Dienstag, 24. November 2015

Der radikale Islam braucht keinen Grund um zuzuschlagen.

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Von üblichen Reaktionen und moralischen Schwächen

Dr. Alexander Meschnig

Vorhersehbare Reflexe


Die Reaktion der mehrheitlich linken Presse und der führenden Politiker in Deutschland auf die islamistischen Terroranschläge in Paris war dieselbe wie bei allen vorangegangenen Attentaten: erstens, die Massenmorde haben nichts mit dem Islam zu tun; zweitens, die größte Gefahr sind jetzt die „Rechtspopulisten“, namentlich Pegida und die AFD, die Kapital daraus schlagen könnten; drittens, Grund für die Gewalttaten ist auch die westliche Politik, die eigentlichen Opfer sind die Muslime, in Europa vom Staat vernachlässigt, in den Bildungseinrichtungen und am Arbeitsmarkt diskriminiert, dem „Rassismus“ der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt und unter Generalverdacht gestellt; viertens die übliche Warnung an uns, also die deutsche Gesellschaft, ja kein „Feindbild Islam“ aufzubauen; und fünftens das moralische Gebot den islamistischen Terror nicht mit dem Flüchtlingsthema und der unkontrollierten Einwanderung in Zusammenhang zu bringen. So weit, so vorhersehbar.

Natürlich werden Frankreich auch gut gemeinte Ratschläge gegeben und seine indirekte Verantwortung für die Taten angemahnt: das kolonialistische Erbe, die sozialen Hierarchien der französischen Gesellschaft, die Existenz der Banlieues, versäumte Integrationsleistungen, Waffenlieferungen, die Beteiligung an Luftschlägen in Syrien, die fehlende Willkommenskultur. Dass der Bandleader der im Konzertsaal Bataclan auftretenden Eagles of Death Metal, Jesse Hughes, ein überzeugter Republikaner und außerdem Mitglied in der National Rifle Association ist, war dem stramm linken tagesspiegel ebenfalls eine Meldung wert. Der Schreiberling gibt mit seinem ekelhaften Subtext nur die übliche, aus Selbsthass gespeiste heimliche Rechtfertigung des Terrors. Motto: „Da wir, der Westen, so schlecht sind, ist es kein Wunder, dass wir angegriffen werden.“ Eigentlich haben wir das längst verdient. Dieses Narrativ verbreitet sich in seinen unterschiedlichen Nuancen desto mehr, je größer der Abstand zum Geschehen in Paris ist. Bei Charlie Hebdo hieß es nach kurzer Zeit: die Karikaturisten hätten doch nicht so provozieren müssen. Selber schuld.





Der Opferdiskurs



Das grundlegende Prinzip im Umgang säkularer europäischer Gesellschaften mit dem Islam lässt sich, nicht nur in Deutschland, in einem Satz zusammenfassen: die von einem wachsenden Teil der muslimischen Zuwanderer und ihrer Nachkommen praktizierte strikte Abgrenzung gegenüber den Werten der Mehrheitsgesellschaft wird in eine Schuld der Aufnahmegesellschaft verwandelt, die sich mit dem Vorwurf der Ausgrenzung konfrontiert sieht. Wir haben überall versagt, die Mordanschläge sind nur Effekte auf unsere offensichtlichen Versäumnisse. Der französische Soziologe Pascal Bruckner schreibt zur Logik dieses „Sündenstolzes“: 


„Man attackiert uns, also sind wir schuldig, unsere Angreifer sind in Wirklichkeit bedauernswerte Benachteiligte, die gegen unseren unverschämten Reichtum, unsere Lebensweise und unsere räuberische Wirtschaftsweise protestieren. (…) Nach jeder Explosion gibt es dieses Hin und Her an Begründungen, diese Überfülle an Erklärungen (…) weil es uns so sehr drängt, den Dschihadisten unsere Motivationen in den Mund zu legen, selbst wenn wir ihre Methoden ablehnen.“


Der Opfer- und Diskriminierungsdiskurs steht im Zentrum aller (linken) Debatten und übersieht das entscheidende Moment in der Auseinandersetzung: die islamische Kritik an der Dekadenz des Westens und den Wunsch nach Differenz, nicht nach Integration. Der Kern der islamischen Identitätspolitik ist heute Kulturkritik. Der Westen als korrumpierte und unmoralische Welt, das ist das Bild, das den Islam und seine Gläubigen als moralisch überlegene Instanz ausweist. Die radikale Abgrenzung gegen den Westen wirkt dabei als identitätsstiftende Essenz. Diese Selbstabgrenzung kann wiederum als eine Reaktion auf den jahrhundertelangen Niedergang der islamischen Welt im Verhältnis zum Abendland betrachtet werden.

