Liebevoll abgrenzen lernen
Die Fragen: ‚Wie kann ich lernen, mich besser abzugrenzen?’ und ‚Wie kann ich mich besser schützen?’ gehören zu den häufigsten Fragen, die von Hochsensiblen gestellt werden. Diese Fragen sind für jeden Menschen, der sinnvoll und erfolgreich leben möchte, sehr spannend. Für Hochsensible sind sie oft überlebenswichtig, zumindest wird dies oft so empfunden, weil die eigene Beeinflussbarkeit und geringe Belastbarkeit als Hindernis empfunden wird, um die eigenen Ziele zu erreichen und selbstbestimmt und frei zu leben.
Oft fällt es gerade HSP schwer, Grenzen zu setzen, weil wir dem eigenen Gefühl, das uns „Jetzt reicht es!“ sagt, nicht trauen. HSP sind oft unsicher, ob sie ihrer inneren Stimme trauen können, oder ob sie sich damit ins Abseits katapultieren würden und ihr „nein“ später bereuen werden. Auch werden Hochsensible von Konflikten überdurchschnittlich leicht gestresst, weil sie nicht nur die eigenen Gefühle, sondern auch die des Kontrahenten besonders deutlich spüren. Deshalb haben sich viele HSP angewöhnt, ihre Grenzen weder für sich klar zu definieren, noch diese zu kommunizieren, sondern zu hoffen, dass sich die Situation von selbst irgendwie verbessern wird. (Was zum Glück auch immer wieder geschieht.)
Es gibt auf die eingangs gestellten Fragen zwar keine einfachen Antworten, keine schnellen Rezepte, die für jeden Menschen in jeder Situation funktionieren. Dennoch haben wir eine Menge an Gedanken und Hinweisen gesammelt, die Sie je nach persönlicher Situation anwenden können.
Die Wichtigkeit von Grenzen anerkennen
Viele HSP fragen sich, ob und wann es überhaupt richtig ist, sich mit Grenzen zu beschäftigen. Diese Unsicherheit ist gut verständlich. Denn wir wollen nicht egoistisch sein, möchten andere Menschen nicht willkürlich ausgrenzen oder deren Bedürfnisse ignorieren.
Der bekannte Therapeut und Autor Wayne Muller schreibt dazu: „Wir zögern oft, Grenzen zu setzen, was unsere Zeit betrifft, unsere Aufmerksamkeit oder unsere Gesellschaft. Wir trauen uns oft auch nicht, den ungehinderten Zugang zu uns per Internet oder Telefon einzuschränken, weil wir nicht distanziert, unfreundlich oder nicht hilfsbereit erscheinen möchten. Wir fragen uns vielleicht sogar, welche innere oder äußere Berechtigung wir haben, jemand anderem Grenzen zu setzen. Wer sind wir, dass wir entscheiden können, was ein anderer tun darf und was nicht, warum sollten wir berechtigt sein, andere Menschen in deren Freiheit einzuschränken und in der Erfüllung ihrer Sehnsüchte zu behindern, bloß deswegen, weil sie uns damit belästigen? Was, wenn wir mit unseren Einschränkungen sie belästigen?“
Wayne Muller beschreibt dann eine Episode aus seinem Leben, als er sich nach einigen Jahren endlich dazu durchringen konnte, einen kleinen Zaun rund um sein Lieblings-Beet mit Pflanzenraritäten anzulegen, damit die Hasen diese Pflanzen nicht noch vor der Blüte abfressen. Bis dahin hatte er gedacht, es sei wohl das Lebensrecht der Hasen, seine Blumen zu fressen. Erst als ihm bewusst wurde, dass die Hasen auch anderswo mit gewöhnlichem Gras und Kräutern satt werden können, entschloss er sich zu dem Zaun.
Er schreibt später: „Um das heranzuziehen, was wir brauchen, benötigen wir Schutzzonen. Zeit und Aufmerksamkeit, die den für uns wichtigen Dingen gewidmet sind. Gesichert durch klare, für alle gut erkennbare Grenzen, die uns vor den endlosen Anforderungen, Entscheidungen und Verantwortlichkeiten, die ansonsten unsere Tage zerfressen, schützen. Damit wir erkennen können, was für uns wirklich wichtig ist, was für uns heilig ist. Indem wir Grenzen setzen rund um das, was für uns wertvoll und notwendig ist, erschaffen wir einen Platz für Freiheit und Fülle. Ohne selbst gezogene Grenzen – uns selbst und anderen gegenüber – werden wir vielleicht nie imstande sein, das zu pflanzen, zu hegen und zu ernten, wonach wir uns sehnen.“
Grenzen setzen lernen
Wenn man erkannt hat, dass es wichtig wäre, Grenzen zu setzen, kann es trotzdem schwierig sein, dies auch tatsächlich und mit Erfolg zu tun. Dafür kann es schwerwiegende innere Gründe geben, die nicht im Handumdrehen zu beheben sind:
- Schuldgefühle
- Schlechte Vorbilder
- Grenzüberschreitungen in der Kindheit
- Angst, andere Menschen zu verlieren
- Angst, andere Menschen zu kränken oder deren Rechte zu beschneiden
- Gefühle von Machtlosigkeit
- Grenzen für lieblos halten
- Selbst keine Grenzen akzeptieren können
- u.v.m.
Diese Hindernisse durchzuarbeiten und zu überwinden braucht Zeit und oft kompetente Hilfe. Es gibt keine Tricks und Abkürzungen, aber wenn Sie sich diesen Themen stellen, ist es sehr lohnend. Falls Sie sich alleine oder in einer kleinen Gruppe mit der Thematik beschäftigen möchten, haben wir für Sie eine Buchempfehlung:
Buchttipp: Nein sagen ohne Schuldgefühle, Dr. Henry Cloud, Dr. John Townsend
Dies ist ein Buch, das aus der christlichen Seelsorge entstanden ist.
Grenzen oder Mauern
Ganz ohne Abgrenzungen können wir nicht leben. Wenn wir uns schwer tun, klare Grenzen zu setzen, werden wir auf andere Weise Distanz schaffen müssen, das Leben zwingt uns ganz einfach dazu.
Es kann sehr hilfreich sein, sich bewusst zu machen, dass gesunde Grenzen, im Gegensatz zu Mauern, durchlässig sind. Bei einer im Alltag besonders häufigen Grenze, dem Gartenzaun, können wir viel über gesunde Grenzen lernen: Kleine Tiere können durchschlüpfen, der Wind kann durchstreichen, die Hecke des Nachbarn wird ihre Zweige durchstrecken, man kann sich mit dem Nachbarn über den Zaun hinweg unterhalten, und nicht zuletzt gibt es eine Türe, die man öffnen kann und liebe Besucher willkommen heißen.
Eine solche Grenze macht mir und der Umwelt klar, wofür ich zuständig bin und wofür nicht. Wenn ein Stück Mist auf der Wiese liegt, oder wenn der Rasen vertrocknet, ist es klar, wer sich damit befassen muss, wenn Blumen blühen, ist es eindeutig, wer sie pflücken darf. Allen ist dadurch geholfen, dass mein Nachbar und ich wissen, wo sein Garten endet und meiner beginnt.
Doch viele Menschen denken bei dem Wort ‚Grenze’ unwillkürlich an den Eisernen Vorhang, eine hohe Mauer mit Stacheldraht am oberen Ende, wo scharf geschossen wird, wo Beziehungen zerrissen werden und Willkür und Unrecht geschieht. Solche Assoziationen machen es schwer, sich mit dem Thema ‚Grenzen’ kreativ und liebevoll zu beschäftigen.
Menschen, die keine Grenzen setzen können oder wollen, müssen sich trotzdem gelegentlich schützen, meist tun sie dies, indem sie „mauern“. Das kann auf vielfältige Weise geschehen:
- Andere misstrauisch auf Distanz halten
- Sich verbergen, nicht ans Telefon gehen
- Schroff oder distanziert verhalten
- Keine eigene Meinung vertreten
- Mürrisch reagieren
- Andere attackieren, wenn diese unabsichtlich Grenzen überschreiten, die völlig unsichtbar sind
- Erst Zusagen machen und dann Ausflüchte finden
- u.s.w.
Wie fange ich an?
Das Leben ist viel schöner, und auch der Kontakt mit unseren Mitmenschen wird viel erfreulicher sein, wenn wir Grenzen setzen können, die durchlässig sind und die den Mitmenschen klar kommunizieren, wie ich bin und wie ich nicht bin. Was von mir zu erwarten ist und was nicht. Grenzen können dichter oder durchlässiger sein, je nach den Bedürfnissen des Eigentümers, aber sie brauchen die Sicht auf die Umwelt nicht zu verstellen. Im Gegenteil: Über den sicheren Zaun hinweg, ohne die Angst, dass der andere plötzlich zu nahe ist und womöglich etwas kaputt macht, plaudert es sich viel entspannter. Und die Türe kann jederzeit – aber nur von innen – geöffnet werden.
