Ein geistiger Vorhang
zieht durch Europa
von Moritz Muecke
Ein Vorhang legt sich über Europa. Er trennt die vom Kommunismus
traumatisierten Länder des Ostens, insbesondere die Visegrad-Länder,
also Polen, die tschechische Republik, die Slowakei, und Ungarn, aber
auch die neuen Länder der Bundesrepublik, von den materiell saturierten
Ländern des Westens: Frankreich, Großbritannien, Westdeutschland und
Skandinavien. Der neue Vorhang ist kein „eiserner Vorhang“, sondern
vielmehr ein geistiger Vorhang.
Die neue europäische Trennung kommt insbesondere in der
Flüchtlingsfrage zum Vorschein. Der Osten will keine Migranten aus
islamischen Staaten aufnehmen, der Westen wiederum hat dafür kein
Verständnis. Der Osten gibt sich islamophob, der Westen zunehmend
okzidentophob. Im Osten grassiert die Angst vor dem zivilisatorischen
Untergang, im Westen herrscht spätrömische Dekadenz. Schließlich
klammert der Osten sich an altes und eigenes, während im Westen alles,
was neu und fremd ist, freudig begrüßt wird.
Diese Mentalitätsunterschiede lassen sich recht einfach aus den
verschiedenen Erfahrungen erklären, die im Westen und Osten Europas nach
dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurden. Der Osten musste ein knappes
halbes Jahrhundert in diktatorischen Verhältnissen unter dem
sowjetischen Knüppel vor sich hin darben. Das prägt. Alle Tricks der
modernen Tyrannei wurden an diesen Völkern exerziert, und schwer wiegt
dieses Vermächtnis auf ihren individuellen und kollektiven
Gedächtnissen. Auf der anderen Seite, im Westen, hat die Marktwirtschaft
die Ambitionierten reich und dick gemacht, während der Sozialstaat die
Würde der Armen geschützt und die Abstiegsängste der Mittelschicht
gemindert hat.
Nicht der Osten, sondern der Westen ist in einer abnormalen psychologischen Situation
In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, darauf hinzuweisen, dass
es nicht der Osten, sondern der Westen ist, der sich in einer abnormalen
psychologischen Position befindet. Krieg, Angst, Notwendigkeit—das sind
die herkömmlichen Kategorien mit denen sich zu allen Zeiten und Orten
die überwältigende Mehrheit der Bürger aller Staaten haben herumschlagen
müssen. Luxus und Freizeit war das Privileg der Wenigen, die freilich
immer schon von der Arbeit der Vielen gelebt haben. Dieses Muster
durchbrochen zu haben ist das Verdienst der westlichen Zivilisation in
der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Leider kommt man nicht
umher, gewisse psychologische Kollateralschäden diagnostizieren zu
müssen.
Besonders anschaulich lässt sich das am Beispiel der Angst
skizzieren. Sie ist Teil der menschlichen Natur und kann uns niemals
vollkommen ausgetrieben werden. Allerdings sucht sie sich neue,
künstliche Objekte, sobald es einem Staat gelingt, ihre natürlichen
Objekte - Krieg, Mord, Raub - aus der unmittelbaren Gegenwart zu
verbannen. Bald löst die Angst sich von den vulgären Vorurteilen der
Vergangenheit, bald steigt sie auf in immer höhere Sphären reinster
Abstraktion. Aus diesem Grund haben die Deutschen Angst vor einem
atomaren Super-GAU, dem nicht unmittelbar erlebbaren Klimawandel, und
dem durch Handelsabkommen verursachten, eigentlich lachhaften
Chlorhühnchen. Für solche abstrakten Ängste hat man in Osteuropa wenig
Verständnis – und zwar nicht nur deshalb, weil man den schweren Atem
Russlands im Nacken spürt.
Die west- und osteuropäischen Länder befinden sich in verschiedenen
Zyklen in der Entwicklung ihrer Staatlichkeit. Nach dem zweiten
Weltkrieg manövrierten sich die Westeuropäer in die Welt des
Aristoteles, für den ein erfolgreicher (Stadt-)Staat vor allem eine
Gemeinschaft von Menschen war, die eine gemeinsame Vorstellung von
Gerechtigkeit haben und durch eine gemeinsame Lebensweise
zusammengehalten werden, die wiederum durch Bildung perpetuiert werden
sollte. Er benutzte dabei das griechische Wort homonoia, was im
Deutschen etwa Gleichgesinntheit oder Gleichbeseeltheit entspricht. Es
ist eine Qualität, die eng mit Freundschaft verbunden ist, und
Aristoteles vertrat die Auffassung, dass Freundschaften (Stadt-) Staaten
zusammenhalten. In dieser aristotelischen Welt der Gleichbeseeltheit
ist Westeuropa in der Nachkriegszeit reich und, zumindest was niedere
Gefahren betrifft, weitgehend angstfrei geworden.
