von Helga Hirsch
(Vorsicht Tränengefahr - Jani's Anmerkung)
Ayse wächst als Alevitin in der ostanatolischen Provinz auf. Nach ihrer Schulzeit flüchtet sie vor dem gewalttätigen Vater – zuerst nach Istanbul, dann nach Deutschland. Aber auch hier holt ihre Vergangenheit sie immer wieder ein. Die Geschichte einer Suche nach dem selbstbestimmten Leben.
Ayse wächst als Alevitin in der ostanatolischen Provinz auf. Nach ihrer Schulzeit flüchtet sie vor dem gewalttätigen Vater – zuerst nach Istanbul, dann nach Deutschland. Aber auch hier holt ihre Vergangenheit sie immer wieder ein. Die Geschichte einer Suche nach dem selbstbestimmten Leben.
Donnerstagabend, 18 Uhr.
„Wohin gehst du?“
Sie geht zur Arbeit. Seit Kurzem hat sie eine Zeitarbeitsstelle in einem Kulturinstitut, das heute eine Ausstellung eröffnet und anschließend zu einem Empfang einlädt.
„Kümmerst du dich gar nicht mehr um das Kind?“
Sie ist die vergangenen neun Jahre keinen einzigen Abend ausgegangen, weil ihr Mann es abgelehnt hat, die Tochter ins Bett zu bringen. Heute aber, die Arbeit stärkt ihr den Rücken, wird sie die Wohnung verlassen.
Fast immer hat sie in ihrem Zusammenleben die Rolle gespielt, die er erwartete. Hat sich um das Kind gekümmert, das Essen genau zu dem Zeitpunkt auf den Tisch gebracht, an dem er von der Arbeit nach Hause kam. Hat sich über den Mund fahren und wegen der kleinsten Kleinigkeit beschimpfen und beschuldigen lassen.
Ihr Mann ist ein gläubiger Muslim aus dem Libanon, Ayse (Name geändert – die Red.) eine ungläubige Alevitin aus der Türkei. Er wünschte, sie würde ein Kopftuch tragen – doch keine Kizilbasch-Alevitin aus der ostanatolischen Provinz Dersim trägt ein Kopftuch. Er wünschte, sie würde sich dem Mann fügen – doch vor der Unterdrückung durch den Vater ist sie über 3000 Kilometer geflüchtet.
Wahrscheinlich wäre Ayses Leben anders verlaufen, wenn der Vater wie seine drei Brüder als Gastarbeiter in Deutschland geblieben wäre. Aber er hielt es in der Fremde nicht aus und kehrte Mitte der sechziger Jahre in seine ostanatolische Heimat zurück. Außer ihm, seiner Frau und ihren sechs Kindern lebten in dem kleinen Haus am Berghang noch seine Eltern, ein Bruder, eine Schwägerin sowie die Frauen und Kinder der drei Brüder in Deutschland.
Ayses Vater kommandierte die ganze 25-köpfige Großfamilie.
Er war intelligent und respektiert, aber auch gefürchtet. In aller Herrgottsfrühe, wenn Frauen und Kinder noch eng beieinander auf den Matten lagen, die zum Schlafen einfach auf der Erde ausgebreitet wurden, scheuchte er sie wie Tiere mit einem Stock auf. Bei kleinsten Anlässen schlug er um sich, trat nach Frauen und Kindern mit dem Fuß oder malträtierte sie mit Gegenständen, die er gerade in der Hand hielt. Kinder durften nicht am Tisch sitzen, Mädchen keine kurzen Ärmel tragen, lange Hosen waren noch mit Röcken zu bedecken. Später im Internat, wo Ayse aus Protest grundsätzlich nur Hosen trug, zog der Vater sie bei einem unangemeldeten Besuch wutentbrannt an den Zöpfen durch die ganze Klasse; vor Scham spürte Ayse nicht einmal Schmerz.
Als der Vater ihr eines Tages mit einem Messer nachstellte, sagte Ayse: „Ich möchte sterben.“ Sie wollte nicht mehr so leben wie sie musste. „Dann bist du mein Feind“, erwiderte der Vater ungerührt. Seitdem zog die widerständige Tochter möglichst oft mit der Viehherde auf entlegene Weiden, um dem Familienoberhaupt aus dem Weg zu gehen. An den stillen Berghängen kam ihre Seele zur Ruhe, doch die Ängste hatten sich längst tief in ihr festgesetzt.
Bis heute verfolgen sie die immer gleichen Albträume: Da wirft der Vater mit Steinen nach ihr, läuft wutentbrannt hinter ihr her, Ayse stürzt voller Panik in die dunkle Nacht hinaus, keucht atemlos einen Berghang hinauf, ruft um Hilfe – und wacht schweißnass auf vom eigenen Schrei. Im Studentenheim in Deutschland stand dann immer die persische Zimmernachbarin an ihrem Bett, besorgt, aber auch hilflos, weil sie nichts verstand. Denn Ayse träumte in Zazaki.
Wenn jemand in Deutschland sie fragt, woher sie komme, sagt Ayse: „Aus der Türkei.“
Manchmal sagt sie auch, sie sei eine Kurdin, denn die türkische Assimilationspolitik hat das kleine Zaza-Volk einfach den Kurden zugeschlagen. Dabei ist Zazaki kein kurdischer Dialekt, sondern eine eigenständige Sprache. Und im Unterschied zu den meist sunnitischen Kurden gehören die Zaza in Ayses Heimatprovinz Dersim den Kizilbasch-Aleviten an. In der Türkei bekennen sich etwa 2,5 Millionen Menschen zur Zaza-Volksgruppe, in Deutschland leben 150000 bis 200000 von ihnen.
weiterlesen hier
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen