Samstag, 24. September 2011

Digital naiv, neoliberal und gefährlich

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Alle haben die Piraten lieb, sympathisch sind sie und vielleicht ein wenig unbedarft. Aber kaum ein Wähler hat in deren Programm geschaut. Dort finden sich neben allgemeinen Floskeln und allerlei Unsinn auch Forderungen, die zeigen, Piraten sind längst nicht so selbstlos, wie sie sich geben. Im Kern sind sie eine neoliberale Partei. Ein Kommentar
 
Eines ist toll an den Piraten: Sie liefern Journalisten so schöne Metaphern. Jetzt haben sie also das Abgeordnetenhaus in Berlin „geentert“ – johoho, und ne Buddel voll Rum. Seltsam: Neoliberale Klientelparteien sind doch eigentlich gerade auf dem absteigenden Ast. Denn dies sind die Piraten im Kern. Ihr Hauptziel ist es, im Internet ungestört auf Kaperfahrt gehen zu können, mit möglichst wenig Regeln und ohne großes Bedauern für die, die nicht mitkommen.

Ein buntes Völkchen sind die Wähler der Piraten. Laut Infratest Dimap liefen neben vielen Nichtwählern vor allem Grüne, Linke und Sozialdemokraten zur schwarzen Fahne über. Ob die wissen, wen sie da gewählt haben?

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, Parteiprogramme zum Beispiel. Im Programm der Bundes-Piraten stehen drei große Kapitel zu Urheberrecht (weitgehend abschaffen), Patentwesen (dito) und digitale Kommunikation (für alle zugänglich machen) im Mittelpunkt und damit drei Kernthemen einer Technokratenpartei. Dafür stellen sich die Berliner Piraten mitten ins Leben. Ihr Grundsatzprogramm beginnt mit dem Recht auf Rausch.

Richtig ist, die Piraten durchpflügen politische Gewässer, die andere Parteien sträflich vernachlässigen. Gleich das Kapitel ihres Programms ist „Mehr Demokratie“ überschrieben. Wenn die Existenz der Freibeuter-Partei einen Sinn hat, dann den, Bürgerrechtsliberale jeglicher Couleur an alte Werte zu erinnern: den Schutz der Freiheit des Einzelnen und seiner unveräußerliche Rechte sowie eine Demokratie, die diesen Namen verdient. Da legen die Segler unter schwarzer Flagge das Enterbeil in eine klaffende Wunde der Parteiendemokratie – um die Metapher mal so richtig auszukosten.
Anders sieht es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Diesen Themen widmen sich die Jungpolitiker nur in einem winzigen Kapitelchen weit hinten. Es trägt die Nummer elf und beschränkt sich auf die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle. Nun muss man kein Marxist sein, um zu wissen, dass Nachdenken über die Gesellschaft zwecklos bleibt, wenn man die materielle Basis ausblendet. Aber offenbar sitzt auf diesem Auge die schwarze Piratenklappe und verhindert den Durchblick.

Oder ist es vielleicht doch eher so, dass – Datenschutz hin, Grundeinkommen her – die Politik der Piratenpartei auf die Durchsetzung eigener Interessen gerichtet ist und auf einen Markt, der alles regelt? Das Berliner Wahlprogramm ist denn auch geprägt von der Forderung nach Deregulierung und freiem Wettbewerb. Einzig mit ihrer Kritik an der Privatisierung der Berliner Versorgungsbetriebe setzen sie einen kurzen anderen Akzent. Sonst geht es um Sonderprobleme der digitalen Bohème, um mehr Urbanität für die Kreativwirtschaft oder die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer. Das klingt nach Klientelpflege vom Feinsten – das immerhin können die 

Nachwuchspolitiker schon... Sind die Piraten also doch nicht so selbstlos, wie sie vorgeben? Steckt in der Piratenpartei ein neoliberaler Kern?

Bundeschef (oder metaphernmäßig Piratenkapitän) Sebastian Nerz kennt die Erklärung dafür, warum so viele vor allem junge Menschen (bei den unter 34-Jährigen 15 Prozent) ihr Kreuzchen bei den Freibeutern setzten: „Die Menschen vertrauen den etablierten Parteien einfach nicht mehr.“ Es mag sein, dass es für dieses Misstrauen den einen oder anderen Grund gibt – aber welchen gibt es denn, der Piratenpartei zu trauen?

