Ach, was war das früher schön. Wenn wir erzählten, daß wir aus Berlin
kämen, ernteten wir begeisterte Blicke. Mit stolzgeschwellter Brust
schauten wir auf die deutsche Provinz herab. Und Provinz, das war alles,
was nicht Berlin war. Heute ist Berlin Provinz – und zwar totale.
Vielleicht nicht unbedingt kulturell,
aber politisch, administrativ und
sowieso und überhaupt.
Im Boden möchte man versinken, wenn man erwähnt, daß man aus einer
Stadt kommt, in der jetzt sogar nicht einmal mehr klar ist, ob die
Wahlen stattfinden. Natürlich können Sie jetzt einwenden, die ändern
doch ohnehin nichts. Sonst wären sie ja verboten … Schon gut. Aber es
geht vor allem um den Grad der Blamage.
Es ist alles nur noch peinlich
Daher noch einmal ganz deutlich und zum Wachwerden: „In Berlin fallen
die Wahlen aus.“ Hallo? Unglaublich, was? Zumindest wird das ernsthaft
diskutiert. Warum sollen sie verschoben werden? So recht kann das
eigentlich niemand erklären. Dabei treffen es zwei Worte am besten:
absolute Unfähigkeit.
Es ist alles nur noch peinlich. Seit geraumer Zeit kann sich kaum
jemand in Berlin an-, ab- oder ummelden. Wer aufs Bürgeramt geht, der
braucht Engelsgeduld und eine völlig ungerechtfertigte Portion
Lokalpatriotismus. Sonst wird er zum Amokläufer. Denn meist geht er nach
Stunden, manchmal nach Tagen, genau wie er gekommen ist: mit dem
Wunsch, endlich einen neuen Paß zu erhalten. Aber ohne Paß und auch ohne
Aussicht darauf.
Nischt jenauet weeß man nich
Viele versuchen es über Monate, manche inzwischen über Jahre. Wer
nicht angemeldet ist, kann übrigens auch nicht wählen. Und dann streikt
noch die neue Software. Berliner Steppkes antworten schon auf die Frage,
was sie einmal werden wollen: „Schwarzhändler für Behördentermine!“ So
weit ist es gekommen.
Tatsächlich ist das nach Drogendealer inzwischen eines der
lukrativsten Geschäfte der Hauptstadt. Allerdings vom Staat deutlich
stärker bekämpft. Wer sich diesen pfiffigen Gestalten anvertraut,
bekommt tatsächlich einmal einen Beamten zu Gesicht. Wie die das konkret
machen: Nischt jenauet weeß man nich. Auf jeden Fall klappt es.
Folge der verfehlten Politik bekämpfen
Seit einiger Zeit will der Senat gegen diesen Schwarzhandel vorgehen.
Er will also eine wohltuende Folge seiner völlig verfehlten Politik
bekämpfen. Das einzige, was überhaupt noch funktioniert. Gott sei Dank
stellt sich die Landesregierung dabei genauso geschickt an wie bei fast
allen anderen Vorhaben. Das heißt: Der Termindealer lebt noch. Und damit
die einzige Hoffnung auf neue Papiere.
Der nächste Gag ist, daß es in den Bezirken tatsächlich jeweils einen
„Stadtrat für Bürgerservice“ gibt. Das ist in etwa so, als würde sich
Saudi-Arabien eine Frauenbeauftragte halten. Der Pankower Vertreter
dieser Sorte denkt, er könnte punkten, indem er ehrlich zugibt, das
Ganze sei keine „bürgerfreundliche Dienstleistung“, und „die aktuellen
Wartezeiten für einen Termin ermöglichen es dem Bürger nicht, gesetzlich
vorgeschriebene Fristen einhalten zu können“. Danke, lieber Herr
Stadtrat, aber so schlau sind wir alleine.
Kommunismus aus Versehen
Langsam wird es wie in der DDR. Man hat keinen Paß und darf nicht
ausreisen. Man hat eine Regierung und darf nicht wählen. Der
Unterschied: Während die Kommunisten das damals absichtlich machten,
geschieht das heute aus Versehen. Wie bitte? Aus Versehen? Wie kann denn
so etwas versehentlich passieren? Auch da zucken alle mit den
Schultern. Es ist, wie es ist.
Schulterzuckendes Einrichten in einem failed state gehört inzwischen
zur nötigsten Eigenschaft eines Berliners. Sonst wird er verrückt. Und
so kratzt er sich auch nur noch verwundert am Hinterkopf, daß die
Zustände in den Bürgerämtern in den Zeitungen zwar thematisiert, aber
nur die Warteschlangen vor dem Lageso skandalisiert werden. Er nimmt das
mehr oder weniger unaufgeregt zur Kenntnis. Resignation ist eingezogen.
Statt Armut eher Armseligkeit
Als Peter Fox vor acht Jahren über seine Geburtsstadt sang, „Guten
Morgen, Berlin, du kannst so häßlich sein, so dreckig und grau, du
kannst so schön schrecklich sein“, da konnte der Hip-Hopper noch nicht
wissen, daß alles noch viel schrecklicher geht. Es ist so ähnlich wie
mit Klaus Wowereit, der vor einer halben Ewigkeit von den Wahlplakaten
sprach: „Wählt mich, es könnte schlimmer kommen.“ Heute sagen viele:
„Ich wählte ihn, und es kam schlimmer.“
Was von Wowi bleiben wird, ist sein „arm, aber sexy“. Aber wer nun
glaubt, es liege an der Armut der Stadt, daß fast alles schief läuft,
ist ebenso schief gewickelt. All das hat viel mehr mit Armseligkeit zu
tun. Esprit wollen wir von dieser biederen und blassen Regierungstruppe
ja gar nicht erwarten. Aber vielleicht könnte mal jemand anfangen, die
Ärmel hochzukrempeln.
