Dienstag, 23. November 2010

Der Zorn der kleinen Leute


von Frank A. Meyer

Die Debatte um die Integration geht nach Horst Seehofers jüngsten Äußerungen unvermittelt heftig weiter. Der Schweizer Journalist Frank A. Meyer setzt sich pointiert mit der Haltung der Kleinbürger gegenüber dem Islam auseinander und schreibt, wo Sarrazin Recht hat: "Die 'anständigen Deutschen' fühlen sich ignoriert, missachtet und übergangen."

Wer hat eigentlich Deutschland aufgebaut? Das Deutschland, in dem Wirtschaftswunder und Demokratiewunder gleichzeitig, ja gemeinsam Karriere machten; das Deutschland auch, das in der ganzen Welt als politisch, kulturell und finanziell großzügige Nation wahrgenommen wird; das Deutschland der vergangenen 61 Jahre; das Deutschland von heute.

Waren es nicht die kleinen Leute, die dieses Deutschland aus der Taufe gehoben haben und seitdem als dessen Paten dafür einstehen – mit ihrem Fleiß, ihrem Pflichtbewusstsein, ihrer Ordnungsliebe, vor allem auch mit ihrem ganz normalen Gemeinsinn nach innen wie nach außen? Garantieren nicht diese Kleinbürger und ihr kleiner Wohlstand den Erfolg der ersten gesicherten deutschen Demokratie? Haben nicht vor allem sie für dieses Deutschland gearbeitet, geschuftet und sogar gestritten, ohne dabei viel Aufheben von sich selbst zu machen?

Einfache Leute, kleine Leute, Kleinbürger, oft und gern als Spießbürger verächtlich gemacht – um sie geht es in diesem deutschen Herbst: Zu Tausenden, zu Hundertausenden melden sie sich plötzlich zu Wort, nachdem Thilo Sarrazin eine Bresche für sie geschlagen hat. Es sind Spießer, die morgens eilig zur Arbeit gehen, nachdem sie ihre Kinder in die Schule gebracht haben; die sich am Tag mit der Zeitung und am Abend beim Fernsehen ihre Meinung bilden über die öffentlichen Angelegenheiten; die sich sonntags im städtischen Park ergehen und sommers am nahen See; die danach ordentlich die Abfälle ihres Picknicks zusammenräumen und entsorgen.

Auffällig geworden sind diese kleinen Deutschen bislang nie, darum auch nicht nennenswert erschienen für Politik und Publizistik, wenngleich ihnen Martin Walser, der Honoré de Balzac unserer Tage, in seinem Werk manch wunderbare Passage gewidmet hat. Diese Bürgerinnen und Bürger haben in den vergangenen Jahrzehnten einfach nur still funktioniert. Und ebenso still ihre Stimme abgegeben: für SPD oder CDU/CSU oder FDP; nach dem Schock der 68er, denen sie zunächst nur erschrocken zuschauten, wählen sie mittlerweile auch die Grünen – neuerdings sogar die Linke.

Ja, die Kleinbürger sind Deutschlands Glück! Seit mehr als zwei Generationen. Das große Glück des Landes wurzelt im kleinen Glück seiner Bürger.

Haben nicht auch die Intellektuellen, die politischen Denker und Literaten, die Maler und Musiker und Theaterleute die deutsche Demokratie aufgebaut und befestigt? Sie verliehen ihr den Glanz, sie verdeutschten die Gedanken von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Sie dachten vor und sie dachten nach. Mit publizistischem Bienenfleiß befruchteten sie das politische Sehen und Denken. Ein vielstimmiges Summen erfüllte Deutschland – nach 1949, nach 1968, auch nach 1989. Vor allem nach 1989!

Nun hat einer aus diesen Gefilden ein Buch geschrieben und aufgedeckt, wie zerrissen die deutsche Gesellschaft ist: Hier die Elite, die sich auch selber gern so bezeichnet. Sie ist gegen Sarrazin. Und dort die Spießer, als die sie von der Elite gern bezeichnet werden. Sie sind für Sarrazin.