Der Berliner Landesvorsitzende Gerhard Anger rief am Wahlabend aus: „Wir sind jetzt die stärkste liberale Partei in Berlin.“ Früher gab es eine Partei, die füllte den Begriff „liberal“ mit deutlich mehr Inhalt als Straflosigkeit für Raubkopierer oder Freiheit für Finanzjongleure. Wenn die Piraten sich nun an der FDP messen, spricht das Bände über den desolaten Zustand der Freidemokraten. Aber was sagt dies über die Newcomer im Parteiensystem?

Kein FDP-Kandidat hätte es gewagt, wie der Berliner Spitzenkandidat der Piraten, Andreas Baum, die Schulden der Stadt im Wahlkampf bagatellisierend mit „viele, viele Millionen“ zu beziffern. Die Piraten taten dies anschließend als kleine Schwäche ab und haben anschließend, „um zu zeigen, dass Piraten kreativ mit ihren Bildungslücken umgehen“, eine Schuldenuhr als Smartphone-App programmiert. Die zeigt nun völlig korrekt viele, viele Milliarden Euro, konkret knapp 64.

Technisches Können soll also mangelndes Verständnis ausgleichen. Aber Baums Panne zeugt weniger von geringer Sachkenntnis, sondern vor allem von der mangelnden Bereitschaft, sich mit den Themen Finanzen und Schulden überhaupt auseinanderzusetzen. Der moderne junge Großstadtmensch will im Internet nicht nur kostenlos auf alle Inhalte zugreifen können, er will auch umsonst mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Allen Kreativen soll die Stadt Räume oder Flächen für ihre Arbeit zur Verfügung stellen. Das ist letztlich nur konsequent, denn für die Rechte an den Werken, die sie schaffen, soll im Internetzeitalter schließlich niemand mehr bezahlen.

Wie diese Wohltaten finanziert werden, ist den Piraten offenbar egal. Nach den Schlagworten Steuern und Finanzen sucht man im Programm der Partei vergeblich. Allein, wie will denn jemand ernsthaft parlamentarisch mitarbeiten, der seine wichtigsten Hausaufgaben nicht macht?

Immerhin hat Spitzenkandidat Baum sich, wie er am Wahlabend stolz erzählte, vor der Wahl schon einmal auf die Besuchertribüne des Abgeordnetenhauses begeben. Dort dürfe man nicht twittern, „das können wir dann ja gleich mal ändern“. Als wäre das das größte Problem der Hauptstadt. Es ist reichlich unbedarft zu glauben, man müsse nur Transparenz herstellen, dann werde in Staat und Verwaltung alles gut. Fast möchte man meinen, die Piraten und ihre Anhänger wären nicht Digital Natives, sondern digitale Naive.

Eine Männerveranstaltung sind sie außerdem. Fünfzehn Namen haben die Piraten auf ihrer Landesliste stehen, alle 15 wurden ins Abgeordnetenhaus gewählt. Nur eine Piratin ist darunter; selbst die CSU hat eine bessere Frauenquote. Sie wollen ihre Lernprozesse in einem Internet-Blog mit den Wählern teilen, so „Sendung-mit-der-Maus-mäßig“, sagt der Neu-Abgeordnete Christopher Lauer. Man mag das sympathisch finden.

Oder auch gefährlich. Würden die Berliner an die Piraten denselben Maßstab anlegen wie an andere Parteien, dann sollten sie nicht milde schmunzeln, sondern sich ernsthaft Sorgen um ihre Hauptstadt machen. Mal angenommen, die Piraten regieren irgendwann mit. Mal angenommen, dann reicht das Geld vor lauter urbaner Kreativität nicht mehr für Kindergärten und Schwimmbäder. Wahrscheinlich hängt dann an den verrammelten Türen ein Schild, so Sendung-mit-der-Maus-mäßig: „Das war – piratisch.


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1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Na ja, ich würde mich zumindest diebisch freuen wenn die Linken und Grünen sich nun gegenseitig die Stimmen klauen