Vorwärts immer, rückwärts nimmer: Jetzt kann nur noch Peking helfen!
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Ja, die Morgenmeldungen muss man erst mal verdauen. Wem wie mir beim Verfolgen der Abstimmung in Großbritannien so gegen ein Uhr die Augen zugefallen sind, hatte heute Morgen beim Blick auf den Nachrichtenticker des Smartphones ein übles Erwachen. Die Briten werden also die EU verlassen. Wirklich.
Ja, die Morgenmeldungen muss man erst mal verdauen. Wem wie mir beim Verfolgen der Abstimmung in Großbritannien so gegen ein Uhr die Augen zugefallen sind, hatte heute Morgen beim Blick auf den Nachrichtenticker des Smartphones ein übles Erwachen. Die Briten werden also die EU verlassen. Wirklich.
Eigentlich hatte ich vor dem Einschlafen schon befürchtet, heute die
Siegesmeldungen der EU-Funktionäre lesen zu müssen. Etwa von Herrn
Juncker, der von einem „Sieg der Vernunft“ spricht oder Herr Schulz, der
sicher etwas in der Art „jetzt müssen wir noch schneller und
umfassender zusammenwachsen“ sagen würde. Stattdessen ein Videokommentar von Florian Harms auf SPON, der von einem „Schwarzen Tag für Europa“ und „jetzt erst recht“
spricht. Für Europa, nicht die EU. Ganz so, als hätten die Briten samt
ihren Inseln längst Segel gesetzt und wären in den Weiten des Atlantik
verschwunden.
Aber keine Sorge, Britannien ist noch da. Und die EU-Granden sagen
genau das, was ich erwartet habe – obwohl das Referendum anders ausging,
als sie erwartet hatten. Seltsam, oder? SPON weiter: „Ja, die EU ist nicht perfekt, sie ist oft bürokratisch. Sie scheitert zu oft an den großen Herausforderungen unserer Zeit.“
Ach, tatsächlich! Mir scheint, das ist einer kleinen Mehrheit der
Briten auch aufgefallen und was noch entscheidender sein könnte, einer
noch größeren Mehrheit der „Rest-EU“ auch. Für Harms jedoch kein Grund,
die EU zu verlassen.
„Die EU wurde zwar als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet, aber heute ist sie viel viel mehr“,
so Harms. Wenn ich mir die Meldungen des heutigen Tages so ansehe, habe
ich leider den Verdacht, dass dies nichts als ein frommer Selbstbetrug
ist.
Der DAX bricht um 1000 Punkte ein, die deutsche Börse will ihre
Fusion mit der Londoner Börse „jetzt erst recht“ durchziehen, die
deutsche Autoindustrie fordert schon heute konkrete Verhandlungen für
ein Freihandelsabkommen mit den Briten. Es ist also die
Wirtschaftsgemeinschaft, die betroffen ist, reagiert und mit der neuen
Situation klarkommen muss. Was ich dagegen noch nicht gehört habe ist,
dass Deutschland den Briten den Krieg erklärt hat oder dass es
Reisewarnungen für die britischen Inseln gäbe. Alles funktioniert
überraschend normal, der Verlust freiheitlicher Werte ist nicht in
Sicht.
Eine Art heilender Schock? Oder einfach mehr vom selben?
Ich gebe zu, auch ich habe gehofft. Gehofft, dass die Briten die
Franzosen nicht mit uns alleine in der EU lassen wollen. Gehofft, dass
dieses Referendum eine Art heilender Schock für den undemokratischen,
unkontrollierbaren, unnützen Brüsseler Beamtenbienenstaat und seine
Bienenkönige Juncker, Tusk und Schulz sein würde. Stattdessen lese ich
das Statement von EU-Ratspräsident Donald Tusk, der sagt „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“
und man fragt sich, ob nach dem Verlust eines Arms durch Amputation
auch das Bewusstsein Schaden genommen hat. Wenn nicht, sollten
schnellstens noch ein Paar Staaten aus der EU austreten, um diese zu
stärken.
