Angela Merkel - ein neuer Martin Luther?
Regelmäßige Zeitungsleser und Nachrichtenhörer sind in
diesen Wochen und Monaten ja schon einiges an Hofberichterstattung
gewöhnt, die offensichtlich aus der Angst geboren ist, bloße Zweifel an
den Vorgaben der deutschen Alleinherrscherin („Ich habe keinen Plan B“,
„Wir können das schaffen“) könnten das immer wackeliger werdende
Kartenhaus der Merkelschen Willkommenspolitik zum Einsturz bringen.
Gerade in der Fastenzeit vor den Landtagswahlen im März scheinen sich
viele Medien auch jeglicher kritischer Meinungsäußerung enthalten zu
wollen.
Aber der ganzseitige Kommentar zum Auftritt der Kanzlerin bei „Anne Will“, den die Publizistin Christine Eichel am Dienstag in der Berliner BZ unter
der Überschrift „In der Krise zeigt sich ihre christliche Prägung“
verfassen durfte , sprengt den bisher gekannten Rahmen. „Hier stehe ich
und kann nicht anders“ leitet die Autorin ihren Text mit Martin Luthers
legendärem Satz von 1521 auf dem Reichstag zu Worms ein. "Ähnlich
unbeirrbar“ wie der Reformator verhalte sich nun fünfhundert Jahre
später die Pfarrerstochter, „die eine Vision hat und bereit ist, dafür
ihre eigene Popularität zu opfern“ (an dieser Stelle stockte mir der
Atem, weil ich fälschlicherweise „Population“ las).
Vermutlich, so die Publizistin weiter, zeige sich hier „die
unzerstörbare Substanz von Angela Merkel, eine Entschlossenheit, die nur
auf einem starken Wertefundament entsteht“. Selten sei ein deutscher
Politiker derart überzeugt gewesen, „dass nicht der Flirt mit dem
Wähler, sondern das eigene Wertesystem wichtiger“ sei. Deshalb werde der
Auftritt der Kanzlerin bei Anne Will vermutlich in die TV-Geschichte
eingehen – „als Dokument einer Haltung, die das Ethos über den mit
Geschmeidigkeit erkauften Erfolg setzt.“
Nach so viel nordkoreanisch anmutendem Pathos und „Ethos“ heißt es
für den Leser erst einmal durchatmen und die bösen Störgedanken
verscheuchen, die ihm unwillkürlich durch den Kopf gehen: Versteht
eigentlich die Stammleserschaft dieses Springer-Boulevardblatts solch
anspruchsvolle Lobrede? Und fallen einem nicht mindestens zwei andere
deutsche Politiker ein, denen die Meinung der eigenen Bevölkerung völlig
schnuppe war und die sich bis zum bitteren Ende in ihren angeblich
unzerstörbaren „Wertefundamenten“ einbunkerten? Wäre es also nicht von
entscheidender Bedeutung, zu erfahren, was für Werte es sind, an denen
unsere Kanzlerin so „unbeirrbar“ festhält und welcher Vision – außer dem
eigenen Machterhalt – sie anhängt?
Zumal Angela Merkels bisherige Kanzlerschaft nach übereinstimmender
Meinung von Kritikern und Bewunderern gerade durch eine
schwindelerregende „Geschmeidigkeit“ und Wendigkeit – den jeweils
aktuellen Meinungsumfragen folgend – charakterisiert war. Wenn sie sich
durch ihre folgenschwere Fehleinschätzung vom September 2015 und die
trotzige Weigerung, diese zu korrigieren, nun in eine totale Sackgasse
manövriert hat, nicht vor und nicht zurück kann; wenn sie, anstatt eine
offene Diskussion über ihre das ganze Land umkrempelnde Politik zu
initiieren, nur bockige Stammelsätze von sich gibt – wenn das und das
nicht passiere, sei das „nicht mehr mein Land“ (wahlweise „mein
Europa“), dann soll das nach Meinung ihrer glühendsten Verehrer
plötzlich „Luther“ sein?
Zu Luthers Zeiten vertrat die katholische Kirche die Ansicht, die Menschen dürften sich keine eigene Meinung bilden, nur über die Vermittlung durch die Kirche sei ihnen die Wahrheit zumutbar. Gegen diese Politik der Bevormundung, des „Wir wissen besser als ihr selbst, was gut für euch ist“ wandte sich Martin Luther, deshalb übertrug er die Bibel ins Deutsche und zwar in die deftige, bildhafte Sprache des einfachen Volkes. Für diese Werte der Gewissensfreiheit (durch den eigenen Glauben) und Eigenverantwortung (vor Gott) riskierte er sein Leben, dafür steht sein mutiger Satz: „Hier stehe ich und kann nicht anders.
“
„Ich hasse die Vielredner“, schrieb der Mann, der die klare Sprache
liebte. „Denn meistens, wenn sie meinen, sehr Großes zu sagen, reden sie
Lügen. Die Wahrheit aber… macht nicht viele Worte.“ Die Kanzlerin
hingegen ist eine Meisterin des verklausulierten Phrasengeschachtels,
das ihre wahren Gedanken verschleiert. Sie will sich nicht in die Karten
schauen lassen. Wähnt sich klüger als alle anderen, im alleinigen
Besitz der Wahrheit. Mögen auch bestellte Jubelkommentare ihr stures
„Augen zu und durch!" hundertmal zum Qualitätsmerkmal verklären – eine
Parallele drängt sich leider nicht zum großen deutschen Reformator auf,
sondern eher zu der verkrusteten Herrschaftskaste in der damaligen
katholischen Kirche, die das Volk verachtete und deren Sprache sich
verbraucht hatte.
Früher hätte man vielleicht sogar die BZ als „Martin Luther unter den
Boulevardzeitungen“ bezeichnen können. Sie schaute dem Volk aufs Maul
und trat, wenn die Zumutungen der Politik zu arg wurden, auf die
Notbremse, um den Herrschenden zu signalisieren: „Achtung, es grummelt
in der Bevölkerung!" Seit Beginn der „Flüchtlingskrise“ sind die Bremsen
ausgebaut, ist die BZ – mit der gesamten Presse des Hauses Springer –
auf den Zug der Kanzlerin aufgesprungen, der mit Volldampf ins
Unbekannte rast. Je länger die verantwortungslose Blindfahrt dauert,
desto stärker werden ihre beängstigenden Begleiterscheinungen geleugnet,
die Zugführerin glorifiziert, alle Abweichler ausgegrenzt.
„Eine Lüge ist wie ein Schneeball: Je länger man ihn wälzt, desto
größer wird er“, wusste Martin Luther. Der Schneeball ist längst eine
Lawine, von der im entscheidenden Merkel-Jahr 2016 niemand weiß, wen und
was sie alles erfassen, zerstören, hinwegfegen wird. Vielleicht werden
im darauffolgenden Luther-Jahr 2017 die Lehren des großen deutschen
Reformators mit anderen Ohren gehört werden.
Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor. 2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“.
Achse des Guten
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