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"Ich brauche keine Bequemlichkeit. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde!" ALDOUS HUXLEY, "SCHÖNE NEUE WELT
Ein Tod ist zu beklagen. Die Verblichene starb nach langem Siechtum, unbemerkt, in einem vergessenen Winkel der Gesellschaft.
Sie hatte ihre großen Tage. Sie hat glühende Reden beflügelt, sie hat Menschen in den Staub gezwungen und um Vergebung murmeln lassen, sie hat Königreiche und immense Besitztümer ermöglicht, hat Leichenberge verschuldet und war Anlass für spektakuläre Lebensumschwünge und Neuansätze.
Sie hat Maler wie Hieronymus Bosch angeregt und wurde von Dichtern wie dem göttlichen Dante unvergleichlich in Worte gesetzt, die barocken Mysterienspiele, ja die gesamte abendländische Dramenliteratur wären blass ohne sie.
Die Rede ist, natürlich, von der Sünde.
Die Sünde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden.
Sie hat sich neue Papiere, neue Identitäten besorgt.
Von "Sünde" spricht keiner mehr. Niemand droht mehr denjenigen, die ihr verfallen sind, mit ewiger Verdammnis, auch denjenigen nicht, die sich ihre schwarzen Verursacher, die "Todsünden", aufgeladen haben.
Die Sünde hat kein metaphysisches Gewicht mehr. Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die Sünde hat ein Imageproblem.
Mit der Sünde ist ein existentielles Abenteuer verlorengegangen. Ein unheimlicher Unschuldswahn hat sich über unsere überraschungsfreie Computergesellschaft gelegt. Huxleys Held beharrt auf Gott und der Sünde, gerade weil er auf seiner Freiheit beharrt in der "Schönen neuen Welt". Sündenbewusstsein ist das, was uns von anpassungsschlauen Tieren unterscheidet.
Nach jüdischer, christlicher und islamischer Definition ist sündig derjenige, der sich von Gott entfernt hat. Sünde ist Vertrauensbruch. Gott versteht in diesem Punkt keinen Spaß. Der Sünder schaut in einen metaphysischen Abgrund. Allerdings, wo es keinen Gott mehr gibt, gibt es keine Sünde. Oder doch?
Heute ist Sünde allenfalls eine Art Verstoß gegen die soziale Straßenverkehrsordnung und, soweit Schuld und Seelenqual und Gewissensbisse mit ihr verknüpft sind, eine Sache für Therapeuten und in jedem Fall verhandelbar.
Tatsächlich wird die Verabschiedung der Sünde bei uns nicht groß beklagt. Das sündige Treiben, das uns der Karneval als fünfte Jahreszeit in Köln und Mainz und anderen Hochburgen beamteten Ordensschwachsinns turnusmäßig beschert, unterscheidet sich in seiner Sündigkeit kaum von den übrigen vier.
Partnertausch und Ehebruch kommen in jeder besseren Soap-Opera vor, Fluchen oder aufmüpfige Kinder sind Banalitäten, um die sich die Supernanny kümmert, und Geiz ist keine Todsünde mehr, sondern einfach nur geil. Was, könnte man sagen, will man im Karneval noch ausleben, wenn er ganzjährig geworden ist? Der Karneval feierte den Ausnahmezustand. Jetzt ist er die Regel.
In ihrem jüngsten Erzählband hat sich die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse mit dem Verfall der Sünde beschäftigt. Ihr Buch heißt "Lässliche Todsünden", theologisch unsauber, denn die Kirche unterscheidet streng zwischen lässlicher Sünde und Todsünde. Und dennoch ist Menasses Titel präzise, denn in unserer Gesellschaft sind die Schwellen verschlurft, all die Lehrerinnen und Regisseure und Kneipiers des gehobenen Mittelstands, die Menasses Menagerie bevölkern, trotten bewusstlos durch ihren sündigen Alltag, und machen sich eher nebenbei schuldig durch Gefräßigkeit und Neid, Trägheit und Wollust oder Hochmut.
Nicht zuletzt die unterschiedliche Evaluierung der Sünde ist schuld an der lähmenden Kommunikationslosigkeit zwischen dem strengen Islam und dem eher lockeren Westen. Die Sünde ist somit bei weitem nicht nur ein theologisches Problem, sie ist ein Politikum. Es ist der "gottlose" und "sündige" Westen, gegen den sich 20-jährige Selbstmordattentäter mit ihren Sprengstoffgürteln agitieren lassen, ob es uns passt oder nicht.
Für den Fundamentalisten ist das irdische Leben nur ein "Transitraum" (Rüdiger Safranski) in Vorbereitung auf das ewige Leben. Auch das Christentum kennt derartige "heiße" Phasen von endzeitlicher Erwartung, am prominentesten in den religiösen Wahnjahren der reformatorischen Täuferbewegung in Münster, die in bizarren Übersprungshandlungen sündigte auf Teufel komm raus, mit Orgien aus Mord und Totschlag, mit Prahlerei, Hochmut und Vielweiberei.
Um zu begreifen, wie sehr die Sünde auch bei uns einst mehr gewesen ist als der Nasch-Verstoß gegen eine Diätvorschrift, müssen wir zurück zu den Fundamentbrocken unserer Zivilisation, zum Buch der Bücher, zurück in den ehrwürdigen Frühdämmer der Schöpfungsgeschichte, in eine Zeit, als Gott noch direkt mit dem Menschen sprach.