Harms dazu: „Wenn die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammensitzen, dann geht es längst um viel mehr als nur um kleinliche Fragen der Wirtschaft. Dann wird Weltpolitik gemacht.“
Weltpolitik
machen, das ist also das Ziel der EU? Und die Wirtschaft befasst sich
also nur mit kleinlichen Fragen? Wirtschaft ist die einzige Weltpolitik,
die am Ende zählt. Denn ohne das Stoffwechselprodukt der Wirtschaft,
Geld, lassen sich keine Räder drehen, keine Arbeitsplätze erhalten, kein
Sozialsystem finanzieren, keine Entwicklungshilfe leisten und keine
Flüchtlinge versorgen. Nirgends, auch nicht in der EU, geht es ohne die
Wirtschaft. Erstaunlich, dass alle Vorkehrungen, alle Brandmauern, alle
Hiobs-Meldungen des heutigen Morgens sich ausschließlich mit
Wirtschaftsthemen befassen. All die anderen Aspekte der EU scheinen
heute selbst für die EU-Bürokraten keine große Rolle zu spielen, obwohl
man seit Jahren immer wieder das Gegenteil behauptet.
Wie wäre das Referendum ausgegangen, wenn nicht die Drohung aus
Brüssel im Raum gestanden hätte, die „Einheit Europas“ müsse noch viel
tiefer, weitgehender und unumkehrbarer sein? Was, wenn man sich auf die
Aspekte konzentriert hätte, die funktionieren und gesagt hätte, vergesst
den Rest? Was, wenn man den Briten nicht mit „draußen ist draußen“
gedroht hätte? Was, wenn aus Brüssel nicht voller Häme angekündigt
worden wäre, Großbritannien für einen Status, wie Norwegen und die
Schweiz ihn haben, kräftig zur Kasse bitten zu müssen?
Wenns mit der Liebe nicht klappt, mache ich Dir ein Kind
Haben die Briten einen Fehler gemacht? Nur die Briten? So richtig
zufrieden ist man zum Beispiel mit dem Euro auch nirgends. Die einen
Länder ächzen unter ihrer Schuldenlast, die anderen werden durch
Negativzinsen kalt enteignet. Gut, sagt man sich in Brüssel, das liegt
daran, dass wir keine gemeinsame Finanzpolitik haben, am besten eine,
die aus Brüssel kommt. Nun macht die EZB genau das – wenn auch aus
Frankfurt – und versenkt Milliarden in Staatsanleihen klammer
Eurostaaten.
Da auch das nicht wirklich gut funktioniert, sagt man in
Brüssel, das liege daran, dass wir keine gemeinsame Wirtschaftspolitik
haben. Für mich klingt das etwa so: „Schatz, wenn’s mit der Liebe nicht
mehr klappt, lass uns heiraten – und wenn das auch nicht hilft, mach ich
dir ein Kind!" Wenn „eng“ nicht funktioniert, muss es eben „enger“
werden. Eine Logik, die nur in Brüssel gelehrt wird. Die unverhohlene
Drohung „Draußen ist draußen“ in Richtung London hat ihre Wirkung
verfehlt. Es mag der EU nicht passen, aber offensichtlich gibt es auch
andere Wege, die die Nationen Europas beschreiten können, ohne das Krieg
ausbricht oder den Kühen die Milch im Euter sauer wird.
Erinnern Sie sich noch daran, dass es früher mal sowas wie „bilaterale Verträge“ gab, Verträge zwischen zwei
Ländern? Solange ich denken kann berichteten die Fernsehnachrichten von
Ereignissen, deren Szenenbild immer so aussah: Hinter einem wuchtigen
Tisch saßen zwei hochwichtige Männer in dunklen Anzügen mit
bedeutungsvoller Mine vor zwei Stapeln Papier, deren Seiten zwei
dienstbeflissene Sekretäre links und rechts neben den hochwichtigen
Männern blitzschnell umblätterten. Am Ende standen die wichtigen Herren
auf, steckten die Füllfederhalter weg – wichtige Verträge brauchen immer
Füllfederhalter, umarmten sich und die im Halbkreis hinter der Szene
stehenden Zeugen nickten zufrieden und brachen in anerkennenden Applaus
aus. Geschafft! Fünfzig Mähdrescher können sich auf den Weg machen, ein
Staudamm wird errichtet, ein Kredit ist vergeben, Gefangene werden
freigelassen oder Atomwaffen zu Espressomaschinen verarbeitet. Länder
machen sowas laufend. Zumindest früher machten sie das.