Was ist geschehen? Nichts ist geschehen. Und gerade darum ist etwas passiert: Die „anständigen Deutschen“ fühlen sich ignoriert, missachtet, übergangen, rechts und links liegen gelassen. Zu Unrecht? Zu Recht? Jedenfalls sehen sie es so, spüren sie es so, ist es für sie so: Allzu lange mussten sie zur Kenntnis nehmen, wie der Multikultikult aus den Migranten eine Art bessere Deutsche machte – unspießige Deutsche, weil „so erfrischend anders“, interessante Deutsche, weil aus fremden Welten, sympathische Deutsche, weil arm, weil ungebildet, weil ganz unten angesiedelt in der gesellschaftlichen Hierarchie, weil Opfer des Bösen in dieser globalisierten Welt, weil Opfer insbesondere eines brutal auf wirtschaftliche Effizienz dressierten Deutschland. Die Heilige Jungfrau dieser heiligen Einfalt ist Claudia Roth.

Zwar wird die Chancenlosigkeit der Migrantenkinder in den Schulen zu Recht beklagt. Nicht beklagt dagegen wird die Chancenlosigkeit deutschsprachiger Schülerinnen und Schüler, die als Minderheit, oft genug als verschwindende Minderheit in vielen Schulklassen um entscheidende frühe Entwicklungserfolge gebracht sind. Meist kämpfen die Eltern dieser Kinder vergebens um ein Plätzchen in sprachkulturell einigermaßen ausgewogenen Schulklassen. Wer es sich leisten kann, rettet sein Kind in die Privatschule. Den meisten aber fehlt dazu das Geld.

Und natürlich machen sich Deutschlands Spießer darüber ihre Gedanken. Da es sich bei den Erfolglosen unter den Migrantenkindern auffällig oft um Abkömmlinge der muslimischen Kultur handelt, verfestigt sich der Eindruck: Es muss an der Religion liegen – an dieser Religion!

Dies auch nur zu denken aber ist ein Verstoß gegen die guten Sitten etablierter Politik und Publizistik. Dort gilt die Doktrin: Der Islam ist eine Religion wie jede andere. Und also verweigerte sich Deutschlands linksliberales Establishment hartnäckig der Einsicht, dass es sich beim Islam um eine verspätete Religion handelt, die ihre archaischen Wertvorstellungen per Migration in den deutschen Alltag trägt, jeden Versuch zur Emanzipation ihrer Mädchen und Frauen unterdrückt und deshalb auch ihre Knaben und Männer in der Selbstfindung behindert. Aber den Islam als Feind der offenen Gesellschaft zu sehen, ihn konsequenterweise zu bekämpfen – das durfte und darf kein Thema sein.

Auch Ahnungslosigkeit spielt da wohl mit, genährt vom Ökumenedenken der christlichen Konfessionen. Ferner gibt es ernste Gründe, sehr deutsche Gründe: den Kulturkampf im 19. Jahrhundert zum Beispiel, vor allem aber die Vernichtung der Juden durch die Nazis.

Die von islamischen Verbänden geschickt inszenierte Gleichsetzung der Islamkritik mit Antisemitismus ist jedoch ebenso paradox wie absurd, gleichzeitig aber auch erhellend: Die Juden wurden von den Antisemiten aus der Bürgergesellschaft ausgegrenzt, von den Nazis um alle Rechte gebracht und ermordet. Die Muslime dagegen werden gedrängt, die bürgerlichen Rechte – bitte, bitte! – anzunehmen, und die bürgerlichen Pflichten – bitte, bitte! – zu befolgen. Die freieste deutsche Gesellschaft, die es je gab, würde sie ihnen nur allzu gern gewähren: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, vor allem Gleichberechtigung für ihre Frauen – und für ihre Jugend Koedukation statt Koran, Schulbildung statt Scharia.

Die Befreiung von den Fesseln ihrer eigenen Religionskultur ist das große Problem allzu vieler muslimischer Migranten. Sie ist ihre Bringschuld gegenüber der deutschen Bürgerschaft.

Wie soll ein braver, kleiner deutscher Demokrat die Verweigerung von Freiheit, von Gleichberechtigung, von Emanzipation begreifen? Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik haben gelernt, dass das Grundgesetz die höchsten Werte europäischer Kultur verkörpert. Die Aufklärung! Die Menschenrechte! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Haben die Spießer nicht von Politikern und Publizisten eingebläut bekommen, dass Deutschland nie mehr von diesen Werten lassen darf? Verfassungspatrioten sollen sie sein – auf alle Zeit. Nur: Muss das nicht auch für Einwanderer gelten? Und zwar vom ersten Tag an?

