Den kennen wir schon - Predigt über Markus 6,1-5
Jesus kam in seine Heimatstadt Nazareth. Seine Jünger begleiteten ihn. Am Sabbat lehrte Jesus in der Synagoge. Viele, die ihn hörten, waren tief beeindruckt. Sie fragten: "Wo hat er das her? Woher hat er solche Weisheit bekommen? Und wieso geschehen durch seine Hände solche Wunder? Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria? Und ist das nicht der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht auch seine Schwestern bei uns?" Deshalb lehnten sie ihn ab. Aber Jesus sagte zu ihnen: "Nirgendwo gilt ein Prophet so wenig wie in seiner Heimatstadt, bei seinen Verwandten und bei seiner Familie." Deshalb konnte er dort auch kein Wunder tun.
Eine kleine Touristengruppe stand staunend vor dem gewaltigen Alpenpanorama. Die schneebedeckten Gipfel glänzten im Sonnenlicht. Da wandte sich einer von den Touristen an einen Einheimischen und fragte: „Wie heißen denn die Berge der Reihe nach?“ Der gab trocken zur Antwort: „Die muss ich nicht kennen; ich bin schließlich von hier!“
Zu den gefährlichsten Blockaden gehört das Vorurteil. Die Feststellung: „Den oder das kenne ich!“, beinhaltet in der Regel ein festgelegtes Urteil. Es ist alles klar. Das so Erkannte bekommt keine Chance; es kann sich gegen das Vorurteil kaum wehren.
Die Nazarener kannten Jesus - Jesus bekam in Nazareth keine Chance. Seine Landsleute zählten auf, wen und was sie alles im Zusammenhang mit seinem Namen kannten: Er ist der Zimmermann, der zwei Jahrzehnte unauffällig unter ihnen gearbeitet hat. Er ist der Sohn der Maria; Josef wird nicht (mehr) genannt. Beim Evangelisten Johannes lesen wir noch: „Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen?“ (Joh 6,42). Die Leute von Nazareth kannten Jesu Brüder und Schwestern, also die nächsten Verwandten, die ganze Sippschaft, und damit war für sie alles klar. Kein Wort weiter! Damit ist Jesus für sie erledigt. Und er kommentiert das Geschehen mit dem Satz: „Kein Prophet zählt etwas in seiner Heimatstadt.“
Chancen vertan
Das kenne ich - dieser Satz kann geradezu zu einer Killerphrase werden, die echte Gespräche verhindert.
Wie leicht sagen wir: Das kenne ich!, wenn jemand uns z.B. von seiner Not erzählt. Beispiele: Ein Kranker jammert: Meine Bandscheibe macht mir schlimme Schmerzen, ich kann mich kaum bewegen! - Das kenne ich!
Eine Tochter bekennt: Ich habe große Schwierigkeiten mit meiner Mutter, die seit Jahren an Alzheimer leidet! - Das kenne ich!
Eine Ehefrau klagt: Mein Mann ist arbeitslos geworden, und das in seinem Alter! Aussichtslos, was zu finden. - Das kenne ich!
Jedes Mal wurde mit der „wissenden“ Antwort eine Chance vertan, dem anderen Menschen in seiner Not wirklich zu begegnen.
Aus Begegnungen und Erfahrungen lernen wir selber am allermeisten. Erst ein Gegenüber, ein Du, macht mich zum Ich. Dazu ist es nötig, sich auf den Menschen bewusst einzulassen, ihm Zeit zu schenken, auf seine Worte zu hören.
Der Satz: „Das kenne ich!“ kann gut gemeint sein. Vielleicht will jemand dadurch seine Solidarität ausdrücken: Mir geht es genauso wie dir. Aber: Meistens stimmt das ja gar nicht. Meistens hören wir nur irgendein Reizwort und denken: „So geht es mir auch...“ Und schon erzählen wir dem anderen unsere Geschichte, statt ihn zu Wort kommen zu lassen.
So ähnlich ist es auch in Fragen des Glaubens. Wir kennen Jesus zu gut. Jedenfalls meinen wir oft ihn zu kennen. So wie die Leute damals in Nazareth - aber kennen wir ihn wirklich?
Die Menschen damals meinten Jesus zu kennen, weil sie haben aufwachsen sehen. Aber sie bestätigen oft nur ihre eigenen Vorurteile.
Unser Nachteil ist, dass auch wir Jesus, seine Worte, Geschichten und Zeichen von Kindesbeinen an kennen. Jedenfalls die meisten von uns. Deswegen hat er kaum eine Chance, bei uns anzukommen. Wir wissen alles schon, vor allem, wie es ausgeht. Zumindest meinen wir es zu wissen. Schließlich haben wir es ja von klein auf im Religionsunterricht gehört.
