn die Leute sich  gegenseitig Medaillen verleihen, dafür dass Sie mutig sind, verlasse ich  sofort den Raum. Mutig sind die Demonstranten in Kairo, die sich gegen  das Regime stellen. In dieser Gesellschaft brauchen Sie keinen Mut. Mir  ist das nur suspekt. Je weniger Mut Sie brauchen, um etwas zu sagen,  umso mehr Leute stellen Sie als Mutigen da. Das ist doch vollkommen  absurd.
 Mut, beziehungsweise eine Haltung, scheint dieser Tage auch  der Linken zu fehlen, gegen antisemitischen Antizionismus in den eigenen  Reihen vorzugehen. Sie haben bereits in den 70ern als einer der ersten  zusammen mit Jean Améry auf Antisemitismus in der Linken verwiesen. 
 Ja, Améry war damals jemand, den ich gelesen habe. Sartres Aufsatz  über die Judenfrage kannte ich jedoch zu dieser Zeit noch nicht. Hätte  ich diese Schrift gekannt, hätte ich meine Version wahrscheinlich nicht  geschrieben, weil Sartre das schon alles vorweggenommen und viel besser  beschrieben hatte. Vieles von damals finden wir heute aber nach wie vor  in der Linken. Beispielsweise halten sich große Teile der Linken per se  für bessere Menschen, die für Antisemitismus nicht anfällig sind.
 Ich hatte eine Debatte in den 70er Jahren mit Gerhard Zwerenz, der  damals wie heute behauptete, Linke können keine Antisemiten sein. Das  ist so, als wenn ich sagen würde, Juden schlagen ihre Frauen nicht,  Katholiken saufen sich nicht die Hucke voll und Protestanten lügen  nicht. Das ist vollkommen absurd. Aber das ist die Art, wie sich damals  und heute die Linke selbst immunisiert hat.
 Was hat sich seither geändert?
 Ich beschrieb damals in meinem Buch „Der ewige Antisemit“ in den  80ern marginale Phänomene, von denen ich nicht mal glaubte, dass sie  sich in die Mitte der Gesellschaft bewegen würden. Die Kritik an diesem  Buch zielte dann auch genau darauf ab. Es wurde kritisiert, dass  ich  marginale Phänomene beschreibe und sie überbewerte. Mit dem Blick zurück  kann ich nur sagen: Ich habe sie noch unterschätzt.  Alles was damals  marginal war, ist heute Mainstream, verkleidet sich aber nur anders.
Dahinter steckt die Erkenntnis, dass der Antisemitismus natürlich  einem Wandel unterliegt. Es unterliegt alles einem Wandel. Frauen- und  Fremdenfeindlichkeit heute hat eine andere Ausprägung als sie zur Zeit  von Otto Weininger hatte. Die Linke aber, die sonst versucht dynamisch  zu sein, beharrt darauf, dass der Antisemitismus darin besteht, dass man  Juden und Jüdinnen diskriminiert. Die Weiterleitung, der Sprung zu  Israel, zu Juden, die sich als Zionisten organisiert haben, zu Juden,  die nicht nur eine Religion sein wollen, sondern sich national  definieren, diesen Sprung schafft die Linke nicht.
Die Linke verschafft sich ein gutes Gewissen, indem sie immer noch  gegen Auschwitz demonstriert, zugleich aber eine Einstaatenlösung  favorisiert, die de facto die Vernichtung Israels bedeutet.  Linksparteimitglied Christine Buchholz hat vor kurzem ganz klar gesagt,  Boykottaufrufe und die Forderung nach einer Einstaatenlösung seien kein  Antisemitismus. Dabei sind genau das die Kernbestandteile des modernen  Antisemitismus.
Werfen wir einen Blick auf die Kritisierten: Gregor Gysi  versucht es mit parteiinterner Autorität und initiierte einen  Fraktionsbeschluss. Klaus Ernst hingegen schießt gegen die Kritiker  zurück. Beispielsweise rät er dem Präsidenten des Zentralrates der Juden  Dieter Graumann, nach dessen Kritik an der Linken, die „Niederungen der  Parteipolitik zu verlassen“.
 Ernst ist ein ehrlicher Dummkopf. Gysi ist ein hochintelligenter  Heuchler, denn er weiß es besser. Ich habe mehrere Unterhaltungen mit  ihm gehabt, wo er genau das artikuliert hat, was ihm heute vorgeworfen  wird, eben dass es Antisemitismus in der Linken gibt. Aber um diesen  maroden Laden zusammenzuhalten, will er davon nicht abrücken. Es ist  erklärbar, warum gerade die Linkspartei heute zu einem Zentrum  antisemitischer Argumentation geworden ist. Sie ist keine antisemitische  Partei per se, weil es genug Leute gibt, die diese Meinungen nicht  teilen. Aber sie hat eine zum Teil antisemitische Programmatik. Und das  ist kein Zufall.
 Das kommt von zweierlei: Erstens kommt es bei einer Partei, die  zwischen sieben und elf Prozent hin und herpendelt auf jedes Prozent an.  Und ein oder zwei Prozent Antisemiten, die sich angezogen fühlen,  können für eine so kleine Partei entscheidend sein. Größere Parteien  können damit rigider umgehen. Zweitens ist die Linkspartei die  Verkörperung des pathologisch gesunden Gewissens. Sie sind  Antifaschisten in einem Land, in dem es keinen Faschismus gibt. Sie sind  heute gegen die Nazis, obwohl die Nazis heute nur noch als Kostümnazis  irgendwo hinter Rostock auftreten.