Doch man gewährt stillschweigend Ausnahmen: Kopftuchausnahmen, Burkaausnahmen, Zwangsverheiratungsausnahmen, Züchtigungsausnahmen, Frauenunterdrückungsausnahmen.

Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble ließ sich – natürlich im Geiste des Grundgesetzes – dazu herbei, über Ausnahmen in einer fest installierten Islamkonferenz zu diskutieren. Die islamischen Verbände verhandelten auf Augenhöhe mit der Bundesregierung! Wann wäre den ganz gewöhnlich tüchtigen Deutschen je so viel Aufmerksamkeit widerfahren? Den ganz gewöhnlich tüchtigen türkischen Deutschen? Den ganz gewöhnlich tüchtigen persischen Deutschen? Arabischen Deutschen? Indischen oder pakistanischen Deutschen? Oder den überaus tüchtigen fernöstlichen Migranten? Wann wurden die Menschen, die das Land still und willig voranbringen, jemals zu solchen Ehren erhoben? Für sie gibt es den Tag der offenen Tür im Kanzleramt. Mit Würstchen. Und Senf.

Der neue Innenminister Thomas de Maizière verstieg sich gar zu dem Bekenntnis: „Der Islam ist uns willkommen.“ Nicht die Muslime, nicht die Menschen hieß er willkommen. Nein, die Religion – mitsamt ihrem demokratiefremden Gesetzeskanon aus Koran, Scharia und Überlieferungen.

Wie aber reden und schreiben Politiker und Publizisten über das Volk, das sich plötzlich so aufsässig bemerkbar macht? Sie nennen es „die Menschen draußen im Lande“. Wir drinnen, ihr draußen, fern von uns, dort, wo unsere Weisheit leider nicht immer ankommt – und wenn sie denn trotzdem ankommt, nicht verstanden wird!

Dieses ferne Volk ist derzeit offenbar nicht ganz bei Trost, wie der Spiegel gleich auf dem Titelbild seiner Sarrazin-Nummer klarmachte: „Warum so viele Deutsche einem Provokateur verfallen“. Verfallen! Wie die Kinder von Hameln dem Rattenfänger. Auch eine Karikatur mit diesem Sujet war in Sachen Sarrazin bereits zu sehen. Um mündige Bürger, die sich ihre eigene Meinung zu bilden imstande sind, kann es sich bei seinen Anhängern jedenfalls kaum handeln. Darum wird jetzt auch gewarnt davor, das Buch des Ketzers überhaupt zu diskutieren.

Im Stern kam Hans-Ulrich Jörges, wendiger Wöchner des Berliner Kreißsaals, mit folgendem Satz nieder: „Der Fall Sarrazin ist der größte mediale Kollateralschaden, an den ich mich erinnern kann.“ Wäre es nach ihm gegangen, hätte es in Bild und Spiegel keinen Vorabdruck der Sarrazin-Thesen gegeben, keinen „wahnhaften Hype“. Am besten hätte man das Sudelbuch gar nicht erst erwähnt, allenfalls zur Besänftigung des Publikums. In der Zeit rechtfertigte sich Chefredakteur Giovanni di Lorenzo dafür, „Thilo Sarrazin und seinem Buch einen Gefallen“ getan zu haben, indem man dessen Thesen diskutierte.
Doch was nicht geschehen durfte, ist nun passiert. Deutschland debattiert. Und zwar nicht, wie gewöhnlich, die selbst ernannte Elite unter sich und ganz hoch droben, sondern die Bürgerinnen und Bürger ganz tief unten. Der Pöbel diskutiert. Das ist der Gipfel!

Wer aber wäre nun gefordert, den Menschen eine Antwort zu erteilen, die da so plötzlich, so ungeplant und so unbotmäßig auf den Plan getreten sind? Die Sozialdemokraten! Ehedem politischer Arm der Arbeiterbewegung, heute bürgerlich arriviert, wären sie die klassischen Hüter der demokratischen Kultur. Traditionell richten sie sich gegen das „Laisser-faire“. Dem engagierten Sozialdemokraten und linken Bürger war einst die strenge Lebensregel heilig: acht Stunden arbeiten, acht Stunden lesen, acht Stunden schlafen.