Was soll es da noch Neues geben? Der Pfarrer oder die Pfarrerin predigt auch immer wieder dasselbe. Jahr für Jahr zerbreche ich mir den Kopf, wie und was ich an Weihnachten denn eigentlich noch neues sagen soll. Oder an Ostern. Es ist doch immer wieder dieselbe Geschichte und auch ich bekenne: Ich weiß oft einfach nichts Neues mehr zu sagen.
Und dennoch: Ich bekenne auch, dass ich selbst nach 5 Jahren Studium und nun fast 10 Jahren im Pfarramt obwohl ich alle Geschichten von Jesus kenne doch noch manchmal dastehe wie der Ochs vorm Berg - und damit sind wir wieder beim der kleinen Geschichte vom Anfang: Wer von klein auf im christlichen Glauben erzogen wurde, der kennt all die Geschichten von Jesus. Und wer die Bibel studiert hat ebenfalls. Aber, um im Bild zu bleiben: Was nützen mir die Namen der Berge, wenn ich sie nicht bestiegen und damit erfahren habe!
Was nützt mir alle Kenntnis der Bibel und alles Wissen über Jesus, wenn ich mein tägliches Leben nicht mit Jesus lebe. Die Bibel kennen und lesen bringt zu so viel, wie ich dann auch wirklich im Leben umsetzen kann, und das ist oft erschreckend wenig. Man meint Jesus zu kennen, verhält sich aber gerade darin oft wie seine Zeitgenossen: Den kennen wir schon, der hat uns nichts Neues zu sagen.
Und so geht es uns oft auch mit anderen Menschen: Ja, den kenn ich schon, ich weiß schon, wie der gleich reagieren wird, was der gleich sagen wird.... Aber ich kenne ihn eben nur oberflächlich und nicht von innen heraus. Wie soll ich dem Schicksal eines Menschen nahekommen und an ihm Anteil nehmen, wenn ich nicht die Erfahrung seines Glücks oder seines Leides mache!
Abschied nehmen
Jesus wählt eine Methode, die uns helfen kann, unsere Festlegungen und Vorurteile zu überwinden. Alles Kennen ist für ihn vorläufig. Er lässt sich nicht auf das festlegen, was die Menschen meinen, über ihn zu wissen.
Die Evangelien sind voll von solchen Begegnungen, wo jemand meint, er wüsste genau Bescheid über Jesus und dann tut oder sagt er etwas völlig unerwartetes.
Beispiele: Petrus: Du bist der Christus! Du darfst nicht sterben! - Jesus: Weg mit dir, Satan.
„Die Jünger verstanden ihn nicht!“
„Guter Meister!“ - „Was nennst du mich gut, niemand ist gut außer Gott!“
Jesus bleibt, so vertraut er uns vorkommt, doch auch immer größer, als alles was wir meinen über ihn zu wissen. Um das zu unterstreichen, verabschiedet er sich von seinen Jüngern: „Wenn ich nicht gehe“, sagt er ihnen, „kommt nichts Neues!“ Zum Zeichen des Abschieds gibt es im Laufe des Kirchenjahres sogar ein Fest, „Christi Himmelfahrt“ genannt. Es sollte besser „Christi Abschiedsfest“ heißen.
Wir müssen uns immer wieder, jeden Tag neu, von Vorurteilen verabschieden, um Jesus neu sehen und besser verstehen zu können. Das ist ein Prozess, der sich in einem Menschenleben oft wiederholt. Wird dieser Prozess verweigert, verschließt sich der Mensch. Er verhärtet und macht sich zu seinem eigenen Gefangenen. Vor lauter: Ich kenne das alles schon! Will ich auch gar keine neuen Erfahrungen mehr machen.
Das gilt auch - und besonders! - für die Religion. Denn ehrlich gesagt: Wir wollen doch auch in unserer Religion und darin wie wir unseren Glauben leben, bestätigt werden. Oft bekommen Pfarrer das größte Lob für die Predigten, in denen sie sagen, was sowieso schon jeder weiß. Warum? Weil die Hörer sich in ihrer Sicht bestätigt fühlen, und nicht etwa, weil die Predigt so gut war.
Um mit unserem Glauben wirklich weiter zu kommen - wenn wir das denn wirklich wollen – müssen wir lernen, von Überzeugungen und eingefahrenen Meinungen auch immer wieder Abschied zu nehmen. So ähnlich ging es damals auch den Jüngern. Sie waren überzeugt, Jesus zu kennen - aber am Karfreitag ist ihr Bild zerbrochen und sie mussten es dann ganz neu wieder zusammensetzen, Jesus ganz neu wieder kennen lernen, alles hinterfragen, was sie meinten über ihn zu wissen. Das ist mühselig, wer ist dazu schon bereit?
