Samstag, 30. Juli 2016

Interessante Sichtweise

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Ein geistiger Vorhang 

zieht durch Europa

von Moritz Muecke 


Ein Vorhang legt sich über Europa. Er trennt die vom Kommunismus traumatisierten Länder des Ostens, insbesondere die Visegrad-Länder, also Polen, die tschechische Republik, die Slowakei, und Ungarn, aber auch die neuen Länder der Bundesrepublik, von den materiell saturierten Ländern des Westens: Frankreich, Großbritannien, Westdeutschland und Skandinavien. Der neue Vorhang ist kein „eiserner Vorhang“, sondern vielmehr ein geistiger Vorhang.

Die neue europäische Trennung kommt insbesondere in der Flüchtlingsfrage zum Vorschein. Der Osten will keine Migranten aus islamischen Staaten aufnehmen, der Westen wiederum hat dafür kein Verständnis. Der Osten gibt sich islamophob, der Westen zunehmend okzidentophob. Im Osten grassiert die Angst vor dem zivilisatorischen Untergang, im Westen herrscht spätrömische Dekadenz. Schließlich klammert der Osten sich an altes und eigenes, während im Westen alles, was neu und fremd ist, freudig begrüßt wird.

Diese Mentalitätsunterschiede lassen sich recht einfach aus den verschiedenen Erfahrungen erklären, die im Westen und Osten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurden. Der Osten musste ein knappes halbes Jahrhundert in diktatorischen Verhältnissen unter dem sowjetischen Knüppel vor sich hin darben. Das prägt. Alle Tricks der modernen Tyrannei wurden an diesen Völkern exerziert, und schwer wiegt dieses Vermächtnis auf ihren individuellen und kollektiven Gedächtnissen. Auf der anderen Seite, im Westen, hat die Marktwirtschaft die Ambitionierten reich und dick gemacht, während der Sozialstaat die Würde der Armen geschützt und die Abstiegsängste der Mittelschicht gemindert hat.


Nicht der Osten, sondern der Westen ist in einer abnormalen psychologischen Situation


In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, darauf hinzuweisen, dass es nicht der Osten, sondern der Westen ist, der sich in einer abnormalen psychologischen Position befindet. Krieg, Angst, Notwendigkeit—das sind die herkömmlichen Kategorien mit denen sich zu allen Zeiten und Orten die überwältigende Mehrheit der Bürger aller Staaten haben herumschlagen müssen. Luxus und Freizeit war das Privileg der Wenigen, die freilich immer schon von der Arbeit der Vielen gelebt haben. Dieses Muster durchbrochen zu haben ist das Verdienst der westlichen Zivilisation in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Leider kommt man nicht umher, gewisse psychologische Kollateralschäden diagnostizieren zu müssen.

Besonders anschaulich lässt sich das am Beispiel der Angst skizzieren. Sie ist Teil der menschlichen Natur und kann uns niemals vollkommen ausgetrieben werden. Allerdings sucht sie sich neue, künstliche Objekte, sobald es einem Staat gelingt, ihre natürlichen Objekte - Krieg, Mord, Raub - aus der unmittelbaren Gegenwart zu verbannen. Bald löst die Angst sich von den vulgären Vorurteilen der Vergangenheit, bald steigt sie auf in immer höhere Sphären reinster Abstraktion. Aus diesem Grund haben die Deutschen Angst vor einem atomaren Super-GAU, dem nicht unmittelbar erlebbaren Klimawandel, und dem durch Handelsabkommen verursachten, eigentlich lachhaften Chlorhühnchen. Für solche abstrakten Ängste hat man in Osteuropa wenig Verständnis – und zwar nicht nur deshalb, weil man den schweren Atem Russlands im Nacken spürt.

Die west- und osteuropäischen Länder befinden sich in verschiedenen Zyklen in der Entwicklung ihrer Staatlichkeit. Nach dem zweiten Weltkrieg manövrierten sich die Westeuropäer in die Welt des Aristoteles, für den ein erfolgreicher (Stadt-)Staat vor allem eine Gemeinschaft von Menschen war, die eine gemeinsame Vorstellung von Gerechtigkeit haben und durch eine gemeinsame Lebensweise zusammengehalten werden, die wiederum durch Bildung perpetuiert werden sollte. Er benutzte dabei das griechische Wort homonoia, was im Deutschen etwa Gleichgesinntheit oder Gleichbeseeltheit entspricht. Es ist eine Qualität, die eng mit Freundschaft verbunden ist, und Aristoteles vertrat die Auffassung, dass Freundschaften (Stadt-) Staaten zusammenhalten. In dieser aristotelischen Welt der Gleichbeseeltheit ist Westeuropa in der Nachkriegszeit reich und, zumindest was niedere Gefahren betrifft, weitgehend angstfrei geworden.