Psychologisch besteht das Hauptproblem zwischen gefühlter Überlegenheit und tatsächlicher Schwäche darin, dass die religiös begründete Suprematie der islamischen Welt in der Realität ständig mit dem eigenen Versagen und der eigenen Unterlegenheit kollidiert. Die Wirklichkeit kann so nur mithilfe von Verschwörungstheorien umgedeutet werden, die nirgends mehr wuchern als in der arabischen Sphäre: Schuld am aktuellen Zustand der Umma ist der Westen, am Reinsten verkörpert durch die USA und Israel als Sitz des Judentums. Die Reinheit der Lehre wurde durch westliche Einflüsse: Popkultur, Fastfood, Nike, Filme, Frauenrechte, Homosexualität etc. zerstört; es gilt, zu den Wurzeln des Islam zurückzukehren. Mithilfe einer Inthronisierung der spirituellen und kulturellen Werte kann, trotz der ökonomischen und militärischen Schwäche, weiter am Bild der Überlegenheit des Islam festgehalten werden. Das führt unweigerlich zu psychischen Verwerfungen wie der Psychotherapeut und Kriegsreporter Eugen Sorg attestiert:


„Die Kluft zwischen grandiosem Selbstentwurf und Wirklichkeit der Moderne, begünstigt ein geistig-emotionales Klima, das zwischen Apathie, Beleidigtsein, Wut und Allmachtsphantasien wechselt. Man stilisiert sich zum Opfer, weist jede Verantwortung für seine Lage von sich, empfindet die Welt als feindliches Komplott.“






Gewalt um ihrer selbst willen


Diese Sichtweise ist auch deshalb so zwingend weil sie in der heimischen Büßergesellschaft auf fruchtbaren Boden fällt: immer sind es Armut, Unterdrückung und Ausgrenzung die den islamistischen Terrorismus erklären sollen. Es ist geradezu von rührender Naivität einen saudischen Multimillionär wie Osama bin Laden oder den angehenden Architekten Mohammed Atta als Benachteiligte sehen zu wollen. Alle vorhandenen Studien zeigen, dass palästinensische Selbstmordattentäter, Mitglieder der libanesischen Hezbollah oder Al Kaidas in der Regel aus Mittelschichtfamilien kommen und häufig Abitur haben, im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft also materiell besser gestellt und wesentlich gebildeter sind. Sieht man sich die Attentäter des 11. September an, findet man bestens in die westliche Gesellschaft integrierte Studenten und Akademiker. Natürlich gibt es auch die Terrorrekruten aus Teilen der Gesellschaft, die Marx das Lumpenproletariat und Hans Magnus Enzensberger die „radikalen Verlierer“ nennt. Aber sie sind mitnichten in der Überzahl und selbst viele der europäischen Konvertiten stammen aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Weder Ausgrenzung, Diskriminierung, Armut oder Bildungsferne können die entscheidenden Motive für die Mörder sein. Die obligaten Erklärungen für die Massenmorde, die auch jetzt wieder zu hören sind, zeigen nur den hilflosen Versuch einen rationalen Kern für die exzessive Gewalt, einen tieferen Sinn dahinter zu finden. Es gibt aber keinen. Al Kaida wie der IS sind im eigentlichen „unpolitische Bewegungen“ die keine Antwort auf eine konkrete Zukunft, etwa die nach einem ökonomischen Konzept für ihren Gottesstaat, geben. Die Zukunft interessiert sie nicht. Deswegen ist es auch vollkommen sinnlos über ein wie immer geartetes „politisches Programm“ mit ihnen zu verhandeln. Was zählt, ist einzig und allein Gewalt, die Verbreitung von Angst und Schrecken. Ein strategischer Sinn ist nicht wirklich erkennbar, die groß angekündigten Prophezeiungen (Errichtung des Kalifats, Vernichtung des großen Satans USA, Weltherrschaft) haben mit erreichbaren Zielen nichts zu tun. Geradezu absurd mutet in diesem Zusammenhang eine Meldung vom 19.11. in der WELT an, die Friedensbewegung diskutiere in Frankfurt über den Umgang mit dem IS. Viele würden gerne mit den Terroristen verhandeln – und es klingt fast wie ein Vorwurf – letztere hätten aber gar keine politischen Forderungen!