Und doch ist es nicht möglich, wirklich tiefer in den Glauben hinein zu wachsen, wenn wir immer nur bestätigt haben wollen, was wir eh schon glauben.
Die Vergangenheit ist tot
Lebenswahrheit, das heißt nicht, etwas kennen oder wissen, was für das ganze Leben reicht. Was heute noch richtig ist, kann bereits morgen völlig falsch sein. Und so ist es auch mit dem Glauben. Der Glauben muss mit dem Menschen mitwachsen, sonst wird man ihn eines Tages frustriert abstreifen.
Ein Beispiel: Ein kleines Kind glaubt noch daran, dass Gott ein Mann mit einem langen weißen Bart ist, der im Himmel auf einem Wolkenthron sitzt und auf die Welt herunterschaut. Das ist seine Vorstellung von Gott. So kennt ein Kind Gott, zum Beispiel aus der Kinderbibel oder aus Erzählungen seiner Großmutter.
Wenn aber dieses Bild von Gott sich nicht mit den Jahren wandelt, dann wird dieses Kind spätestens mit 14 Jahren den Glauben an Gott vollkommen verlieren. Es muss sich loslösen von dieser Vorstellung von Gott und andere Möglichkeiten finden, sich Gott vorzustellen. Und wie sich ein Jugendlicher mit 14 Gott vorstellt, ist wieder etwas ganz anderes, als die Vorstellungen von Gott bei einem Mann von 30, 40 oder 60 Jahren. In dem Moment, wo man meint: Ich kenne Gott, so ist er! Ist kein Wachstum im Glauben mehr möglich. Da der Glauben nicht mitwächst wird er dann irgendwann abgelegt.
Was kann aus Nazareth schon gutes kommen? - so fragten Jesu Zeitgenossen spöttisch. Sie hatten ihr festes Bild. Und damit konnten sie nicht an Jesus glauben.
Pah, Gott ein Mann mit Bart auf einer Wolke! - daran glaub ich nicht. Und schon ist der ganze Glaube passé, wenn dieses Bild sich nicht weiten kann.
Solange wir leben, haben wir ein offenes Feld vor uns. Hier sollten wir nach der Wahrheit suchen, in der Erkenntnis, dass wir nie die ganze Wahrheit finden werden. Selbst wenn wir unseren Glauben 99mal hinterfragt haben und er sich gewandelt hat, kann es beim 100sten mal schon nicht mehr passen.
Um in dem Bild mit dem Berg zu bleiben: Selbst wenn wir einen Berg 99-mal bestiegen haben, wird er sich uns noch beim hundertsten Mal neu präsentieren. Wir werden uns von ihm anders verabschieden als die Male vorher. Und genauso muss es mit dem Glauben sein, wenn er ein lebendiger Glaube sein soll und nicht nur eine unbestimmte Meinung oder irgendein Bild im Kopf, das uns aber eigentlich egal ist.
Solange wir leben, müssen wir Abschiede nehmen. Wir wissen, dass jeder Abschied schmerzlich ist, aber nur dann kann Neues auf uns zukommen. Wieder und besonders gilt das für die Religion.
Wenn wir nicht Abschied nehmen von dem, was wir kennen, wird Jesus an uns „kein Wunder tun“, das heißt, nichts vollbringen können. Er wird weiterziehen und dort das Neue vom Reich Gottes verkünden, wo die Menschen nicht schon alles (besser) wissen, wo sie offen sind für das Evangelium.
So lesen wir im Buch der Offenbarung: „Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,5). Jesus Christus zieht weiter durch die Zeiten. Wenn wir von ihm allerdings schon alles kennen, dann müssen wir sitzen bleiben. Entscheiden wir uns täglich neu, Gott und unseren Glauben noch mal ganz anders kennen zu lernen?
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Jani's Anmerkung:
Diese Predigt berührte mich so sehr, dass ich sie in meinem Blog einstellen mußte. Denn sie hat auch ein wenig mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun und sie läßt mich meine Erfahrungen aus einem anderen Blickwinkel sehen - von einer anderen Seite betrachten. - Sieht so aus, dass Abschiednehmen das Gebot der Stunde ist. Wenn nichts mehr weiter geht... man sozusagen im Stau steht.
Die Frage, die sich daraus ergibt, ist leicht zu beantworten - aber schwer umzusetzen, denn sie ist mit viel Unsicherheit verbunden. Und ja, natürlich weiß ich, dass ich meine Hand in Gottes Hand legen kann ... dass ich keine Angst haben brauch ... dass ich Vertrauen haben kann ... all die frommen Sätze halt.
All dies ist so leicht gesagt ... und manchmal klingen solche Sätze von anderen gesagt, eben wie "Den oder das kenne ich schon". Und verhindern damit, Anteil am Leben des anderen zu nehmen.
Mh ...
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