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Alle haben die Piraten lieb, sympathisch sind sie und vielleicht ein  wenig unbedarft. Aber kaum ein Wähler hat in deren Programm geschaut.  Dort finden sich neben allgemeinen Floskeln und allerlei Unsinn auch  Forderungen, die zeigen, Piraten sind längst nicht so selbstlos, wie sie  sich geben. Im Kern sind sie eine neoliberale Partei. Ein KommentarEines  ist toll an den Piraten: Sie liefern Journalisten so schöne Metaphern.  Jetzt haben sie also das Abgeordnetenhaus in Berlin „geentert“ – johoho,  und ne Buddel voll Rum. Seltsam: Neoliberale Klientelparteien sind doch  eigentlich gerade auf dem absteigenden Ast. Denn dies sind die Piraten  im Kern. Ihr Hauptziel ist es, im Internet ungestört auf Kaperfahrt  gehen zu können, mit möglichst wenig Regeln und ohne großes Bedauern für  die, die nicht mitkommen.
 Ein buntes Völkchen sind die Wähler der Piraten. Laut Infratest Dimap liefen neben vielen Nichtwählern vor allem Grüne, Linke und Sozialdemokraten zur schwarzen Fahne über. Ob die wissen, wen sie da gewählt haben?
 Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, Parteiprogramme zum Beispiel. Im Programm der Bundes-Piraten  stehen drei große Kapitel zu Urheberrecht (weitgehend abschaffen),  Patentwesen (dito) und digitale Kommunikation (für alle zugänglich  machen) im Mittelpunkt und damit drei Kernthemen einer  Technokratenpartei. Dafür stellen sich die Berliner Piraten mitten ins  Leben. Ihr Grundsatzprogramm beginnt mit dem Recht auf Rausch.
 Richtig ist, die Piraten durchpflügen politische Gewässer, die  andere Parteien sträflich vernachlässigen. Gleich das Kapitel ihres  Programms ist „Mehr Demokratie“ überschrieben. Wenn die Existenz der  Freibeuter-Partei einen Sinn hat, dann den, Bürgerrechtsliberale  jeglicher Couleur an alte Werte zu erinnern: den Schutz der Freiheit des  Einzelnen und seiner unveräußerliche Rechte sowie eine Demokratie, die  diesen Namen verdient. Da legen die Segler unter schwarzer Flagge das  Enterbeil in eine klaffende Wunde der Parteiendemokratie – um die  Metapher mal so richtig auszukosten.
  Anders sieht es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Diesen  Themen widmen sich die Jungpolitiker nur in einem winzigen Kapitelchen  weit hinten. Es trägt die Nummer elf und beschränkt sich auf die  Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle. Nun muss  man kein Marxist sein, um zu wissen, dass Nachdenken über die  Gesellschaft zwecklos bleibt, wenn man die materielle Basis ausblendet.  Aber offenbar sitzt auf diesem Auge die schwarze Piratenklappe und  verhindert den Durchblick.
 Oder ist es vielleicht doch eher so, dass – Datenschutz hin,  Grundeinkommen her – die Politik der Piratenpartei auf die Durchsetzung  eigener Interessen gerichtet ist und auf einen Markt, der alles regelt?  Das Berliner Wahlprogramm  ist denn auch geprägt von der Forderung nach Deregulierung und freiem  Wettbewerb. Einzig mit ihrer Kritik an der Privatisierung der Berliner  Versorgungsbetriebe setzen sie einen kurzen anderen Akzent. Sonst geht  es um Sonderprobleme der digitalen Bohème, um mehr Urbanität für die  Kreativwirtschaft oder die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in der  Industrie- und Handelskammer. Das klingt nach Klientelpflege vom  Feinsten – das immerhin können die 
Nachwuchspolitiker schon... Sind die  Piraten also doch nicht so selbstlos, wie sie vorgeben? Steckt in der  Piratenpartei ein neoliberaler Kern?
 Bundeschef (oder metaphernmäßig Piratenkapitän) Sebastian Nerz kennt  die Erklärung dafür, warum so viele vor allem junge Menschen (bei den  unter 34-Jährigen 15 Prozent) ihr Kreuzchen bei den Freibeutern setzten:  „Die Menschen vertrauen den etablierten Parteien einfach nicht mehr.“  Es mag sein, dass es für dieses Misstrauen den einen oder anderen Grund  gibt – aber welchen gibt es denn, der Piratenpartei zu trauen?