Die Attraktion des IS

Von vielen Attentätern und Anhängern ist bekannt, dass sie nicht besonders gläubig waren oder erst spät zum Islam fanden. Vielleicht muss man die Attraktion des IS – vergleichbar den Sturmabteilungen der Nationalsozialisten – weit mehr in der, insbesondere für junge Männer, faszinierenden Ikonographie des Dschihad suchen. Auffallend sind ja die sorgfältigen Selbstinszenierungen, das dominierende Schwarz (die Lieblingsfarbe aller Todesorganisationen, man denke an die SS), die stolze Präsentation der automatischen Waffen, das Männerbündische, die Geschwindigkeit und Beweglichkeit der Kämpfer auf ihren Pickups, die Rhetorik von glorreichen Siegen, schließlich die Dominanz der Jugend und die Vorstellung einer Elite anzugehören.

Der Dschihad, wie jede kriegerische Kultur, hat auch einen egalitären, brüderlichen Charakter, eine klare Ordnung und Orientierung – alles Anziehungskräfte denen die westliche Welt mit ihren freien, sprich: stets offenen und unsicheren Identitäten offensichtlich wenig entgegensetzen kann. Deshalb ist es auch naiv zu glauben mit mehr Sozialarbeit, Willkommenskultur und der Vermittlung unserer demokratischen Werte könnten diese jungen Männer befriedet werden. Der englische Psychiater und Publizist Theodor Dalrymple sieht darüber hinaus in der Unterdrückung der Frauen und ihrer sexuellen Verfügbarkeit einen der Hauptmotive für eine Hinwendung zum Islam:

 „The principal immediate attraction of Islam to young Muslims brought up in the West is actually the control and oppression of women.“

Es ist wohl nicht allzu gewagt, die Attraktion islamistischer Gruppen für viele junge Männer genau in den Möglichkeiten zu sehen, die die westliche Welt verwehrt und längst ächtet, auch wenn sich in uns alles gegen diese Einsicht sträubt. Die freie Verfügung über Frauen und die faktische Tatsache, all das ausleben zu können, was ansonsten tabuisiert bleibt: Menschen zu verstümmeln, zu exekutieren, zu vergewaltigen, absolute Macht über andere zu besitzen, zu morden, ganz einfach weil man in der Lage dazu ist, all das ist wohl in vielen Fällen ein stärkeres Motiv für die selbsternannten Gotteskrieger als die Religion des Islam.


Die moralische Schwäche des Westens

Wenn Frankreich, resp. Europa, dem IS nun gemeinsam den Krieg erklärt, wird abzuwarten sein, ob dahinter mehr als bloße Rhetorik angesichts der aktuellen Bilder von Paris steckt. Denn entscheidend für die herrschende Dynamik und die globale Auseinandersetzung ist auch eine moralische Schwäche des Westens. Die „postheroische Gesellschaft“ in die wir spätestens nach den beiden Weltkriegen eingetreten sind, kann dadurch definiert werden, dass praktisch niemand mehr dazu bereit ist, sich für eine Sache mit seinem Leben einzusetzen. Dass die Bundeswehr Verlustzahlen wie im Ersten Weltkrieg keinen einzigen Tag überstehen würde, zeigt die tiefe Verinnerlichung postheroischer Mentalitäten bis weit in die militärische Welt hinein, in der das eigene Opfer (Sacrifice) einst die höchste Tugend und Auszeichnung war. Einzige Söhne, in westlichen Wohlstandsgesellschaften sozialisiert und aufgewachsen, können nicht in verlustreichen Kriegen geopfert werden, während die islamische Welt aus demographischen Gründen stets aufs Neue unzählige Rekruten eines gigantischen Youth Bulges ins Feld schicken kann.