Eine schöne Vorstellung?
Dann beginnen Sie noch heute, sich ganz konkret mit Ihren Werten, Bedürfnissen und Ängsten in diesem Zusammenhang zu beschäftigen. Zuallererst machen Sie sich bitte bewusst, dass ein liebevoll gepflegter Gartenzaun für alle etwas Erfreuliches ist. Er zeugt von Selbstbewusstsein, aber auch von Verantwortungsgefühl.
1. Grundlegende Werte identifizieren
Damit wir unsere Grenzen an den richtigen Stellen setzen können, müssen wir unsere grundlegenden Werte kennen. Sie können sich folgende Fragen stellen:
- Was ist mir ganz besonders wichtig? (im Privatleben, im Beruf, spitituell)
- Was möchte ich am Ende meines Lebens erreicht haben?
- Wenn Sie nur noch ein halbes Jahr zu leben hätten, was würden Sie dann tun?
Auf diese Weise können Sie Ihre Werte erkennen. Schreiben Sie diese auf. Anschließend ordnen Sie diese Werte nach Wichtigkeit. Identifizieren Sie Ihre drei wichtigsten Grundwerte.
Nur wenn wir im Inneren wirklich wissen, warum wir eine Grenze ziehen, und warum wir sie genau an dieser Stelle ziehen, dann können wir diese Grenze auch einhalten und verteidigen, wir uns unter Druck gesetzt fühlen.
2. Ängsten im Zusammenhang mit Grenzen mutig entgegen treten
Mögliche Fragen, die Sie sich selbst stellen können:
- Stellen Sie sich vor, Sie sagen „Nein“ oder „Nicht jetzt“ oder „So nicht“. Was bewirken diese Vorstellungen? Wie fühlen Sie sich?
- Was sind meine Ängste, wenn ich mir vorstelle, meine Grenzen deutlich zu machen?
- Habe ich Angst, als lieblos angesehen zu werden?
- Habe ich Angst, jemanden zu verletzen?
- Habe ich Angst vor dem Alleinsein?
- Habe ich Angst, vom anderen überrollt zu werden, meine Grenze nicht verteidigen zu können und versuche ich es deswegen gar nicht erst?
- Vielleicht habe ich Angst, meine Pflicht den Mitmenschen gegenüber nicht zu erfüllen?
- Kann ich mir selbst gegenüber Grenzen setzen? Grenzen, die mir Sicherheit geben und meine Entwicklung unterstützen? Fällt es mir leicht, meine echten Bedürfnisse zu erfüllen, oder setze ich Ersatzhandlungen, wie zu viel essen, zu viel fernsehen, u.s.w. Bin ich wirklich liebevoll zu mir, oder bloß nachgiebig?
- Versuche ich, emotionalen Schmerz zu vermeiden, indem ich Klarheit vermeide?
Setzen Sie sich mit Ihren Ängsten auseinander. Es gibt keinen Grund, die eigenen Ängste für belanglos zu halten und sie zu übergehen. Denn viele von uns haben schwerwiegende Traumen gerade mit dem Thema Grenzen entweder selbst erlebt oder von ihren Vorfahren ‚geerbt’.
Als Erste Hilfe bei Schwierigkeiten „Nein“ zu sagen können Sie sich bewusst machen, dass der Ton die Musik macht. Mit einem charmant vorgebrachten „nein“, ev. verknüpft mit einem freundlichen Gegenvorschlag, werden Sie viel eher Freunde gewinnen als mit einem säuerlichen „Ja“, das beim Gegenüber Schuldgefühle weckt, und das sich später vielleicht als unhaltbar erweist.
Falls Sie immer wieder feststellen, dass jemand in Ihrem Lieblingsbeet herumlatscht, obwohl Sie Grenzen prinzipiell gut finden, so kann es auch sein, dass Sie nicht schnell genug merken, was eine Überschreitung ist und daher nicht schnell und eindeutig reagieren. In diesem Fall empfiehlt es sich, eine Zeitlang zur Übung möglichst oft als erste Reaktion „nein“ zu sagen. Ein „nein“ später auf ein „ja“ umzuändern ist viel leichter als umgekehrt. Mit der Zeit werden Sie dann besser und schneller spüren, wo Ihre Grenzen sind, und brauchen nicht mehr voreilig nein zu sagen.
