Freitag, 24. Juni 2016

Wenns mit der Liebe nicht klappt, mache ich Dir ein Kind

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Vorwärts immer, rückwärts nimmer: Jetzt kann nur noch Peking helfen!

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Ja, die Morgenmeldungen muss man erst mal verdauen. Wem wie mir beim Verfolgen der Abstimmung in Großbritannien so gegen ein Uhr die Augen zugefallen sind, hatte heute Morgen beim Blick auf den Nachrichtenticker des Smartphones ein übles Erwachen. Die Briten werden also die EU verlassen. Wirklich.

Eigentlich hatte ich vor dem Einschlafen schon befürchtet, heute die Siegesmeldungen der EU-Funktionäre lesen zu müssen. Etwa von Herrn Juncker, der von einem „Sieg der Vernunft“ spricht oder Herr Schulz, der sicher etwas in der Art „jetzt müssen wir noch schneller und umfassender zusammenwachsen“ sagen würde. Stattdessen ein Videokommentar von Florian Harms auf SPON, der von einem „Schwarzen Tag für Europa“ und „jetzt erst recht“ spricht. Für Europa, nicht die EU. Ganz so, als hätten die Briten samt ihren Inseln längst Segel gesetzt und wären in den Weiten des Atlantik verschwunden.

Aber keine Sorge, Britannien ist noch da. Und die EU-Granden sagen genau das, was ich erwartet habe – obwohl das Referendum anders ausging, als sie erwartet hatten. Seltsam, oder? SPON weiter: „Ja, die EU ist nicht perfekt, sie ist oft bürokratisch. Sie scheitert zu oft an den großen Herausforderungen unserer Zeit.“ Ach, tatsächlich! Mir scheint, das ist einer kleinen Mehrheit der Briten auch aufgefallen und was noch entscheidender sein könnte, einer noch größeren Mehrheit der „Rest-EU“ auch. Für Harms jedoch kein Grund, die EU zu verlassen.

„Die EU wurde zwar als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet, aber heute ist sie viel viel mehr“, so Harms. Wenn ich mir die Meldungen des heutigen Tages so ansehe, habe ich leider den Verdacht, dass dies nichts als ein frommer Selbstbetrug ist. 

Der DAX bricht um 1000 Punkte ein, die deutsche Börse will ihre Fusion mit der Londoner Börse „jetzt erst recht“ durchziehen, die deutsche Autoindustrie fordert schon heute konkrete Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit den Briten. Es ist also die Wirtschaftsgemeinschaft, die betroffen ist, reagiert und mit der neuen Situation klarkommen muss. Was ich dagegen noch nicht gehört habe ist, dass Deutschland den Briten den Krieg erklärt hat oder dass es Reisewarnungen für die britischen Inseln gäbe. Alles funktioniert überraschend normal, der Verlust freiheitlicher Werte ist nicht in Sicht.

Eine Art heilender Schock? Oder einfach mehr vom selben?

Ich gebe zu, auch ich habe gehofft. Gehofft, dass die Briten die Franzosen nicht mit uns alleine in der EU lassen wollen. Gehofft, dass dieses Referendum eine Art heilender Schock für den undemokratischen, unkontrollierbaren, unnützen Brüsseler Beamtenbienenstaat und seine Bienenkönige Juncker, Tusk und Schulz sein würde. Stattdessen lese ich das Statement von EU-Ratspräsident Donald Tusk, der sagt „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“ und man fragt sich, ob nach dem Verlust eines Arms durch Amputation auch das Bewusstsein Schaden genommen hat. Wenn nicht, sollten schnellstens noch ein Paar Staaten aus der EU austreten, um diese zu stärken.

