Sonntag, 19. Dezember 2010

Sonntag, 19. Dezember

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Wider den Missbrauch des Mitleids

In den Weihnachtserzählungen ist es von alther üblich, jährlich mehrere arme Knaben und Mädchen einer angemessenen Weihnachtserzählung steht gewöhnlich vor dem Fenstererfrieren zu lassen. Der Knabe oder das Mädchen eines großen Hauses, ergötzt sich am Anblick des brennenden Weihnachtsbaumes in einem luxuriösen Zimmer und erfriert dann, nachdem es viel Unangenehmes und Bitteres empfunden hat.

Ich verstehe die guten Absichten der Autoren solcher Weihnachtserzählungen, ungeachtet der Grausamkeit, welche die handelnden Personen betrifft; ich weiß, dass sie, diese Autoren, die armen Kinder erfrieren lassen, um die reichen Kinder an ihre Existenz zu erinnern; aber ich persönlich kann mich nicht dazu entschließen, auch nur einen einzigen Knaben oder ein armes Mädchen erfrieren zu lassen, auch zu einem solch sehr achtbaren Zweck nicht. Ich selbst bin nicht erfroren und bin auch nicht beim Erfrieren eines armen Knaben oder armen Mädchens dabei gewesen und befürchte, allerhand lächerliche Dinge zu sagen, wenn ich die Empfindungen beim Erfrieren beschreibe, und außerdem ist es peinlich, ein lebendes Wesen erfrieren zu lassen, nur um ein anderes lebendes Wesen an seine Existenz zu erinnern.

Maxim Gorki, Anfang der Erzählung „Von einem Knaben und einem Mädchen, die nicht erfroren sind“, Erzählungen, Band 1, Aus dem Russischen von Amalie Schwarz, Berlin 1953


EKD - Adventskalender

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