Himmel und Erde wurden in Bewegung gesetzt, um, in der Genesis, die Sünde in die Welt zu bringen. Adam und Eva lehnten sich auf im Garten Eden gegen Gottes Verbot, von der verbotenen Frucht der Erkenntnis zu essen. Sie waren ungehorsam und wurden mit dem Makel der Erbsünde behaftet aus dem Paradies vertrieben.
Seither ist die Sünde in der Welt und mit ihr die Schlange, die ständige Versucherin, die bereits beim Ur-Sündenfall Pate stand. Man muss sich den Garten Eden als Zustand voller Unschuld und Harmonie vorstellen. Es gibt keine zartere und schönere Nackte in der Geschichte der Malerei als Dürers Eva.
Der Sündenfall, der als erstes Augenaufschlagen des menschlichen Bewusstseins, als erste große Entfremdung von der Natur begriffen werden kann, hat uns das alles verdorben. Seither ist Nacktheit mit Scham verbunden, Mord und Totschlag folgten, rasend vor Eifersucht erschlägt Kain den Abel.
Die biblische Geschichte Israels ist eine des permanenten Sündenfalls und der permanenten Vergebung, der Enthemmungen des Volkes und der Domestizierungen durch Gott. Städte der Sittenlosigkeit werden von ihm niedergebrannt, die ganze Schöpfung wird überschwemmt, zu wenig Gerechte sind in dem sündigen Geschlecht, das der Herr geschaffen hat.
Doch eines darf nicht übersehen werden in diesem Gemetzel: Der Herr selbst rast vor Zorn und ist eifersüchtig, er ist maßlos in seinem Alleinvertretungsanspruch, und er wird in den alttestamentlichen Rachepsalmen für die extremsten Eifereffekte seines Volkes nutzbar gemacht.
Schließlich der Vertrag, die große Codifizierung, der Dekalog, der in allen großen Religionen und Gesetzesbüchern bis heute leuchtet, nicht zuletzt wegen seiner theologischen Letzt-Begründung. Du sollst nicht stehlen, nicht morden, nicht begehren des Nächsten Weib, Vieh und Gut. All das sind nicht nur Verstöße gegen den Nächsten, sondern Verstöße gegen Gott.
Das heißt: Wer mordet und damit durchkommt, muss davon ausgehen, dass er im Jenseits gerichtet wird. Raskolnikow aus Dostojewskis "Schuld und Sühne" kann mit seiner Schuld nicht leben. Er wird bereuen, gestehen und büßen und erst dadurch innerlich befreit.
Das Sittengesetz funktioniert vor allem über das Sündenbewusstsein, das die Entscheidung zwischen Gut und Böse trifft. Ohne den Gedanken an Gott ist dauerhaftes moralisches Handeln nicht möglich, das wusste schon der Aufklärer Immanuel Kant, dessen tröstender Lieblingspsalm war: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts fehlen."
Im Verlauf der Kirchengeschichte, besonders unter Papst Gregor I. (um 540 bis 604), sind als Warnung für Klosterbrüder sieben besonders schwere Laster ausformuliert worden, die zur Wurzel von Sünden werden können. Den Lastern wurden bestimmte Dämonen zugeordnet: des Teufels Armee. So war der Satan für den Zorn verantwortlich, der Mammon für die Habgier, der Leviathan für den Neid, Beelzebub für die Völlerei.
Dass gerade die Kirche im Verlauf ihrer Geschichte eine besondere Anlage zur Sünde an den Tag gelegt hat, dass sie eifernd und prassend und tötend in die Irre gelaufen ist, gehört zu ihrer ganz besonderen Tragik.
Die als Todsünden bekannten Verfehlungen haben eine merkwürdige Eigenschaft. Die ihnen verfallen, müssen nicht bestraft werden wie diejenigen, die in David Finchers Hollywood-Krimi "Sieben" von einem psychopathischen Serienmörder bestialisch gerichtet werden - wer sich ihrer
schuldig macht, straft über kurz oder lang sich selbst und macht das eigene Leben zur Hölle.
Bei genauerem Hinschauen erweist sich die Kirche in ihrer Todsündenlehre als kluge Psychologin. Der Aufruf zur Vermeidung der Todsünden kann auch als Anleitung zu guter Lebensführung verstanden werden, zu aristotelischer Mäßigung, die auch Buddhisten - lächelnd! - unterschreiben würden.
Im Takt der Sünde tanzt das Menschengeschlecht bis heute: Der Hochmut führt die Reihe an, gefolgt von Geiz oder Habgier, Genusssucht oder Wollust, Zorn oder Rachsucht, Völlerei oder Selbstsucht, Neid oder Eifersucht, Trägheit des Herzens oder Trübsinn.
Lauter gute Bekannte, so vertraut, dass sie nicht mehr groß auffallen im Maskenball unserer Zeit. Sie fallen nicht auf, weil sie universell geworden sind.
Superbia: Hochmut und Eitelkeit
Eines kann die Todsünde Eitelkeit mit Sicherheit garantieren: hohe Einschaltquoten. Wenn sie da nun wieder in der Reihe stehen wie jede Saison, die Mädchen für Heidi Klums Show "Germany's Next Topmodel", alle hübsch, alle ähnlich, wird deutlich, dass Eitelkeit einen Kampf bis aufs Messer bietet, spektakulär, denn hier geht es für viele auf Leben und Tod. Knapp vier Millionen verfolgten in der vergangenen Saison die Schlacht. Wöchentlich.
Hier kann man den Text weiterlesen ....
* ... natürlich hat nicht die Bibel die Sünde erfunden. Brauchte sie auch nicht -
das kann der Mensch unter Beeinflussung Diabolus ganz gut allein... Gruß Jani
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