Merkel ruft Europas Staatschefs zu Krisen-Gipfel nach Berlin
Angela Merkel hat die wichtigsten europäischen Staats- und
Regierungschefs für Montag nach Berlin eingeladen. Bei dem Krisen-Gipfel
soll es um die Zukunft der EU gehen. Einen echten Plan B gibt es
allerdings noch nicht.
Die Kanzlerin lässt sich Zeit. Fünfeinhalb Stunden ist die
Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, schon in der Welt. Erst
kurz vor 12.45 Uhr tritt Angela Merkel in Berlin vor die Kameras. Ein
freundliches «Guten Tag», trotz allem, dann liest sie eine genau
ausformulierte Erklärung vom Blatt, die erkennbar der allgemeinen
Beruhigung dienen soll – getreu dem alten britischen Motto «Keep calm
and carry on» («Ruhig bleiben und weitermachen»).
Zumindest soweit das an einem so schwarzen Freitag überhaupt möglich
ist. Merkel macht aus dem Ernst der Lage auch keinen Hehl. «Es gibt
nichts darum herumzureden: Der heutige Tag ist ein Einschnitt für
Europa.» Alles Weitere hänge nun entscheidend davon ab, ob sich die
künftig nur noch 27 EU-Mitglieder als «willens und fähig» erweisen,
«keine schnellen und einfachen Beschlüsse zu ziehen, die Europa nur
weiter spalten würden».
Da klingen Zweifel durch. Die Kanzlerin weiß, dass ohne die Briten –
die für die Deutschen nicht nur wichtiger Partner, sondern auch
Gegengewicht waren – die innere Balance der EU ins Rutschen kommt. Eine
Union minus Großbritannien wird die ohnehin schon gestiegene Sorge vor
einer deutschen Übermacht nochmals verstärken. Deshalb ihre Empfehlung:
«Mit Ruhe und Besonnenheit zu analysieren, zu bewerten und gemeinsam die
richtigen Entscheidungen zu treffen.»
Aber einfach wird das nicht, auch nicht in der eigenen Koalition. Auf
einen gemeinsamen Auftritt – was der Situation vielleicht angemessen
gewesen wäre – verzichten Merkel und ihre SPD-Minister. Die
CDU-Vorsitzende äußert sich solo im Kanzleramt, Vizekanzler Sigmar
Gabriel im Bundestag, Außenminister Frank-Walter Steinmeier in
Luxemburg. Dessen Rat: «Wir dürfen weder in Hysterie noch in
Schockstarre verfallen.»
Für diesen Samstag hat der Außenminister die Kollegen aus den anderen
«Gründerstaaten» der EU in die Villa Borsig eingeladen, das Gästehaus
des Auswärtigen Amts: Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten. Von
dem Sechser-Kreis soll es dann eine Erklärung mit Vorschlägen geben, wie
es nun weitergehen könnte. Mehr Integrationsschritte, jetzt erst recht?
Oder nun erst einmal versuchen, den Status Quo zu wahren? Die Deutschen
neigen zu Letzterem.
Das Treffen in kleinem Zirkel wird in anderen Hauptstädten
misstrauisch beäugt – so sind die Zeiten in der EU. «Wir brauchen jetzt
nicht noch mehr Spaltung», sagt ein Diplomat aus einem der neueren
EU-Mitgliedsländer im Osten. Aber auch Merkel warnte – am Tag der
Volksabstimmung – schon vor der Bildung neuer «Untergruppen». Das war
ziemlich deutlich auf den eigenen Außenminister gemünzt.
Wie es um das Klima in der großen Koalition steht, zeigt auch
Gabriels Reaktion auf den Brexit-Beschluss. Die SPD-Chef verlangt als
Folge einen Kurswechsel in der Europapolitik, weniger «erhobene
Zeigefinger» aus Berlin, mehr Investitionen statt reiner Sparpolitik.
Die eigenen Leute meinte er damit nicht. Gabriel war übrigens der erste,
der sich am Morgen zu Wort meldete. Schon um 06.19 Uhr twitterte er:
«Damn (Verdammt)! Ein schlechter Tag für Europa.»
Merkel hatte die entscheidende Phase der Auszählung in ihrer Wohnung
verfolgt. Dort noch begann sie mit der Krisendiplomatie am Telefon. Auch
als sie kurz vor 08.00 Uhr im Kanzleramt eintraf, hatte sie das Handy
am Ohr. Kurz darauf tagte ihr Küchenkabinett. Bevor sie vor die Presse
ging, holte sie dann die Partei- und Fraktionschefs zu sich. So etwas
macht Merkel nur, wenn die Lage tatsächlich schwierig ist.
Die nächsten Tage wird sie nun wieder im Krisenmodus sein. Am Montag
kommen Frankreichs Präsident François Hollande, Italiens Regierungschef
Matteo Renzi sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk zu Gesprächen in
unterschiedlichen Runden nach Berlin. Am Dienstag beginnt in Brüssel der
erste EU-Gipfel der neuen Zeit. Am Ende ist Briten-Premier David
Cameron möglicherweise schon nicht mehr dabei.
Die Trennungsverhandlungen mit London werden auch für Berlin Neuland
sein – Beitrittsgespräche rückwärts sozusagen. Ein Vorbild dafür gibt es
nicht. Vom Brexit-Beschluss wurde die Bundesregierung aber natürlich
nicht komplett überrascht. Es gibt sogar manche in Berlin, die sagen:
«Wir waren auf den Brexit besser vorbereitet als für den Fall, dass die
Briten drinbleiben.»
Wie allerdings der Plan B nun genau aussieht, darüber verrät Merkel
noch nichts – und auch die anderen nicht. Die Erwartungen jedenfalls
sind groß, auch außerhalb Europas. Der frühere US-Spitzendiplomat
Nicholas Burns, heute Professor, sieht die Kanzlerin vor einer
«historischen Aufgabe»: «Wird sie, wird Deutschland es schaffen, die EU
neu zu formen?» Sein amerikanischer Kollege Steven Hill erhob Merkel
soeben zur «De-Facto-Premierministerin Europas».
Mit Blick auf solche Stimmen sagte Merkel lediglich: «Deutschland hat
ein besonderes Interesse und eine besondere Verantwortung, dass die
europäische Einigung gelingt.» Die Kanzlerin weiß, dass sie anderswo in
Europa inzwischen auch als Hassfigur gilt. Zuhause versucht die AfD, sie
zu einer der Hauptschuldigen für den Brexit zu machen. Parteivize
Alexander Gauland: «Frau Merkel hat mit ihren offenen Grenzen die Briten
aus der Europäischen Union vertrieben.»
Am Freitagnachmittag, kurz nach 17.00 Uhr, ist die Kanzlerin zunächst
aber mal bei einem anderen Thema, an einem anderen Ort gefragt:
Klausurtagung der Spitzen von CDU und CSU in Potsdam, am Templiner See.
Bis Samstagmittag wollen die Unionsparteien einen Weg finden, wie sie
ihr Zerwürfnis in der Flüchtlingspolitik überwinden können. Im Vergleich
zu dem, was in der nächsten Zeit auf Europa zukommen könnte, wirkt das
schon wieder ziemlich friedlich.
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