Die alte sozialdemokratische Strenge steckt noch immer in vielen Bürgerköpfen. Auch eine weitere spießige Lebenslosung hat in diesem Milieu ihre Gültigkeit bewahrt: „Schaffe, schaffe, Häusle baue!“

Wer seinen Alltag so sehr auf Tüchtigkeit baut, in dessen Ohren klingt es seltsam, wenn er von seinen Politikern hört: „Die Migranten bereichern uns.“ Mit diesem putzigen Klischee verweigerte sich die demokratische Linke in nahezu allen westeuropäischen Ländern ihrer aufklärerischen Pflicht: aus Drittweltromantik, aus elitärer Lust am pittoresken Multikulti, aus paternalistisch motivierter Fürsorge für die armen Ausgebeuteten.

Aus scheinbar moralisch allerbesten Gründen gab man sich dem Kulturrelativismus hin. Menschenrechte erschienen zunehmend als eurozentrisch, also kolonialistisch und imperialistisch. Es galt: andere Kulturen, andere Sitten. Die Frauenunterdrückung durch den archaisch belasteten Islam – Ausdruck anderer Kultur. Die Apartheid für Hunderte Millionen Musliminnen in aller Welt – Ausdruck anderer Sitten.

Der linke Blick in die weite Welt blieb verklärt an Figuren haften, die mit Revolution viel, mit Freiheit dagegen nichts am Hut hatten. Der südamerikanische Linkspopulist Chávez umarmt den iranischen Holocaust-Leugner Ahmadinedschad – und kein Linker oder Grüner regt sich darüber auf. Im Iran soll eine Frau wegen Mord an ihrem Ehemann gesteinigt werden, neuerdings nur noch erhängt; vorher aber erhält sie 99 Peitschenhiebe, weil eine englische Zeitung sie angeblich ohne Kopftuch abgebildet hat. Protestdemonstrationen vor den iranischen Botschaften Europas? Keine Spur: In Berlin und Potsdam demonstriert die Linke gegen Sarrazin. In Genf gelang es Tariq Ramadan, Star der europäischen Muslimszene und Liebling linker Kulturrelativisten, die Aufführung eines Stücks von Voltaire wegen angeblicher Islamfeindlichkeit zu verhindern – unter den wohlwollenden Blicken von Sozialdemokraten und Liberalen. Des Abendlandes radikalster Aufklärer fällt islamistischem Obskurantismus zum Opfer – ohne Widerstand der „Kulturlinken“.
Die Burka? Wird doch freiwillig getragen, ja geradezu als Symbol der Religionsfreiheit. Wer sich über eine derart krude Logik empört, wird aus der links-grünen Ecke der „Islamophobie“ bezichtigt, der nur noch psychiatrisch beizukommen sei. Wer Mädchen von der Kopftuchpflicht befreien möchte, gilt schlicht als intolerant. Das linksintellektuelle Milieu duldet Reservate für religiös-autoritäre Riten und Regeln des Migrantenislam.

In Anne Wills sonntäglicher TV-Talk-Kulisse steht unterhalb des Podiums ein Sofa, weggerückt von der hochmögenden Gästerunde, extra hingestellt für den einfachen Bürger, mit dem die Salondame jeweils huldvoll-mitfühlend einige Worte wechselt. Dann richtet sie ihr bezauberndes Lächeln an die Causeure der Berliner Republik – die Gesellschaft von Politik und Publizistik ist wieder in Ordnung, weil geschlossen wie eh und je.

Diese Herabstufung, bei Anne Will nur besonders augenfällig zelebriert, will sich der Bürger, will sich die Bürgerin nicht länger gefallen lassen. Sie mischen sich ein. Sie setzen den Fuß in die Tür. „Die Menschen draußen im Land“, sie wollen rein.

Es könnte passieren, dass sich die Kanzlerin eines nahen Tages in den Fond ihres Dienstwagens sinken lässt – und jäh gewahr wird: Da sitzt ja schon einer auf dem Nebensitz. Wer da sitzt? Nicht Ackermann, nicht Großmann, was eine freudige Überraschung wäre. Nein, es sitzt da ein ganz gewöhnlicher, tüchtiger, spießiger Mensch aus dem Volk.

Quelle
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