26. Juni 2013 von Schirrmacher
2010 prägte der türkische Ministerpräsident in seiner unnachahmlich
polemischen und polternden Art das Wort vom „Christenclub“. „Wenn sie
uns in der EU nicht wollen, verlieren wir nichts. Dann entscheiden sie
sich eben dafür, ein Christenclub zu sein.“ (nach DIE WELT vom 6.4.2010).
Das Wort vom „Christenclub“ war natürlich unsinnig, da die für die
Beitrittsverhandlungen zuständigen Beamten und Beamtinnen und der
Erweiterungskommissar der EU in Brüssel, die die Fortschrittsberichte
verantworten, nun wirklich nicht spezifisch christlich orientiert sind
oder christlich-missionarische Absichten verfolgen und die
Haupthindernisse für den EU-Beitritt der Türkei – wenn ich richtig
zähle, sind derzeit 13 Beitrittskapitel blockiert (vor allem die
Zypernfrage mit 8 Kapiteln, aber auch Beendigung von Folter,
Minderheitenrechte) – alle per se mit Islam oder Christentum nichts oder
fast nichts zu tun haben. Höchstens die Forderung nach
Religionsfreiheit in den Fortschrittsberichten hat überhaupt eine stark
religiöse Komponente, in der auch Islam und Christentum eine Rolle
spielen.
Um es nochmals anders und unjuristisch zu formulieren: Dass die EU
keinen Staat aufnehmen kann, der sich weigert, den de
facto-Kriegszustand mit einem EU-Mitglied (hier Zypern) zu beenden, hat
mit „Christenclub“ nichts zu tun und dieser Art Probleme könnte Erdogan,
wenn er wollte, über Nacht aus der Welt schaffen.
Das bewusst als Beleidigung verstandene Wort „Christenclub“, das
Erdogan meines Wissens seit drei Jahren nicht mehr verwendet hat, wird
nun aber vom Vorsitzenden der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe
des Bundestages, Johannes Kahrs (SPD), erneut zitiert und der
Bundeskanzlerin entgegengehalten, als wäre Kahrs ein Megafon Erdogans,
der doch derzeit genügend laute und schrille Töne gegen die
Massendemonstrationen in seinem Land von sich gibt und bei uns kein Echo
benötigt. Dass der seiner Partei angehörende Präsident des
EU-Parlaments Martin Schulz (SPD) noch warnendere Worte als die
Bundeskanzlerin fand, macht Kahrs Worte noch unverständlicher.
Kahrs wörtlich:
„Die EU ist aber kein Christenclub, sondern eine Wertegemeinschaft.“ „Diese Werte werden durch ein laufendes EU-Beitrittsverfahren gestärkt und können von der türkischen Regierung eingefordert werden.“ (nach SPIEGEL; Handelsblatt)
Ja, was anderes als „Werte“ wird denn von der Türkei eingefordert,
von Befürwortern wie Gegnern eines Beitritts der Türkei zur EU? Wer
fordert denn dagegen von der Türkei, christlich zu werden? Wer behauptet
denn, die Werte, wie sie etwa die Europäische Menschenrechtscharta
festhält, seien rein christliche Werte? Der türkische Staat soll
aufhören zu foltern, Minderheiten zu unterdrücken,
Minderheitenströmungen innerhalb des Islam zu verbieten und die
Pressefreiheit zu beschneiden! Sofort! Dazu müsste Erdogan in den
meisten Fällen noch nicht einmal das türkische Recht ändern, sondern es
einfach nur anwenden! Und: Für all das muss man kein Christ sein,
sondern muss nur Respekt vor der Menschenwürde anderer haben.
Dazu: Wenn ein laufendes EU-Beitrittsverfahren irgendetwas in der
Türkei stärken würde, hätte das ja längst geschehen müssen, denn
immerhin läuft das Verfahren bereits seit 2005 und die Türkei wurde 1999
zum Beitrittskandidaten ernannt. Seitdem hat es einerseits viele
Fortschritte gegeben, die zeigen, wie unspektakulär weitreichende
Änderungen möglich sind, andererseits hat es durch das selbstherrliche
Regime Erdogans aber auch große Rückschritte für Andersdenkende gegeben.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Lausanner Vertrag hat sich die
Türkei 1923 völkerrechtlich verpflichtet, allen christlichen Kirchen
einen normalen Rechtsstatus zu geben. Durch alle Wirren der türkischen
Geschichte hindurch wurde das Jahrzehnt für Jahrzehnt ignoriert, trotz
zeitweise enormem außenpolitischem Druck. Dies gilt auch nach 2005 und
auch, nachdem die Forderung nach Freiheit für religiöse Minderheiten
prominenter Bestandteil im EU-Fortschrittsbericht wurde. Was man in 90
Jahren nicht umgesetzt hat, obwohl es völlig kostenlos und
unproblematisch über Nacht umgesetzt werden könnte, soll also plötzlich
wie von Zauberhand geschehen, weil man der Türkei einen Beitrittstermin
in Aussicht stellt? Es macht doch wirklich viel mehr Sinn, was die EU
sagt: Erst ändern, dann beitreten!
Noch ein Wort: Das Wort vom „Christenclub“ ist eine Beleidigung aller
Christen, deren große Mehrheit in Europa für Religionsfreiheit eintritt
und im Gespann vor allem mit Nichtreligiösen möglich gemacht hat, dass
Religionsfreiheit zur Identität der EU gehört. Dabei spielt es keine
Rolle, ob diese Christen für einen EU-Beitritt der Türkei sind, oder ob
sie dagegen sind und abwarten, wie sich die Türkei verhält, um sich dann
eine Meinung zu bilden.
ThomasSchirrmacher
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