Donnerstag, 3. Februar 2011

Warme Worte

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von Ernst Elitz

Der unachtsame Staat setzt immer mehr auf den uneigennützigen Bürgersinn und die Zivilcourage in der Bevölkerung, weil er selber nicht mehr willens ist, seine Pflicht zu erfüllen. Ernst Elitz, langjähriger Intendant von Deutschlandradio, über die Verantwortung eines achtsamen Staates.

Täglich wird die Zivilgesellschaft beschworen. Politisches Lob ergießt sich über die Frauen und Männer, die Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger mit heißer Suppe und warmen Decken versorgen. Während die Lokalgrößen sich im Stadtparlament parteipolitisch verzanken, pflegen Bürger städtische Grünanlagen und reparieren die von Komatrinkern zerkleinerten Bänke. Tapfere Fahrgäste stellen sich auf U-Bahnhöfen adrenalindampfenden Rowdys entgegen. Ergreift der Fahrgast dagegen das Hasenpanier, empören sich die moralischen Linienrichter: Wo bleibt die Zivilcourage? Warum waren alle wieder so feige? Beifällig spendet die Presse Gesinnungsapplaus.

Wie feige ist doch der Staat, der auf die Zivilcourage der Bürger setzt, weil er selber nicht mehr willens ist, seine Pflicht zu erfüllen. Er braucht den uneigennützigen Bürgersinn, und er nutzt ihn aus, denn er kaschiert sein Versagen – in der öffentlichen Wärmestube ebenso wie in verrotteten Schulen und verwahrlosten Stadtbezirken.

Wenn den Bundespräsidenten die Sorge treibt: „Sind wir achtsam genug aufeinander?“ – und wenn er beschwörend nach einer „neuen Achtsamkeit“ ruft, dann wäre es rührende Einfalt, hätte er nur die Wähler im Sinn und nicht auch die Gewählten. Wo der Staat nicht mehr achtsam ist und sein Ethos verrät, kann er vom Bürger schwerlich verlangen, dass der ihm täglich ein Vorbild an moralisch einwandfreiem Verhalten bietet.

Der unachtsame Staat schätzt den Bürger als Einnahmequelle. Er greift gern durch, wo es für den Ordnungsdienst ungefährlich und gewinnbringend ist. Wer seinen Wagen im Halteverbot abstellt, findet den Strafzettel prompt an der Windschutzscheibe. Wer in der Rauchverbotszone am Zigarettchen zieht, wird zur Kasse gebeten. Wer seinen Fahrschein vergisst, der wird wie ein Kleinkrimineller herausgewunken. Falschparker, Raucher, Schwarzfahrer und Schwarzseher abzukassieren, trägt weniger zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit bei als der Einsatz sympathischer Mitarbeiter im Sozialaußendienst, bei der Polizei und im Nahverkehr, wo sie nicht für bequemes Abkassieren, sondern für staatliche Achtsamkeit stehen und den Steuerzahler ermuntern, es ihnen gleichzutun. Ein achtsamer Staat wird vom Bürger geachtet. Aber der Bürger hat es nicht gern, wenn er heute als Melkkuh dient und morgen mit moralischer Geste von ihm verlangt wird, er solle als Lückenbüßer für einen pflichtvergessenen Staat eintreten.

Unachtsamkeit ist zum Programm geworden. Der Streifenpolizist, der auf den Straßen Freund und Helfer war, sitzt heute auf dem Revier und heftet Anzeigen ab, die keiner verfolgt. Der öffentliche Nahverkehr hat das Aufsichtspersonal in Rente geschickt. Ein Controller hat ausgerechnet, dass die Privatisierung des Risikos kostengünstiger ist. Den Aufsichtsdienst sollen mutige Passagiere übernehmen.

Im Krisenfall wird dem Vertreter der privaten Zivilcourage keine Hilfe zuteil. Bis der Funkwagen kommt, liegt er lädiert wie eine Zigarettenkippe am Boden. Und im Stadtparlament fordern die Oberschlauen mehr Videokameras auf öffentlichen Straßen und Plätzen. Doch der Bürger braucht keine scharf gestochenen Bilder vom Überfall, er will einfach nicht überfallen werden. Er will keinen roten Notrufknopf auf dem Bahnhof, sondern einen Bahnhofsvorsteher, er will nicht der Hilfe verzagter Mitbürger trauen, sondern er hat ein Recht darauf, dass der öffentliche Nahverkehr nicht nur seinen Fahrschein kontrolliert, sondern auch für seine Sicherheit sorgt.

Aber wäre es so einfach, wie es vernünftig ist, dann müsste der Bürgermeister auf einen Fototermin verzichten. Jetzt empfängt er den nach einer Attacke noch frisch Bandagierten im wohltemperierten Büro und erhebt ein Gläschen Orangensaft auf das Wohl der Zivilgesellschaft. Oder er verleiht dem Dahingeschiedenen posthum das Bundesverdienstkreuz am Bande. Es gibt keine größere Peinlichkeit, als wenn der Staat durch Ruhmesreden auf die Opfer sein eigenes Versagen bemäntelt.

Der Staat muss selber Courage zeigen. Wenn ein achtsamer Staat Verantwortung übernimmt, kann er Vertrauen gewinnen und mit Anstand vor seinen Bürgern bestehen. Ein Vorbild macht mehr Mut als wohlfeile warme Worte.

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