Generation Erdogan
„Es ist ein Einzelner, der diese Republik nach seinem Willen umgestaltet…an Selbstbewusstsein, Machthunger und Aufstiegswillen fehlt es ihm nicht…Der Präsident regiert mit harter Hand, indem er aggressiv die Grundrechte des Einzelnen beschneidet, Kritiker jagt, eine demokratische Gewaltenteilung als störend betrachtet.“
Diese Sätze aus der Einleitung des Buches von Cigdem Akyol über Tayyip Erdogan lesen sich wie eine Zustandsbeschreibung von Deutschland 2015. Das ist direkt unheimlich, vor allem, wenn man die Schlussfolgerung dazu liest: „Wenn man seinen Bürgern zeigt, dass sie ihren Lebensunterhalt verlieren, solange sie nicht der Parteilinie folgen, dann dauert es nicht mehr lange, bis eine Zivilgesellschaft eingeschüchtert ist.“
Was haben Merkel- Deutschland 2015 und Erdogans Autokratie gemeinsam? Eine ganze Menge, wie sich bei der Lektüre zeigt.
„Bürger werden überwacht, kritische Bewegungen zerstört, hinterfragende Meinungen als Verrat oder Spionage abgestempelt, die Pressefreiheit wird eingeschränkt, der Rechtsstaat wird ausgehöhlt, das Internet zensiert, regierungskritische Demonstranten werden von der Polizei zusammengeschlagen.“
Ganz soweit ist es bei uns noch nicht. Kritische Bewegungen werden bislang nur mit den schärfsten verbalen Waffen diffamiert und ausgegrenzt, die Medien haben sich freiwillig gleichgeschaltet und vorerst werden Demonstranten hauptsächlich von der Antifa zusammengeschlagen, die sich ermächtigt fühlt als Gesinnungswächter zu agieren. Der Polizeieinsatz gegen die eigene Bevölkerung ist demnächst in der sich dramatisch zuspitzenden Krise zu befürchten. Die Gezi- Proteste des Sommers 2013 haben gezeigt, welch tiefer Riss durch die türkische Gesellschaft geht, seit dem Sommer 2015 ist klar, dass es einen ähnlichen Riss in der deutschen Gesellschaft gibt.
Zurück zum Buch. Im ersten Kapitel gibt Akyol einen Überblick über die türkische Geschichte des letzten Jahrhunderts bis zum Erscheinen von Tayyip Erdogan auf dem politischen Parkett.
Erdogans Entwicklung vom Straßenkind zum Staatsoberhaupt spiegelt die Entwicklung der türkischen Gesellschaft wider. Die ehemals arme anatolische Bevölkerung hat eine starke Mittelschicht hervorgebracht, die mit wachsendem Selbstbewusstsein ihre Ansprüche durchsetzt. Heute gibt es Kopftuchträgerinnen im Parlament, was bei Erdogans Machtantritt noch verboten war. Erdogan selbst dürfte nicht im Parlament sitzen, wenn es nach der türkischen Justiz gegangen wäre. Im April 1998 wurde Erdogan wegen „Volksverhetzung“ zu zehn Monaten Haft verurteilt und mit lebenslangem Politikverbot belegt. Er hatte in einer Rede den türkischen Nationalisten Gökalp zitiert: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Moscheen sind unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Soldaten.“ „Das Gefängnis lässt einen reifen“, kommentierte Erdogan diese Erfahrung. Er schien sich von radikalen Positionen abzuwenden. Er forderte sogar eine Regierung, die sich weniger in das Leben ihrer Bürger einmischt. Wie viele Politiker dachte er nicht daran, seine eigene Ankündigung durchzusetzen.
Ins Parlament kam Erdogan dann doch noch, allerdings durch die Hintertür einer Nachwahl. Nun konnte er das Amt des Ministerpräsidenten, das seiner Partei AKP durch ihren Wahlsieg zustand, selbst ausüben. Sein Vertrauter Gül, der es bis dahin stellvertretend ausgeübt hatte, wurde sein Außenminister. Seitdem ist Erdogan dreimal wiedergewählt worden. In seiner Amtszeit wurde aus dem wirtschaftlich rückständigen Land der „anatolische Tiger“, dessen Wachstumsraten die Deutschlands, dem wirtschaftlich stärksten EU- Staat weit in den Schatten stellen.
Während Erdogans Amtszeit hat sich das Pro-Kopf- Einkommen verdreifacht, der Anteil der Armen an der Bevölkerung sank von 20 auf 3 Prozent. Von Wahlperiode zu Wahlperiode wurde die Opposition schlapper und schlapper. Daran änderten auch die Gezi- Park- Aufstände nichts.