Harms dazu: „Wenn die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammensitzen, dann geht es längst um viel mehr als nur um kleinliche Fragen der Wirtschaft. Dann wird Weltpolitik gemacht.“ 

Weltpolitik machen, das ist also das Ziel der EU? Und die Wirtschaft befasst sich also nur mit kleinlichen Fragen? Wirtschaft ist die einzige Weltpolitik, die am Ende zählt. Denn ohne das Stoffwechselprodukt der Wirtschaft, Geld, lassen sich keine Räder drehen, keine Arbeitsplätze erhalten, kein Sozialsystem finanzieren, keine Entwicklungshilfe leisten und keine Flüchtlinge versorgen. Nirgends, auch nicht in der EU, geht es ohne die Wirtschaft. Erstaunlich, dass alle Vorkehrungen, alle Brandmauern, alle Hiobs-Meldungen des heutigen Morgens sich ausschließlich mit Wirtschaftsthemen befassen. All die anderen Aspekte der EU scheinen heute selbst für die EU-Bürokraten keine große Rolle zu spielen, obwohl man seit Jahren immer wieder das Gegenteil behauptet.

Wie wäre das Referendum ausgegangen, wenn nicht die Drohung aus Brüssel im Raum gestanden hätte, die „Einheit Europas“ müsse noch viel tiefer, weitgehender und unumkehrbarer sein? Was, wenn man sich auf die Aspekte konzentriert hätte, die funktionieren und gesagt hätte, vergesst den Rest? Was, wenn man den Briten nicht mit „draußen ist draußen“ gedroht hätte? Was, wenn aus Brüssel nicht voller Häme angekündigt worden wäre, Großbritannien für einen Status, wie Norwegen und die Schweiz ihn haben, kräftig zur Kasse bitten zu müssen?

Wenns mit der Liebe nicht klappt, mache ich Dir ein Kind

Haben die Briten einen Fehler gemacht? Nur die Briten? So richtig zufrieden ist man zum Beispiel mit dem Euro auch nirgends. Die einen Länder ächzen unter ihrer Schuldenlast, die anderen werden durch Negativzinsen kalt enteignet. Gut, sagt man sich in Brüssel, das liegt daran, dass wir keine gemeinsame Finanzpolitik haben, am besten eine, die aus Brüssel kommt. Nun macht die EZB genau das – wenn auch aus Frankfurt – und versenkt Milliarden in Staatsanleihen klammer Eurostaaten. 

Da auch das nicht wirklich gut funktioniert, sagt man in Brüssel, das liege daran, dass wir keine gemeinsame Wirtschaftspolitik haben. Für mich klingt das etwa so: „Schatz, wenn’s mit der Liebe nicht mehr klappt, lass uns heiraten – und wenn das auch nicht hilft, mach ich dir ein Kind!" Wenn „eng“ nicht funktioniert, muss es eben „enger“ werden. Eine Logik, die nur in Brüssel gelehrt wird. Die unverhohlene Drohung „Draußen ist draußen“ in Richtung London hat ihre Wirkung verfehlt. Es mag der EU nicht passen, aber offensichtlich gibt es auch andere Wege, die die Nationen Europas beschreiten können, ohne das Krieg ausbricht oder den Kühen die Milch im Euter sauer wird.

Erinnern Sie sich noch daran, dass es früher mal sowas wie „bilaterale Verträge“ gab, Verträge zwischen zwei Ländern? Solange ich denken kann berichteten die Fernsehnachrichten von Ereignissen, deren Szenenbild immer so aussah: Hinter einem wuchtigen Tisch saßen zwei hochwichtige Männer in dunklen Anzügen mit bedeutungsvoller Mine vor zwei Stapeln Papier, deren Seiten zwei dienstbeflissene Sekretäre links und rechts neben den hochwichtigen Männern blitzschnell umblätterten. Am Ende standen die wichtigen Herren auf, steckten die Füllfederhalter weg – wichtige Verträge brauchen immer Füllfederhalter, umarmten sich und die im Halbkreis hinter der Szene stehenden Zeugen nickten zufrieden und brachen in anerkennenden Applaus aus. Geschafft! Fünfzig Mähdrescher können sich auf den Weg machen, ein Staudamm wird errichtet, ein Kredit ist vergeben, Gefangene werden freigelassen oder Atomwaffen zu Espressomaschinen verarbeitet. Länder machen sowas laufend. Zumindest früher machten sie das.