Die westliche Kultur, die praktisch kein Opfer für die Allgemeinheit mehr kennt, ist aber noch mehr eine, in der Krieg führen –  jedenfalls in der Form, wie sie bis vor kurzem noch üblich war – unmöglich geworden ist. 1945 hätten in einer ähnlichen Situation wohl Flächenbombardements ein Land wie Syrien einfach dem Erdboden gleich gemacht, ohne Rücksicht auf zivile Opfer. Selbstverständlich könnten etwa die USA Länder wie Afghanistan, Syrien oder den Irak militärisch vollständig zerstören. Politisch und moralisch ist das heute unmöglich. Das ist zweifelsfrei ein großer Fortschritt in Richtung Humanität, man sollte bei aller Zustimmung für eine solche Entwicklung die daraus folgenden Implikationen aber nicht vergessen. Denn diese freiwillige Selbstbeschränkung wird nicht nur von der islamischen Welt als solche wahrgenommen und in Konfliktsituationen ausgenutzt. Man weiß um die Schwäche des Gegners und die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit. Der Westen kann keinen Krieg gegen islamistische terroristische Gruppierungen gewinnen, egal wie überlegen seine militärische Macht auch sein mag. 

Die Stimmung in der eigenen Bevölkerung und die mediale Berichterstattung machen exzessive militärische Handlungen für demokratische Staaten unmöglich oder nur für ganz kurze Zeit denkbar. Die Gegenseite bezieht seine Stärke aber genau aus der äußersten Grausamkeit mit der sie vorgeht. Moralische Skrupel kennt der IS nicht, sie sind für die Islamisten nur ein Zeichen für die Schwäche des Westens, denn letzterer hat „nicht den Magen für einen langen Kampf“. So der ehemalige Chefdenker von Al-Qaida, Abu Bakr Naji, der in seinem „Management of Savagery“, einer trockenen fast 300seitigen Anleitung für Dschihadisten, das jeder im Internet einsehen kann, die Strategie des IS vorwegnimmt. Die „Verwaltung der Barbarei“ empfiehlt Angriffe auf „weiche Ziele“ aus den wachsenden islamischen Parallelgesellschaften in den westlichen Staaten. Keiner soll sich mehr sicher fühlen. Das klingt wie eine Anleitung zu den Terroranschlägen in Paris. Niemand kann auf jeden Fall später behaupten, dass die Islamisten ihre Ziele nicht öffentlich gemacht hätten. Sie tun es laufend.


Stimmen, die davor warnen die Islamisten nicht zu provozieren, die hier lebenden Muslime nicht generell zu verdächtigen (wer tut das überhaupt?), auf Verhandlungen und politische Beeinflussung zu setzen, auf Sozialarbeit und Dialog, den IS mit friedlichen Mitteln zu besiegen und den Begriff Krieg auf jeden Fall zu vermeiden, werden wieder lauter werden. Die naive Vorstellung man könne verschont werden, wenn man den aktuellen Gegner nicht reizt, ist in den Augen der radikalen Islamisten nur ein weiterer Beweis für die Verweiblichung der Männer, sprich: Symbol für die Dekadenz des Westens. „Ich ficke Frankreich wie eine Hure“, so der französische Rapper Sniper, Ausdruck für die Vorstellung, dass Europa längst schutz- und wehrlos ist. Nur noch Frauen und Schwache, an denen man seine Macht und die Wehrlosigkeit der Angegriffenen demonstrieren kann. Was wir auch tun, es wird die Gegenseite nicht befrieden:

„Der radikale Islam braucht keinen Grund um zuzuschlagen. Der Zerstörungswille ist immer schon vorher da. Der Westen kann sich verdrehen und verbiegen, wie er will, nichts wird den Hass der Radikalen beeinflussen. Er wird gehasst weil er der Feind ist und nicht weil er sich falsch verhalten hat.“ (Eugen Sorg)


Um das zu wissen, hätte man auch einfach in Israel nachfragen können. Seine Sicherheitsexperten sind wohl diejenigen, die am meisten Erfahrung mit dem islamistischen Terror haben. The Times of Israel fragt nicht umsonst in einem Artikel vom 17. November, kurz nach den Massenmorden in Paris: „Will the West now adopt Israel’s anti-terror strategies?“



Dr. Alexander Meschnig ist Psychologie, Politikwissenschafter und Publizist. Er lebt seit Anfang der 90er Jahre in Berlin.



Achse des Guten


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