wo kommen sie her?
Sie zählen zu den folgenreichsten Texten des Alten Testaments. Bis heute prägen sie nicht nur das Leben von Juden und Christen.
Es liegt ein großes Geheimnis über der Entstehungsgeschichte der "Zehn
Worte", des Dekalogs. Die Herkunft dieses Textes ist von mysteriösen,
furchteinflößenden Ereignissen umkleidet. Schon zwei Monate, so
schildert die Bibel, waren die Israeliten von Ägypten aus, dem Land
ihrer Knechtschaft, unterwegs, nun erreichten sie die Wüste Sinai. Am
Fuß des Berges Sinai schlagen sie ihr Lager auf. Von den Höhen des
Berges herab macht Gott dem Mose, ihrem Führer, ein Angebot: Er will mit
dem Volk, das seit dem Auszug aus Ägypten die lange ersehnte Freiheit
genießt und dabei ist, sich eine neue Ordnung zu geben, einen Bund
schließen, wenn dies ihm treue Gefolgschaft verspricht. Dem stimmen die
Israeliten zu.
Drei Tage bereiten sich die Menschen auf den großen Tag vor: Sie
waschen ihre Kleider; Männer und Frauen verzichten ab sofort auf intime
Begegnungen; vor allem halten sie gehörig Abstand zu dem Berg, auf dem
sich dieser machtvolle Gott offenbaren wird. Denn wenn sie - mit
Ausnahme von Mose - diesen Abstand nur geringfügig unterschreiten, sind
sie des Todes.
Im Feuer kommt Gott herab, Rauch steigt auf, der Berg
bebt, eine mächtige Posaune ertönt. Und schließlich teilt dieser
furchterregende Gott dem Mose, der als einziger in seine Nähe darf, die
Zehn Gebote mit (2. Buch Mose, Kapitel 19 und 20). Mose ist es, dem
Jahwe zunächst zwei Steintafeln übergibt, "beschrieben von dem Finger
Gottes". Nachdem Mose sie aus Wut über den Unglauben der Menschen und
ihre Verehrung eines goldenen Kalbs zerschmettert hat, fertigt er neue
an - in Gottes Auftrag.
Der Empfang der Gebote auf dem Gottesberg ist der Höhepunkt eines
umfangreichen Erzählwerks, das sich über mehrere alttestamentlic he Büc
her hinw eg erstreckt und immer wieder um die Person des Mose rankt.
Dieser Mann lässt sich historisch nicht mehr fassen, vielleicht gehört
er sogar ins Reich der Legenden. Doch die Zehn Gebote zeugen vom starken
Willen Israels, seinen Glauben und seine ethischen Grundsätze auf Dauer
zu regeln.
Die zehn Gebote sind ein Resümee
Dabei sind die Zehn Gebote nicht etwa ein eigenständiger,
abgeschlossener Text, sondern ein Resümee, eine "Lesehilfe" (so Matthias
Köckert in seinem Buch "Die Zehn Gebote") für die in der Bibel
folgenden umfangreichen Schilderungen des Ihre Fragen, unsere Antworten:
Glaubens und der Gesetze Israels im zwei-Siehe die folgende Seite ten
Buch Mose (Exodus). Dabei fällt auf: Die Zehn Gebote sind eigentlich
kein Gesetz. Richter, die mit ihnen arbeiten müssten, würden wohl
verzweifeln. Hier gibt es keine Wenn-dann-Regeln, kein Strafmaß. Die
"Zehn Worte" enthalten sowohl Gebote als auch Verbote (siehe den Text
auf Seite 64 dieser chrismon-Ausgabe), aber nicht im Sinne von
anwendbaren Normen. Es sind vielmehr Lebens- und Verhaltensregeln,
verfasst in einer ausgesprochen apodiktischen Form. Das Verbot des
Tötens zum Beispiel kennt keinerlei Ausnahme oder Einschränkung, keine
Klausel der Art: "Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz." Aber gerade
weil es im Dekalog um ethische, nicht um Strafrechtsnormen für konkrete
Einzelfälle geht, konnte er eine Jahrtausende dauernde
Wirkungsgeschichte entfalten und Geltung gewinnen.
Ethos statt Gesetz
Ethos statt Gesetz: Deshalb müssen auch die Variationen in den beiden
überlieferten Texten des Dekalogs (2. Buch Mose, Kapitel 20, und 5. Buch
Mose, Kapitel 5) nicht irritieren, noch viel weniger die
unterschiedliche Zählung der einzelnen Gebote je nach kirchlicher
Tradition. Zählt man die Ge- und Verbote genau durch, kommt man sogar
auf 13 oder 14. Juden, Katholiken und Lutheraner, Orthodoxe und
reformierte Christen zählen unterschiedlich.
Während Juden die Präambel
"Ich bin der Herr, dein Gott ..." bereits als erstes Gebot rechnen,
zählen Christen erst ab dem ersten Einzelgebot: "Du sollst keine anderen
Götter neben mir haben". Und bereits hier trennen sich die Zählungen
der Katholiken und Lutheraner von jener der Orthodoxen und Reformierten:
Erste verbinden die Verbote der Bilderverehrung und des Polytheismus
unter einer Ziffer, während orthodoxe und reformierte Christen das
Bilderverbot bereits als zweites Gebot verstehen. Erst am Ende des
Dekalogs gleicht sich die Zählweise wieder dadurch an, dass Orthodoxe
und Reformierte alle Besitzgier nach Mensch, Tier und Sachwerten
zusammenbinden.
Wer heute das historische Umfeld des Dekalogs verstehen will, der mag
das 2. und das 5. Buch Mose lesen. Danach wird ihm auch die Systematik
der Gebotstafeln nicht mehr so wichtig erscheinen.
chrismon.de
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