Es geht um Kompetenzen, Expertise und Ängste
Erinnern Sie sich auch noch an TTIP? Die Brexit-Debatte hat die
TTIP-Verhandlungen leider etwas in den Hintergrund rücken lassen. Dabei
hängt das eine sehr eng mit dem anderen zusammen. Es geht bei beiden
Diskussionen um Kompetenzen, Expertise, Ängste, die von Scheindebatten
überdeckt werden. In diesem Freihandelsabkommen versucht die EU doch
tatsächlich, ein Abkommen mit einem Staat außerhalb der EU zu
treffen. Das Entgegenkommen soll angeblich sogar so groß sein, dass die
EU auf Beitragszahlungen der USA an die EU verzichten will! Sollte sowas
nicht auch mit den Briten machbar sein? Mit dem künftigen britischen
Premierminister säße sogar jemand am Verhandlungstisch, der
Entscheidungen treffen kann – im Gegensatz zu TTIP, wo die Vertreter
ausgerechnet der Körperschaften eben nicht mit am Tisch sitzen, die am
Ende in vielen Fällen die Entscheidungsgewalt zum Beispiel in Sachen
Umweltstandards haben…die US-Counties.
Vielleicht sucht die EU-Kommission nun aber auch nach größeren
Aufgaben. Mit den demokratischen aber sehr speziellen Strukturen der USA
hat man ja so seine Probleme und die Briten haben unangenehmerweise
auch beschlossen, dem tumben Volk die demokratische Entscheidung über
ihr Schicksal zu überlassen. In Brüssel hat man längst gelernt, dass
Demokratien unzuverlässige Partner für die EU sind. Die EU braucht
Partner, die ihr auf Augenhöhe begegnen und ähnlich ticken. Wer bietet
sich da an? Ganz klar, Peking!
China schwächelt und in Berlin drückt man auf die Paniktaste
Es ist noch nicht so lange her, da interessierte sich niemand für
China. Von dort kamen sowieso nur Reis (sofern die Säcke nicht schon
dort umfielen), rote Mao-Bibeln und Drachenlegenden. Heute ist das
anders, heute fragt sich die Wirtschaft schon beim Morgenkaffee, wie es
China geht und wenn die Auguren im Elb-Orakel „Der Spiegel“ aus dem Smog
Pekings unter 7 Prozent Wirtschaftswachstum herauslesen, schweben im
Kanzlerinnenamt bereits erste Hände über den Panik-Tasten. China
schwächelt, was ist zu tun?
Dreht man den TTIP-Spieß einmal um, müsste die Antwort lauten:
Handelshemmnisse abbauen! Die panischen Meldungen in ARD und ZDF, die
von wieder eingeführten Grenzkontrollen zu Österreich berichteten und
die Marktwirtschaft in Gefahr sahen, zaubern einem chinesischen
Firmenchef nur ein müdes Lächeln ins Gesicht. Er kennt das nicht anders,
nirgends! China ist nicht mal eine anerkannte Marktwirtschaft, von
„Freier Fahrt für freie Waren“ ganz zu schweigen! Dennoch exportiert
China, und wie!
Im Gegensatz zum Handel mit den Vereinigten Staaten hat die EU im
Handel mit China einen deutlichen Import-Überschuss. Das Export-Volumen
macht nicht einmal 50 Prozent dessen aus, was die EU-Mitglieder in die
USA exportieren. Wäre hier ein Freihandelsabkommen nicht viel
sinnvoller? Man stelle sich vor, welche ungeahnten Möglichkeiten sich
daraus ergeben würden. Die EU als Wachstumsgarant des chinesischen
Drachens, der Bedeutungsgewinn Brüssels wäre mit Händen zu
greifen. Endlich echte Weltpolitik machen, wichtig sein, keine
Extra-Saucages für die unwichtigen britischen Inseln mehr – Europa tickt
süß/sauer! Es bestünde im Gegensatz zu TTIP auch keine Gefahr, dass
sich eine Region irgendwo hinter Shanghai den Verhandlungsergebnissen
widersetzt oder die Pekinger Regierung plötzlich das eigene Volk fragt,
was es von einem Abkommen hält. Zum Glück gibt es in China
keine Demokratie! Endlich Planungssicherheit für die Brüsseler
Planwirtschaft! Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Heute mag die EU am
Abgrund stehen, morgen ist sie vielleicht schon einen Schritt weiter. Ex oriente lux!
Zuerst erschienen auf Roger Letschs Blog Unbesorgt hier
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