Psychologisch gesehen ist Nahrung – die Mutter. Sie ist etwas was uns
nicht nur mit Nährstoffen, sondern auch mit Sicherheit, Geborgenheit
und Liebe am Leben hält. So ist es nicht verwunderlich, dass kaum einer
von uns ein unproblematisches Verhältnis zum Essen genauso wie zur
eigenen Mutter hat, doch manchmal nimmt es fatale Ausmaße an.
Frauen oder Männer, die von der Bulimie oder Magersucht betroffen
sind, haben etwas gemeinsam – eine dominante und bestimmende Mutter,
deren Wünsche und Forderungen verwüstend sind. Manchmal nimmt es
versteckte Formen an, z.B. wenn die Mutter chronisch krank oder selbst
ein Gewaltopfer war. Doch selbst dann – auf eine subtile Art und Weise –
richtet sie es so ein, dass nur ihre Wünsche und Bedürfnisse die
einzigen sind, die eine Berechtigung haben zu existieren. Die Töchter
und Söhne wachsen unter ständigem Druck auf, die Erwartungen der Mutter
zu erfüllen, immer zu ihrer Unzufriedenheit. Sie haben eine einzige
Aufgabe im Leben – sie glücklich zu machen.
(An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass es keinen Zweck hat, die
Schuldigen zu suchen, sondern die Entstehung der Essstörungen zu
verstehen. Die Mütter der Betroffenen hatten keine böse Absicht. Ganz im
Gegenteil, subjektiv empfunden, haben sie das Maximum des Möglichen,
wie jede andere Mutter auch, für ihre Kinder getan. Sie wurden wiederum
von ihren eigenen Mütter emotional vernachlässigt und waren sich dessen
nicht bewusst. Die Kette der emotionalen Gewalt wird von Generation zu
Generation weiter gegeben, wenn man sie nicht durch Bewusstmachen
unterbricht..)
Das Überschwemmen mit eigenen Bedürfnissen der Mutter geht einher mit
der extremen Vernachlässigung der Bedürfnisse der Kinder. So wie sich
die Magersüchtigen unsichtbar machen, sind sie für ihre Mütter schon
immer unsichtbar gewesen. Und so wie sich die bulimischen Frauen nicht
gegen Essen wehren können, können sie nichts gegen die Dominanz ihrer
Mutter ausrichten.
Die Bulimie und die Magersucht sind zwei Seiten einer Medaille – es
sind zwei Überlebensmöglichkeiten angesichts der Abwesenheit von Liebe
und Beachtung seitens der eigenen Mutter. Die Magersüchtigen
verschließen den Mund, weil es das einzige ist, was sie selbst für sich
entscheiden können. Sie finden etwas, wo sie endlich gewinnen können –
gegen den eigenen Hunger. Wenn sie Nein zum Essen sagen, sagen sie
symbolisch zu ihrer eigenen Mutter „Ich brauche dich nicht, ich komme
auch ohne dich klar.“ Magersüchtige tragen den stolzen Blick der
Siegerin, auch wenn sie bereit sind, diesen Sieg mit dem Leben zu
bezahlen.
Während die bulimischen Frauen gegen das Essen, wie auch gegen ihre
Mutter, jedes Mal verlieren. Sie werden vom Essen praktisch
aufgefressen. Sie tragen den verschämten Verliererblick. Beide leiden
unwahrscheinlich, doch eigentlich nicht unter Bulimie oder Magersucht,
sondern unter der Tatsache, ungeliebt und unbeachtet zu sein von der
eigenen Mutter.
Literaturhinweis: Laura Gutman, La revolución de las madres.
Quelle
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