 

 

Osteuropa lebte nicht in der Welt des Aristoteles, sondern in der von Machiavelli


Das Los der Osteuropäer war freilich ein anderes. Sie lebten nicht in der Welt des Aristoteles, sondern in der des Machiavelli. Spitzel- und Überwachungsstaaten unterminierten das Vertrauen der Bürger untereinander und erschufen Welten der Furcht. Für Aristoteles war es ein Charakteristikum der Tyrannei, dass in ihr keine echten Freundschaften entstehen können – der Tyrann hat ein Interesse daran, dass die sich möglicherweise gegen ihn verschwörenden Untertanen einander nicht über den Weg trauen. Für seine Leibgarde heuert er lieber Fremde an, denn den eigenen Leuten traut er nicht. Letzteres entspricht etwa dem Einrollen russischer Panzer zur Niederwerfung des Prager Frühlings. Der aristotelische Staat wird durch Freundschaft zusammengehalten, die machiavellistische Diktatur durch Angst und rohe Gewalt.

Machiavelli selbst hatte großen Respekt vor der politischen Funktion weitverbreiteter Angst im Staatsvolk. Für den Fall, dass es den Untertanen einmal zu gemütlich werden sollte, empfahl er, nicht seltener als alle zehn Jahre Massenhinrichtungen durchführen zu lassen, damit der Schrecken in die Herzen der Menschen zurückkehrt. Denn wer Angst hat, gehorcht. Wer Angst hat, lässt sich leichter manipulieren und für die Interessen des Staates instrumentalisieren. Thomas Jefferson hatte ähnliche Sorgen, als er berühmterweise empfahl, dass der „Baum der Freiheit von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Tyrannen und Patrioten“ gedüngt werden müsse.

Jeder Nationalstaat westeuropäischer Prägung, insofern er erfolgreich ist, ist immer auch ein Inkubator der Emanzipation des Staatsvolkes von der physischen Notwendigkeit. In Deutschland kann das grünlinke Milieu sich nur vor der Atomkraft fürchten, weil seine Grundbedürfnisse – Nahrung, Wohnung, Sicherheit – weitgehend gedeckt sind. Warum sollte jemand, der Hunger leidet, sich über die Ereignisse in Fukushima echauffieren? Warum sollte eine von ihrem Mann misshandelte Frau sich um das Weltklima kümmern? Oder um das Schicksal von Kindern aus der dritten Welt?

 

 

Die rationale oder irrationale Angst der Menschen verschwindet nie ganz, sie wandelt sich nur


Die rationale oder irrationale Angst der Menschen verschwindet nie ganz, sie wandelt sich nur. Aber wenn die Angst zu abstrakt wird, verlieren wir den Instinkt für eine realistische Einschätzung der menschlichen Natur. Angela Merkel sitzt als Kanzlerin der Bundesrepublik einem System vor, dass auf dem Prinzip der Gewaltenteilung basiert, welches wiederum ein skeptisches Menschenbild erkennen lässt. Die Väter (und Mütter) des Grundgesetzes hielten es nicht für sicher, einem, auch von Millionen von Bürgern gewähltem, Politiker eine uneingeschränkte Macht über das Land zu erteilen. Deshalb gibt es die von der amerikanischen Verfassung abgeguckten „Checks and Balances“. Aber wenn unsere Kanzlerin der Welt die Toren öffnet, dann fliegt auf einmal all das Misstrauen aus dem Fenster. Dazu bedarf es nur des Zauberwortes „Flüchtlinge“ – nur keine Angst!

Es gibt Anzeichen dafür, dass in Europa Aristoteles und Machiavelli die Plätze tauschen. Der aus den sich wirtschaftlich und zivilisatorisch erholenden Visegrad-Staaten entfliehende Machiavelli findet im zunehmend chaotischen Westeuropa Platz, wo ethnische und religiöse Konflikte die Schlagzeilen mehr und mehr beherrschen. Aristoteles macht derweil aus dem spätrömischen Westeuropa in die Visegrad-Staaten über, wo ihn Bevölkerungen begrüßen, die sich nach Harmonie sehnen und ihre Politik entsprechend ausrichten. Letztere haben sich von den Schreckensjahren des Kommunismus hinreichend erholt, um jetzt selber den Traum materiellen Wohlstands zu verfolgen.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Natürlich gibt es Länder in Osteuropa, die sich mit extremen, strukturellen Problemen herumzuschlagen gezwungen sind (etwa die Ukraine oder Georgien). Allerdings sind zumindest die Visegrad-Staaten so weit gesundet, dass sie es in Zukunft besser haben werden als das „alte Europa“. Als Staatenbund wären sie eine echte Alternative zur verkrusteten und undemokratischen (besser gesagt: antidemokratischen) EU. Ironischerweise könnte hierbei auch Migration eine Rolle spielen – denn als Länder, die europäische Kultur zu niedrigen Preisen und mit weitgehender Freiheit von Terror und Kriminalität bieten können, wären sie für westeuropäische Leistungsträger eine attraktive Adresse. Nur niedrigqualifizierten Einwanderern aus der dritten Welt würden die Tore verschlossen bleiben.

