Samstag, 2. Juli 2016

Zurück auf Los

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 Thilo Sarrazin

Diese Form 
der Einwanderung brauchen wir nicht

 

Das Buch Völkerwanderung beginnt mit einer historischen Betrachtung, die für die Debatte über Migration sehr wichtig ist. Es wird heute verbreitet so getan, als sei Einwanderung das Normale. Nichts ist falscher als das – Einwanderung in großem Stil war eine historische Ausnahme. Nach der Völkerwanderung, in deren Verlauf sich das Römische Reich auflöste, gab es innerhalb von Europa Binnenkriege und andere Krisen, es gab aber keine nennenswerte Einwanderung von außerhalb Europas. Die gibt es erst seit ganz wenigen Jahrzehnten. Sie ist eine Ausnahme und nicht die Regel.

Das Buch von Václav Klaus und seinem Koautor Jirˇí Weigl, um das vorweg klarzustellen, ist nicht einwanderungsfeindlich. Das wäre ja auch Unsinn. Ich trage einen französischen Nachnamen, die beiden Autoren tragen deutsche Nachnamen, und dies vermutlich nicht von ungefähr. Selbstverständlich müssen Menschen aus- und einwandern können – weil ihre beruflichen Fähigkeiten anderswo nachgefragt werden, weil sie ihr Glück anderswo suchen, weil sie ins Ausland heiraten. Es geht also nicht darum, dass sich Länder auf einmal gegeneinander abschotten wollen oder sollen.
Aber Einwanderung und Asyl sind zweierlei. Und, um auch das klarzustellen: Die Gewährung von Asyl ist etwas, das weder die Autoren noch ich auch nur im Mindesten in Frage stellen. Was jedoch im Augenblick geschieht, dass nämlich unter dem Vorwand der Asylsuche eine große, letztlich wirtschaftlich motivierte Masseneinwanderung stattfindet – das ist ein ganz anderes Thema.


Wo auf innere Grenzen verzichtet wird, muss es äußere Grenzen geben
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Menschen sind bestrebt, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und ihre Lebensumstände zu verbessern. Das kann ihnen keiner vorwerfen. Die Autoren sprechen hier von individueller Migration, die sie von der Massenmigration seit Beginn des Sommers 2015 unterscheiden. Diese Migrationskrise, so nennen sie es, wurde ausgelöst durch politische Entscheidungen oder Nichtentscheidungen in Europa – insbesondere mit der verfehlten Konstruktion des Schengen-Raums. Wo auf innere Grenzen verzichtet wird, muss es äußere Grenzen geben. Diese Logik aber sah man von vornherein nicht – und setzte sie dann 2015 noch explizit außer Kraft. Die Migrationskrise ist letztlich nicht Ergebnis von Problemen im Nahen Osten und in Afrika – sie ist ein von EU-Politikern selbst verursachtes Problem.

Völkerwanderung stellt zu Recht die Frage: Brauchen wir überhaupt Einwanderung im großen Stil? Das wird gern bejaht und mit dem Argument des Wohlstands begründet. Das aber ist unsinnig. Wohlstandfördernd ist Einwanderung nur dann, wenn die Einwanderer mehr können als die Bewohner des Landes, in das sie einwandern. Können sie weniger, wird das immer auf Kosten des allgemeinen Wohlstands gehen. Ebenso wenig brauchen wir Einwanderung aus demografischen Gründen. Nicht die Bevölkerungszahl ist von Belang, sondern was die Bevölkerung tut, was sie kann, welchen Bildungsstandard sie hat. Deshalb ist die unverdrossen wiederholte Forderung, wir bräuchten Einwanderung, um demografische Ziele zu erreichen, in dieser vereinfachten Form Unfug.



 

Zentral oder weniger zentral ist nicht die Frage
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Auch auf EU-Ebene, so kritisieren Václav Klaus und Jirˇí Weigl, seien anstelle von pragmatischen Beschlüssen zur Bewältigung der Krise vor allem „Phrasen zu hören wie die, das Rezept sei noch mehr Europa, noch mehr Zentralisierung“. Da bin ich weniger skeptisch als die Autoren; denn zentral oder weniger zentral ist nicht eigentlich die Frage. Es gibt Zentralstaaten, auch große Zentralstaaten, die funktionieren. Es gibt kleine föderale Staaten, die nicht funktionieren. Es kommt darauf an, dass die Regelungen eine innere Logik haben.

Für die EU gilt: Die Zollunion war gut, der gemeinsame Wirtschaftsraum war richtig. Aber schon die gemeinsame Währung kann real eigentlich nur in einer EU funktionieren, die sogar noch wesentlich zentraler ist als die augenblickliche – weshalb die Sache meiner Meinung nach auch auf Dauer nicht gelingen wird. Ähnliches gilt auch für eine gemeinsame Einwanderungspolitik oder ein gemeinsames Grenzregime. Entweder werden wirklich Kompetenzen zentralisiert, dann kann die EU zu einem Modell kommen, das funktioniert. Wenn dies nicht möglich ist, dann muss die EU zu einem Punkt zurück, von dem aus die Dinge weniger zentral gestaltet werden.

Gerade beim Themenkomplex Einwanderung, Grenzkontrollen, Niederlassungsfreiheit und Verteilung von Flüchtlingen im Schengen-Raum ist nicht zu übersehen, wie die ungelösten Fragen jetzt aufbrechen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die EU nur funktionieren wird, wenn man entweder ein Stück zurückgeht mit der Zentralisierung – das ist die Position von Václav Klaus und Jirˇí Weigl –, oder indem man sagt: Da wir nun schon so weit sind, müssen wir weiter, hin zu einem europäischen Innenministerium, zu einem europäischen Asylrecht. Das wäre der Weg, den ich mir denken kann, auch wenn ich keine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für seine Verwirklichung sehe.

In der Mitte stehen bleiben können wir jedenfalls nicht. Das ist wie ein Mensch, der gerade über einen Abgrund springt und mitten im Sprung auf einmal denkt: Hier könnte ich eigentlich verweilen. Das wird nicht funktionieren. Er wird nur diesseits oder jenseits des Abgrunds überleben. Sich bei diesem Sprung zu entscheiden, ist das Hauptproblem mit der Zentralität in der EU.




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