Wie gehe ich mit Widerstand um?
Wenn Sie in lange bestehenden Beziehungen leben, in denen Ihre Grenzen nicht ausreichend gesehen und respektiert werden, und Sie sich entschließen, daran etwas zu ändern, dann müssen Sie sich auf Widerstand gefasst machen. Dieser kann sich so anhören:
- „Was hast du denn auf einmal?“
- „Tu mir das nicht an!“
- „Ich dachte, wir sind Freunde“
- „Von engagierten Mitarbeitern erwarte ich ganz einfach …“
- u.v.m.
Achten Sie auch darauf, dass Sie selbst die Grenzen der Anderen respektieren. Auch das kann Ängste auslösen, weil man meint, nicht mehr freien „Zugang“ zu den Nahestehenden zu haben. Versuchen Sie auch, sich mit ungebetenen Ratschlägen zurückzuhalten, und bemühen Sie sich ganz allgemein, den Anderen so zu akzeptieren, wie er jetzt ist. Das ist besonders in Nahbeziehungen oft nicht einfach. Doch jeder Erfolg in dieser Richtung macht es Ihnen leichter, Ihre eigenen Grenzen mit Selbstbewusstsein zu vertreten.
Besonders dann, wenn unsere Grenzen bereits in der Kindheit massiv verletzt wurden, wird es sehr schwer sein, dem inneren und äußeren Druck standzuhalten. Wahrscheinlich werden Sie mit Schuldgefühlen, Selbstzweifeln oder gar Existenzängsten zu kämpfen haben. Dann ist es wichtig, dass Sie sich Hilfe suchen. Am besten ist oft eine Selbsthilfegruppe geeignet, aber auch ein Coach, Therapeut, Lebensberater oder Seelsorger kann Ihnen helfen.
Wichtig ist, dass Sie dreierlei lernen: Ihren eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen, den inneren Druck zu heilen und dem äußeren Druck zu widerstehen. All dies ist ohne Hilfe sehr schwer, mit liebevoller Begleitung jedoch ein wichtiger Schritt zu Heilung und Selbstbestimmung.
Gehen Sie davon aus, dass die meisten Menschen Ihnen nicht schaden wollen. Sie sind bis jetzt vielleicht nicht gewohnt gewesen, von Ihnen ein ‚nein’ zu hören, und möchten den alten Zustand wiederherstellen.
Übernehmen Sie die Verantwortung für das, was in Ihrem Leben geschieht. Klare Grenzen werden nicht nur Ihnen, sondern auch den Menschen rund um Sie helfen, das richtige Maß an Verantwortung zu übernehmen, und eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten zu erlangen.
WIE sage ich es?
Wenn Sie „Nein“ sagen müssen, so ist es für Sie wie auch für den anderen einfacher, wenn Sie klar und deutlich kommunizieren. Machen Sie keine langatmigen Rechtfertigungen oder Entschuldigungen, keine weitschweifigen Einleitungen, sondern beginnen Sie mit dem Wesentlichen, was da lautet: Nein. Beginnen Sie Ihre Aussage mit dem Wort „Nein“:
- Nein, das mache ich nicht.
- Nein, tut mir leid, heute nicht.
- Nein, das kann ich diesmal nicht machen.
Schütteln Sie gleich zu Beginn den Kopf.
Halten Sie dabei Blickkontakt.
Wenn Sie an einer guten Beziehung zu der Person arbeiten möchten, dann können Sie im Anschluss eine positive Bemerkung machen oder eine Erklärung liefern:
- Vielleicht ein andermal, wenn ich mehr Zeit habe, mich darauf einzustellen.
- Dafür bin ich nicht geeignet, aber ich helfe dir gerne bei …
- Ich habe schon etwas anderes vor, aber nächste Woche habe ich Zeit
Sagen Sie diese positiven Dinge nur, wenn Sie sich frei fühlen. Ansonsten ist es besser, es bei einem knappen, deutlichen, freundlichen „Nein“ zu belassen. Mit Hilfe der Fähigkeit, Nein zu sagen und klare Grenzen zu setzen, werden Sie innere Stabilität gewinnen. Und langfristig werden sich Ihre Beziehungen sogar vertiefen.
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