Es geht um Kompetenzen, Expertise und Ängste

Erinnern Sie sich auch noch an TTIP? Die Brexit-Debatte hat die TTIP-Verhandlungen leider etwas in den Hintergrund rücken lassen. Dabei hängt das eine sehr eng mit dem anderen zusammen. Es geht bei beiden Diskussionen um Kompetenzen, Expertise, Ängste, die von Scheindebatten überdeckt werden. In diesem Freihandelsabkommen versucht die EU doch tatsächlich, ein Abkommen mit einem Staat außerhalb der EU zu treffen. Das Entgegenkommen soll angeblich sogar so groß sein, dass die EU auf Beitragszahlungen der USA an die EU verzichten will! Sollte sowas nicht auch mit den Briten machbar sein? Mit dem künftigen britischen Premierminister säße sogar jemand am Verhandlungstisch, der Entscheidungen treffen kann – im Gegensatz zu TTIP, wo die Vertreter ausgerechnet der Körperschaften eben nicht mit am Tisch sitzen, die am Ende in vielen Fällen die Entscheidungsgewalt zum Beispiel in Sachen Umweltstandards haben…die US-Counties.

Vielleicht sucht die EU-Kommission nun aber auch nach größeren Aufgaben. Mit den demokratischen aber sehr speziellen Strukturen der USA hat man ja so seine Probleme und die Briten haben unangenehmerweise auch beschlossen, dem tumben Volk die demokratische Entscheidung über ihr Schicksal zu überlassen. In Brüssel hat man längst gelernt, dass Demokratien unzuverlässige Partner für die EU sind. Die EU braucht Partner, die ihr auf Augenhöhe begegnen und ähnlich ticken. Wer bietet sich da an? Ganz klar, Peking!

China schwächelt und in Berlin drückt man auf die Paniktaste

Es ist noch nicht so lange her, da interessierte sich niemand für China. Von dort kamen sowieso nur Reis (sofern die Säcke nicht schon dort umfielen), rote Mao-Bibeln und Drachenlegenden. Heute ist das anders, heute fragt sich die Wirtschaft schon beim Morgenkaffee, wie es China geht und wenn die Auguren im Elb-Orakel „Der Spiegel“ aus dem Smog Pekings unter 7 Prozent Wirtschaftswachstum herauslesen, schweben im Kanzlerinnenamt bereits erste Hände über den Panik-Tasten. China schwächelt, was ist zu tun?

Dreht man den TTIP-Spieß einmal um, müsste die Antwort lauten: Handelshemmnisse abbauen! Die panischen Meldungen in ARD und ZDF, die von wieder eingeführten Grenzkontrollen zu Österreich berichteten und die Marktwirtschaft in Gefahr sahen, zaubern einem chinesischen Firmenchef nur ein müdes Lächeln ins Gesicht. Er kennt das nicht anders, nirgends! China ist nicht mal eine anerkannte Marktwirtschaft, von „Freier Fahrt für freie Waren“ ganz zu schweigen! Dennoch exportiert China, und wie!
Im Gegensatz zum Handel mit den Vereinigten Staaten hat die EU im Handel mit China einen deutlichen Import-Überschuss. Das Export-Volumen macht nicht einmal 50 Prozent dessen aus, was die EU-Mitglieder in die USA exportieren. Wäre hier ein Freihandelsabkommen nicht viel sinnvoller? Man stelle sich vor, welche ungeahnten Möglichkeiten sich daraus ergeben würden. Die EU als Wachstumsgarant des chinesischen Drachens, der Bedeutungsgewinn Brüssels wäre mit Händen zu greifen. Endlich echte Weltpolitik machen, wichtig sein, keine Extra-Saucages für die unwichtigen britischen Inseln mehr – Europa tickt süß/sauer! Es bestünde im Gegensatz zu TTIP auch keine Gefahr, dass sich eine Region irgendwo hinter Shanghai den Verhandlungsergebnissen widersetzt oder die Pekinger Regierung plötzlich das eigene Volk fragt, was es von einem Abkommen hält. Zum Glück gibt es in China keine Demokratie! Endlich Planungssicherheit für die Brüsseler Planwirtschaft! Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Heute mag die EU am Abgrund stehen, morgen ist sie vielleicht schon einen Schritt weiter. Ex oriente lux!


Zuerst erschienen auf Roger Letschs Blog Unbesorgt hier






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