 Der Berliner Landesvorsitzende Gerhard Anger rief am Wahlabend aus:  „Wir sind jetzt die stärkste liberale Partei in Berlin.“ Früher gab es  eine Partei, die füllte den Begriff „liberal“ mit deutlich mehr Inhalt  als Straflosigkeit für Raubkopierer oder Freiheit für Finanzjongleure.  Wenn die Piraten sich nun an der FDP messen, spricht das Bände über den  desolaten Zustand der Freidemokraten. Aber was sagt dies über die  Newcomer im Parteiensystem?
 Kein FDP-Kandidat hätte es gewagt, wie der Berliner Spitzenkandidat  der Piraten, Andreas Baum, die Schulden der Stadt im Wahlkampf  bagatellisierend mit „viele, viele Millionen“ zu beziffern. Die Piraten  taten dies anschließend als kleine Schwäche ab und haben anschließend,  „um zu zeigen, dass Piraten kreativ mit ihren Bildungslücken umgehen“,  eine Schuldenuhr als Smartphone-App programmiert. Die zeigt nun völlig  korrekt viele, viele Milliarden Euro, konkret knapp 64.
 Technisches Können soll also mangelndes Verständnis ausgleichen.  Aber Baums Panne zeugt weniger von geringer Sachkenntnis, sondern vor  allem von der mangelnden Bereitschaft, sich mit den Themen Finanzen und  Schulden überhaupt auseinanderzusetzen. Der moderne junge  Großstadtmensch will im Internet nicht nur kostenlos auf alle Inhalte  zugreifen können, er will auch umsonst mit öffentlichen Verkehrsmitteln  fahren. Allen Kreativen soll die Stadt Räume oder Flächen für ihre  Arbeit zur Verfügung stellen. Das ist letztlich nur konsequent, denn für  die Rechte an den Werken, die sie schaffen, soll im Internetzeitalter  schließlich niemand mehr bezahlen.
 Wie diese Wohltaten finanziert werden, ist den Piraten offenbar  egal. Nach den Schlagworten Steuern und Finanzen sucht man im Programm  der Partei vergeblich. Allein, wie will denn jemand ernsthaft  parlamentarisch mitarbeiten, der seine wichtigsten Hausaufgaben nicht  macht?
 Immerhin hat Spitzenkandidat Baum sich, wie er am Wahlabend stolz  erzählte, vor der Wahl schon einmal auf die Besuchertribüne des  Abgeordnetenhauses begeben. Dort dürfe man nicht twittern, „das können  wir dann ja gleich mal ändern“. Als wäre das das größte Problem der  Hauptstadt. Es ist reichlich unbedarft zu glauben, man müsse nur  Transparenz herstellen, dann werde in Staat und Verwaltung alles gut.  Fast möchte man meinen, die Piraten und ihre Anhänger wären nicht  Digital Natives, sondern digitale Naive.
 Eine Männerveranstaltung sind sie außerdem. Fünfzehn Namen haben die  Piraten auf ihrer Landesliste stehen, alle 15 wurden ins  Abgeordnetenhaus gewählt. Nur eine Piratin ist darunter; selbst die CSU  hat eine bessere Frauenquote. Sie wollen ihre Lernprozesse in einem Internet-Blog  mit den Wählern teilen, so „Sendung-mit-der-Maus-mäßig“, sagt der  Neu-Abgeordnete Christopher Lauer. Man mag das sympathisch finden.
  Oder auch gefährlich. Würden die Berliner an die Piraten denselben  Maßstab anlegen wie an andere Parteien, dann sollten sie nicht milde  schmunzeln, sondern sich ernsthaft Sorgen um ihre Hauptstadt machen. Mal  angenommen, die Piraten regieren irgendwann mit. Mal angenommen, dann  reicht das Geld vor lauter urbaner Kreativität nicht mehr für  Kindergärten und Schwimmbäder. Wahrscheinlich hängt dann an den  verrammelten Türen ein Schild, so Sendung-mit-der-Maus-mäßig: „Das war –  piratisch.
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1 Kommentar:
Na ja, ich würde mich zumindest diebisch freuen wenn die Linken und Grünen sich nun gegenseitig die Stimmen klauen
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