Osteuropa lebte nicht in der Welt des Aristoteles, sondern in der von Machiavelli
Das Los der Osteuropäer war freilich ein anderes. Sie lebten nicht in
der Welt des Aristoteles, sondern in der des Machiavelli. Spitzel- und
Überwachungsstaaten unterminierten das Vertrauen der Bürger
untereinander und erschufen Welten der Furcht. Für Aristoteles war es
ein Charakteristikum der Tyrannei, dass in ihr keine echten
Freundschaften entstehen können – der Tyrann hat ein Interesse daran,
dass die sich möglicherweise gegen ihn verschwörenden Untertanen
einander nicht über den Weg trauen. Für seine Leibgarde heuert er lieber
Fremde an, denn den eigenen Leuten traut er nicht. Letzteres entspricht
etwa dem Einrollen russischer Panzer zur Niederwerfung des Prager
Frühlings. Der aristotelische Staat wird durch Freundschaft
zusammengehalten, die machiavellistische Diktatur durch Angst und rohe
Gewalt.
Machiavelli selbst hatte großen Respekt vor der politischen Funktion
weitverbreiteter Angst im Staatsvolk. Für den Fall, dass es den
Untertanen einmal zu gemütlich werden sollte, empfahl er, nicht seltener
als alle zehn Jahre Massenhinrichtungen durchführen zu lassen, damit
der Schrecken in die Herzen der Menschen zurückkehrt. Denn wer Angst
hat, gehorcht. Wer Angst hat, lässt sich leichter manipulieren und für
die Interessen des Staates instrumentalisieren. Thomas Jefferson hatte
ähnliche Sorgen, als er berühmterweise empfahl, dass der „Baum der
Freiheit von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Tyrannen und Patrioten“
gedüngt werden müsse.
Jeder Nationalstaat westeuropäischer Prägung, insofern er erfolgreich
ist, ist immer auch ein Inkubator der Emanzipation des Staatsvolkes von
der physischen Notwendigkeit. In Deutschland kann das grünlinke Milieu
sich nur vor der Atomkraft fürchten, weil seine Grundbedürfnisse –
Nahrung, Wohnung, Sicherheit – weitgehend gedeckt sind. Warum sollte
jemand, der Hunger leidet, sich über die Ereignisse in Fukushima
echauffieren? Warum sollte eine von ihrem Mann misshandelte Frau sich um
das Weltklima kümmern? Oder um das Schicksal von Kindern aus der
dritten Welt?
Die rationale oder irrationale Angst der Menschen verschwindet nie ganz, sie wandelt sich nur
Die rationale oder irrationale Angst der Menschen verschwindet nie
ganz, sie wandelt sich nur. Aber wenn die Angst zu abstrakt wird,
verlieren wir den Instinkt für eine realistische Einschätzung der
menschlichen Natur. Angela Merkel sitzt als Kanzlerin der Bundesrepublik
einem System vor, dass auf dem Prinzip der Gewaltenteilung basiert,
welches wiederum ein skeptisches Menschenbild erkennen lässt. Die Väter
(und Mütter) des Grundgesetzes hielten es nicht für sicher, einem, auch
von Millionen von Bürgern gewähltem, Politiker eine uneingeschränkte
Macht über das Land zu erteilen. Deshalb gibt es die von der
amerikanischen Verfassung abgeguckten „Checks and Balances“. Aber wenn
unsere Kanzlerin der Welt die Toren öffnet, dann fliegt auf einmal all
das Misstrauen aus dem Fenster. Dazu bedarf es nur des Zauberwortes
„Flüchtlinge“ – nur keine Angst!
Es gibt Anzeichen dafür, dass in Europa Aristoteles und Machiavelli
die Plätze tauschen. Der aus den sich wirtschaftlich und zivilisatorisch
erholenden Visegrad-Staaten entfliehende Machiavelli findet im
zunehmend chaotischen Westeuropa Platz, wo ethnische und religiöse
Konflikte die Schlagzeilen mehr und mehr beherrschen. Aristoteles macht
derweil aus dem spätrömischen Westeuropa in die Visegrad-Staaten über,
wo ihn Bevölkerungen begrüßen, die sich nach Harmonie sehnen und ihre
Politik entsprechend ausrichten. Letztere haben sich von den
Schreckensjahren des Kommunismus hinreichend erholt, um jetzt selber den
Traum materiellen Wohlstands zu verfolgen.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Natürlich gibt es Länder
in Osteuropa, die sich mit extremen, strukturellen Problemen
herumzuschlagen gezwungen sind (etwa die Ukraine oder Georgien).