Doch ein sozialdemokratischer Regierender Bürgermeister ohne Abitur,
von dem irgendwie jeder den Eindruck hat, er hätte nicht einmal den
Einstellungstest in einer beliebigen Senatsverwaltung bestanden, und ein
CDU-Innensenator ohne jeden Mut, verbreiten vor allem den Eindruck,
damit beschäftigt zu sein, permanent die eigenen Defizite zu verstecken.
Nicht nur ein Großflughafen macht Probleme
Und dann kommen die politischen obendrauf. Hierbei brauchen wir
wirklich gar nicht über Berliner Verkehrspolitik zu reden. Da denken
sowieso alle an den Großflughafen, der vergangene Woche vierjähriges
Jubiläum feierte. Korrekt ausgedrückt: Vor vier Jahren hätte er eröffnet
werden sollen. Und darüber ist nun wirklich alles gesagt, und wir
möchten unsere Leser an dieser Stelle nicht mit diesem alten Hut
langweilen. Aber in Berlin gibt es nicht nur Flug-, sondern auch
Autoverkehr.
Wer demnächst einmal die Hauptstadt besucht, sollte sich den Spaß
machen und in eine Kfz-Werkstatt gehen. Der Meister zeigt dann gern den
Schrott-Container. Darin liegen fast nur Federn und Stoßdämpfer. Alle
gebrochen beziehungsweise ruiniert. Der Zustand der Berliner Straßen –
Motto: „Loch an Loch und hält doch“ – ist ein riesiges Geschäft für die
Mechaniker. Und die Ursache für unbändigen Zorn der Autofahrer.
Ärger mit Auto oder Mutprobe in der U-Bahn
Immerhin, daß die an jeder Ampel stehen, ist diesmal kein Versehen,
sondern wirklich Absicht. Die „Rote Welle“ soll die Berliner ermuntern,
auf die Öffis umzusteigen. Doch dort wird man von Bettlern, Musikanten,
Obdachlosenzeitungsverkäufern oder einfach nur armen Irren genervt.
Inzwischen auch regelmäßig beklaut, geschlagen, vergewaltigt oder sogar
getötet.
Wer nicht von jungen Männern, über deren Herkunft und Religion nicht
gesprochen werden darf, gemeuchelt wird, kann neuerdings von
herabfallenden Kacheln erschlagen werden. In den U-Bahnhöfen regnet es
seit einiger Zeit Fliesen, wenn es oberhalb der Katakomben zuviel Wasser
geregnet hat. Dann, so sagen sich die Motorisierten, doch lieber die
rote Ampel.
Länderfinanzausgleich oder eher „Entwicklungshilfe“?
Auch die meisten Schulen hält nur noch der Anstand zusammen; der Putz
blättert, die Klos sind notorisch verstopft; selbst die Kreide – in
vielen anderen Bundesländern längst abgeschafft – wird zuweilen knapp.
Da lernen manche Kinder in Afrika in schönerer Umgebung als die Berliner
Gören. An Stammtischen wird schon gescherzt, daß die Gelder aus dem
Länderfinanzausgleich eigentlich besser „Entwicklungshilfe“ genannt
werden sollten. Bis dann irgendeiner fragt: Wo ist jetzt der Scherz?
Früher, da war dieses „Berlin, wie haste dir verändert!“ immer auch
als Kompliment gemeint. Eine Stadt, die sich stets neu erfindet, die
niemals schläft. Heute ist ein leichtes Stöhnen bei dem Satz nicht zu
überhören. Und nicht nur Nostalgiker sagen: Damals hatten wir Harald
Juhnke und Günter Pfitzmann, heute Kurt Krömer. Und die wenigen, die den
Namen ihres Regierenden Bürgermeisters überhaupt kennen, scheuen jeden
Vergleich mit Willy Brandt oder Richard von Weizsäcker. Das würde nur
eine weitere Depression verursachen.
Niedergang wird kein Wahlkampfthema sein
Für all das Chaos will natürlich niemand verantwortlich sein, und
deswegen redet man darüber auch nicht. Seit 25 Jahren waren SPD, CDU,
Grüne, Linke und FDP an den Regierungen beteiligt, die SPD seit der
Wiedervereinigung sogar ununterbrochen. Kein Wunder, daß sich kaum ein
Politiker über die Dritte-Welt-Metropole Berlin ereifern möchte, dann
müßte er ja seine eigene Branche in die Pfanne hauen. Da sitzen alle in
einem Boot.
Und so wird der komplette Niedergang einer einst stolzen Stadt kein
Wahlkampfthema sein. Falls Wahlkampf denn überhaupt stattfindet. Ohne
Wahlen auch kein Wahlkampf. Und jetzt dürfen wir natürlich noch einmal
fragen, ob die überhaupt etwas ändern würden, also Berlin retten könnten
…
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