 

 

Der großen intereuropäischen Rochade steht nichts im Weg


Natürlich hätten die neuen Gäste aus Westeuropa einige Hürden zu nehmen, etwa die nur schwer zu erlernenden Sprachen Osteuropas. Allerdings spricht die jüngere Generation in den Visegrad-Staaten sehr gut Englisch – und bereits heute gibt es brauchbare Software zur direkten, akustischen Übersetzung von Fremdsprachen in Echtzeit. In fünf Jahren wird das Problem in dieser Form nicht mehr existieren. Der großen intereuropäischen Rochade steht nichts im Weg.

Und der Westen? Seine Ängstlichkeit wird wieder an Abstraktion verlieren. Die Terroranschläge in Frankreich, Belgien, und Deutschland sind Teil eines Musters, nach dem das subjektive Sicherheitsempfinden in Westeuropa sich momentan auf Talfahrt befindet (einige Twitter-Nutzer lassen übrigens aktuell ihrem Unmut über die Anschlagsserie mit dem Hashtag #merkelsommer freien Lauf). Durch die Massenmigration der letzten Jahre sind vor allem Menschen aus chronisch tribalistischen, korrupten, und fanatischen Kulturen zu uns gekommen. Der Islamismus, der dem Islam wie sein Schatten zu folgen scheint, ist mittlerweile in Westeuropa fest verankert. Wenn der Islam zu Deutschland gehört, dann gehören bedauerlicherweise auch seine weniger erfreulichen Elemente zu Deutschland, denn er ist deren notwendige Bedingung. Man muss kein Genie sein, um zu sehen, dass vieles, was Westeuropa in der Vergangenheit so gemütlich gemacht hat, in Zukunft zwischen islamischem Radikalismus auf der einen, und den erstarkenden rechten Parteien auf der anderen Seite zerrieben werden wird.

Die Probleme des Westens gehen allerdings über die Religion hinaus. So hat es kürzlich in Paris und in London Unruhen gegeben, die in erster Linie ethnisch geprägt gewesen zu sein scheinen – die Amerikaner benutzen hierfür den unschönen Begriff „Rassenunruhen“ (race riots).

Nun würde ich Sie, werte Leser, gerne bitten, mir bei einem Gedankenexperiment zu folgen. Stellen Sie sich vor, Sie würden mithilfe einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen – sagen wir, nur ein knappes Vierteljahrhundert ins Jahr der deutschen Wiedervereinigung 1990. Nun erklären Sie ihren damaligen Mitbürgern, dass es im Jahre 2016 in Westeuropa „Rassenunruhen“  à la Amerika geben würde; dass es nicht möglich sein wird, eine religionskritische Karikatur anzufertigen, ohne dass sich dabei die eigene Lebenserwartung dramatisch verkürzt; dass 20 Jahre nach ebenjener Wiedervereinigung ein Bundespräsident, Christian Wulff, eine Rede zu ebenjenem Anlass halten wird, deren wichtigste Botschaft der Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ sein wird. Wie hätten ihre damaligen Mitbürger wohl auf Ihre Prognose reagiert?

Christopher Hitchens hat den Tod einmal – mit einiger Erleichterung – als den Moment bezeichnet, an dem nicht die Party vorbei ist, sondern an dem die Party weitergeht – nur dann eben ohne eigene Beteiligung. Westeuropa hat mittlerweile so viel gefeiert, dass sich niemand mehr daran zu erinnern scheint, dass auch die längste Party den Kater nicht verhindert, sondern eher noch vergrößert. An dieser Stelle verliert die Party-Metapher jedoch ihre Bedeutung, denn normalerweise ist ein Kater auch immer ein Zeichen dafür, dass man aufgewacht ist. 

Tu felix Polonia.


Moritz Mücke studiert Politik an der Graduiertenschule des Hillsdale College in Michigan. 2015 ist er ein Publius Fellow am Claremont Institute





Achse des Guten
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