Allerdings sind zumindest die Visegrad-Staaten so weit gesundet, dass
sie es in Zukunft besser haben werden als das „alte Europa“. Als
Staatenbund wären sie eine echte Alternative zur verkrusteten und
undemokratischen (besser gesagt: antidemokratischen) EU. Ironischerweise
könnte hierbei auch Migration eine Rolle spielen – denn als Länder, die
europäische Kultur zu niedrigen Preisen und mit weitgehender Freiheit
von Terror und Kriminalität bieten können, wären sie für westeuropäische
Leistungsträger eine attraktive Adresse. Nur niedrigqualifizierten
Einwanderern aus der dritten Welt würden die Tore verschlossen bleiben.
Der großen intereuropäischen Rochade steht nichts im Weg
Natürlich hätten die neuen Gäste aus Westeuropa einige Hürden zu
nehmen, etwa die nur schwer zu erlernenden Sprachen Osteuropas.
Allerdings spricht die jüngere Generation in den Visegrad-Staaten sehr
gut Englisch – und bereits heute gibt es brauchbare Software zur
direkten, akustischen Übersetzung von Fremdsprachen in Echtzeit. In fünf
Jahren wird das Problem in dieser Form nicht mehr existieren. Der
großen intereuropäischen Rochade steht nichts im Weg.
Und der Westen? Seine Ängstlichkeit wird wieder an Abstraktion
verlieren. Die Terroranschläge in Frankreich, Belgien, und Deutschland
sind Teil eines Musters, nach dem das subjektive Sicherheitsempfinden in
Westeuropa sich momentan auf Talfahrt befindet (einige Twitter-Nutzer
lassen übrigens aktuell ihrem Unmut über die Anschlagsserie mit dem
Hashtag #merkelsommer freien Lauf). Durch die Massenmigration der
letzten Jahre sind vor allem Menschen aus chronisch tribalistischen,
korrupten, und fanatischen Kulturen zu uns gekommen. Der Islamismus, der
dem Islam wie sein Schatten zu folgen scheint, ist mittlerweile in
Westeuropa fest verankert. Wenn der Islam zu Deutschland gehört, dann
gehören bedauerlicherweise auch seine weniger erfreulichen Elemente zu
Deutschland, denn er ist deren notwendige Bedingung. Man muss kein Genie
sein, um zu sehen, dass vieles, was Westeuropa in der Vergangenheit so
gemütlich gemacht hat, in Zukunft zwischen islamischem Radikalismus auf
der einen, und den erstarkenden rechten Parteien auf der anderen Seite
zerrieben werden wird.
Die Probleme des Westens gehen allerdings über die Religion hinaus. So hat es kürzlich in Paris und in London
Unruhen gegeben, die in erster Linie ethnisch geprägt gewesen zu sein
scheinen – die Amerikaner benutzen hierfür den unschönen Begriff
„Rassenunruhen“ (race riots).
Nun würde ich Sie, werte Leser, gerne bitten, mir bei einem
Gedankenexperiment zu folgen. Stellen Sie sich vor, Sie würden mithilfe
einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen – sagen wir, nur ein
knappes Vierteljahrhundert ins Jahr der deutschen Wiedervereinigung
1990. Nun erklären Sie ihren damaligen Mitbürgern, dass es im Jahre 2016
in Westeuropa „Rassenunruhen“ à la Amerika geben würde; dass es nicht
möglich sein wird, eine religionskritische Karikatur anzufertigen, ohne
dass sich dabei die eigene Lebenserwartung dramatisch verkürzt; dass 20
Jahre nach ebenjener Wiedervereinigung ein Bundespräsident, Christian
Wulff, eine Rede zu ebenjenem Anlass halten wird, deren wichtigste
Botschaft der Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ sein wird. Wie
hätten ihre damaligen Mitbürger wohl auf Ihre Prognose reagiert?
Christopher Hitchens hat den Tod einmal – mit einiger Erleichterung –
als den Moment bezeichnet, an dem nicht die Party vorbei ist, sondern
an dem die Party weitergeht – nur dann eben ohne eigene Beteiligung.
Westeuropa hat mittlerweile so viel gefeiert, dass sich niemand mehr
daran zu erinnern scheint, dass auch die längste Party den Kater nicht
verhindert, sondern eher noch vergrößert. An dieser Stelle verliert die
Party-Metapher jedoch ihre Bedeutung, denn normalerweise ist ein Kater
auch immer ein Zeichen dafür, dass man aufgewacht ist.
Tu felix Polonia.
Moritz Mücke studiert Politik an der Graduiertenschule des
Hillsdale College in Michigan. 2015 ist er ein Publius Fellow am
Claremont Institute
Achse des Guten
...
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