Von Wahlperiode zu Wahlperiode konnte Erdogan seine Macht ausdehnen. In der Justiz wurden die Kemalisten nach und nach ersetzt. Seit einer Justizreform 2010 werden die 17 Verfassungsrichter durch den Präsidenten und das Parlament eingesetzt. „Gott sei Dank kann die Opposition jetzt nur noch von der Straße kommen“, kommentierte ein Regierungsmitglied. Die werde man demnächst in den Griff bekommen.
Ziemlich erfolgreich wurden die Medien an die Kette gelegt. Zwar gibt es eine Menge privater Unternehmen auf dem Mediensektor, aber seit dem Amtsantritt Erdogans hat nicht nur die Zensur, sondern auch die Selbstzensur ständig zugenommen. Letzteres erleben wir auch in der Ära Merkel. Wer kritisiert, fliegt. Auch das ist bei uns inzwischen Gang und Gäbe.
Weniger groß sind die Erfolge bei der Zensur des Internets. Deshalb ist das Netz ein steter Dorn im Auge Erdogans. Obwohl sich die Türkei wie Deutschland mit der Ratifikation des Internationalen Abkommens über bürgerliche und politische Rechte zur Einhaltung von Presse- und Meinungsfreiheit verpflichtet hat, werden hie wie da durch die gesetzlich legitimierte Zensur von Websites und die Verfolgung von Online- Usern die Rechte der Einzelnen verletzt. Erdogan ließ 6000 ehrenamtliche Twitterer und Facebook- Nutzer ausbilden, die von den Erfolgen seiner Regierung künden oder vom Fehlverhalten anderer Nutzer berichten. Heiko Maaß lässt durch eine unbekannte Zahl von Netz- IM unliebsame Kritiker im Netz sperren. Selbst unsere Bundeskanzlerin hat kürzlich persönlich von Marc Zuckerberg Zensur verlangt und liegt damit nicht nur auf Erdogans Linie, sondern ist ihm einen Schritt voraus.
Weil die Medien in der Türkei, wie bei uns, von Protesten nicht oder nur äußerst verzerrt berichten, sind in beiden Ländern Blogs, Foren, soziale Netzwerke, You Tube und Twitter zum Ersatzkommunikations- und Informationsmedium geworden. Wobei Twitter in der Türkei viel intensiver genutzt wird, als in Deutschland. Laut einer Umfrage erfuhren 69% der Demonstranten über Twitter von den Gezi-Protesten.
Soziale Medien stufte Erdogan deshalb als „größte Gefahr für die Gesellschaft“ ein. Unser Justizminister wird ihm da nicht widersprechen. Vielleicht kann sich Maaß noch die eine oder andere Anregung aus der Türkei holen. Der dortige Innenminister ließ ein Gesetz vorbereiten, um „Schmähungen“, auf Deutsch Hetze, und Aufrufe zur Revolte strafrechtlich verfolgen zu können. Bislang, jedenfalls ist das der Stand von 2014, wurde nichts daraus. Es kann aber noch kommen.
Weil die Unterwanderung sozialer Netzwerke nicht ausreicht, hat die türkische Regierung 2014 beschlossen, dass Behörden Websites ohne richterlichen Beschluss sperren und einzelne Inhalte löschen können.
Erdogan: „Twitter und solche Sachen werden wir mit der Wurzel ausreißen.“ Das ist allerdings schwerer als erwartet. Die türkische Gegenöffentlichkeit hat bisher immer Wege gefunden, die staatlichen Verbote zu umgehen.
Solange Erdogan an der Macht ist, gibt es Widerstand gegen ihn. Es lief in seiner ersten Amtszeit sogar ein Verbotsverfahren gegen seine Partei AKP, das allerdings eingestellt wurde. Die größten Proteste kamen aus der Bevölkerung. Etwa anderthalb Millionen Menschen wandten sich während der Gezi- Proteste gegen seine Regierung. Dabei ging es um viel mehr als um die Bebauungspläne für einen der zentralsten und geschichtsträchtigsten Plätze von Istanbul. Es ging gegen eine Regierung, die zunehmend abgehoben und autokratisch agierte. Zu einer geschlossenen Bewegung wurden die Proteste allerdings nicht. Dafür waren die Aktivisten zu unterschiedlich. Nach Abflauen der Demonstrationen, die sich landesweit ausgebreitet hatten, war Erdogan so stark wie zuvor. Am 10. August 2014, als die Türken ihren Staatspräsidenten wählten, machte Erdogan mit absoluter Mehrheit das Rennen. Hofft Kanzlerin Merkel, es ihm gleichtun zu können?
Cigdem Akyol: Generation Erdogan, Wien 2015
Vera Lengsfeld
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