Die Leute in der Linkspartei haben vergessen, dass niemand so  schnell zu Nazis übergelaufen ist, wie die Kommunisten. Heute rot,  morgen braun. Es ist das klassische antisemitische Motiv der 20er, 30er  Jahre. Damals war der Antisemitismus der Kitt, der die Parteien  zusammenhielt, sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner. Das hat die  Linke auch versucht. Einen Spagat zwischen links und rechts über das  Mittel des Antisemitismus.
Jetzt muss aber doch der Linken zugutegehalten werden, dass  die größten Kritiker aus der Partei selbst kommen. Angefangen mit  Dietmar Bartsch, der die Vorwürfe sehr ernst nimmt, oder Bodo Ramelow,  der noch einen Schritt weitergeht und die Anerkennung des israelischen  Existenzrecht in das Grundsatzprogramm aufnehmen will. Ganz zu schweigen  von der BAK-Shalom, ein Arbeitskreis innerhalb der Linken, der sich  massiv gegen Antizionismus zur Wehr setzt.
 Die größten Kritiker aus der Partei äußern sich immer dann, wenn es  gar nicht mehr anders geht. Das ist der Versuch einer  Schadensbegrenzung. Ich habe nicht den geringsten Zweifel an der  Integrität von Ramelow, Kipping, Pau oder anderen. Nur habe ich manchmal  den Verdacht, sie spielen das Spiel „good cop, bad cop“. Der eine  Vernehmer ist der Brutale und der andere bringt Tee und Plätzchen. Das  ist eine Form der Arbeitsteilung innerhalb der Partei.
 Das Zweite ist: Wenn sie so integer sind, was machen sie dann noch  in dieser Partei? Warum schwindeln sie sich ständig etwas zurecht, um in  der Partei bleiben zu können. Es kann doch nicht sein, dass die  Geschlossenheit der Partei wichtiger ist als ideologische Klarheit.  Deswegen glaube ich nicht, dass man denen etwas zugutehalten muss. Sie  versuchen sich aus einer Situation zu retten, in die sich selber  gebracht haben.
Der antisemitische Antizionismus ist über die Sowjetunion,  beziehungsweise über den Marxismus-Leninismus stalinistischer Prägung,  über die Ostblockstaaten in die Neue Linke nach Westdeutschland gelangt.  Heute kommen jedoch die größten Israel-Kritiker in der Linkspartei aus  dem Westen. Wie erklären Sie das?
 Ich habe keine Erklärung. Antisemitismus ist ein irres Phänomen. Es  gab einen amerikanischen Richter, der ist mal gefragt worden, ob er  Pornographie definieren könnte. Er antwortete: “No I can’t, but I know  it, when I see it.“ Und genau das gilt auch für den Antisemitismus. 
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die fokussierte Diskussion  über Antisemitismus in der Linken den Antisemitismus der bürgerlichen  Parteien überdeckt?
 Nein. Der Antisemitismus ist im Prinzip in dieser Gesellschaft  vorhanden aber nicht gesellschaftsfähig. Das ist der große entscheidende  Fortschritt zu früher. Mit einer antisemitischen Bemerkung stellen sie  sich außerhalb des Konsens. Es gibt natürlich trotzdem weiter  Antisemitismus. Der linke Antisemitismus ist deshalb so schlimm, weil er  so herzig daher kommt, weil er sich seiner selbst nicht bewusst ist und  weil er nicht anerkennen will, dass man das antisemitische Potential  par ordre de mufti nicht aus der Luft schaffen kann. Und nachdem sich  das antisemitische Potential heute nicht mehr auf den einzelnen Juden  konzentrieren kann, konzentriert es sich auf das jüdische Kollektiv. Und  wenn die Leute dann sagen, es sei Israelkritik, dann ist das ein  weiterer Etikettenschwindel. Denn Israelkritik ist vollkommen legitim.  Jeder kann, darf und soll…
 … und kaum ein anderer Staat wird ja so offen und häufig kritisiert wie Israel.
 Ja, Israelkritik muss weder richtig, noch begründet sein. Aber ich  darf natürlich genauso die Motive der Israelkritiker hinterfragen. Ich  darf fragen, warum sagt Ihr nichts zu Syrien, warum fällt Euch zu  Gaddafi nichts ein? Was ist mit Nordkorea? Dieses Kaprizieren auf Juden  und jetzt auf Israel ist ein typisches antisemitisches Motiv. Ich halte  den linken Antisemitismus für viel schlimmer, ich würde nicht sagen  gefährlicher, aber schlimmer, weil er erstens mit einem guten Gewissen  daherkommt und sich zweitens politisch verbrämt hat.
 Kritik verhält sich immer nach dem Verhalten des Kritisierten. In  dem Fall aber hat die "Kritik" eine ganz andere Struktur. Egal was  Israel macht, es macht es falsch. Das ist übrigens auch eine Analogie  zum klassischen Antisemitismus. Waren die Juden reich, waren sie  Ausbeuter, waren sie arm, waren sie Schmarotzer. Waren sie intelligent,  waren sie überheblich. Waren sie dumm, waren sie Parasiten. Das heißt,  aus der Sicht des Antisemiten kann der Jude nichts richtig machen. Und  aus der Sicht des Antizionisten kann Israel nichts richtig machen. Hält  es Gaza besetzt, ist es besetzt. Räumt es Gaza, dann ist es nur ein  Trick, um die Besetzung mit anderen Mitteln aufrecht zu erhalten.  Deshalb ist der linke Antizionismus eine vollkommen verlogene  Geschichte, während der klassische bürgerliche Antisemitismus à la  Möllemann und Hohmann doch relativ überschaubar ist. Da funktionieren  auch die gesellschaftlichen Mechanismen komischerweise viel schneller,  als beim linken Antisemitismus.
 Herr Broder, vielen Dank für das Gespräch.
 Das Interview führte Timo Stein.
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