Besichtigung eines Bürgerkrieges (3):
S r e b r e n i c a
Die Fahrt von Vukovar nach Srebrenica führt nicht nur über
neue Grenzen, sondern durch idyllische Landstriche. Im Tal der Drina
stelle ich fest, dass der Fluss tatsächlich, wie von Ivo Andrić
beschrieben, smaragdgrünes Wasser führt. Die anschließenden Berge laden
zum Wandern ein, besonders in diesem verführerischen
Spätvormittagslicht. Keine gute Idee, denn sie sind noch mit Minen
verseucht.
Srebrenica ist ein kleiner Bergort, viel zu winzig für den großen
Namen, den die Stadt seit 1995 hat.Wir fahren an der berühmten
Fabrikhalle, Stützpunkt der United Nations Protection Force (UNPROFOR)
zunächst vorbei, weil wir uns erst einmal stärken wollen, bevor wir mit
unserer Erkundungstour beginnen. So kommt es, dass mir Srebrenica - der
Name kommt von Srebro/Silber - im Gedächtnis bleiben wird als der Ort,
wo ich die beste Sauerkirschtorte meines Lebens gegessen habe. Als wäre
das nicht genug, steht in der Nähe des Restaurants der schönste
Rosenstrauch, den ich je sah. Bosnien ist voller wunderbarer Rosen, die
jetzt in voller Blüte stehen. Manche ranken sich an zerschossenen Wänden
hoch. Wie kann es sein, dass an Orten des Grauens es so viel Schönheit
gibt?
Nachdem die Truppen von Ratko Mladić die Uno- Sicherheitszone
Srebrenica im Juli 1995 erobert hatten, verkündete er, dass er die Stadt
Serbien übergäbe. Bis heute ist Srebrenica Teil der Republik Srbska,
ein serbisch dominiertes Gebiet in Bosnien- Herzegowina. Im Bürgerkrieg
wurde Srebrenica erst von bosniakischen Widerstandsgruppen, aus denen
später die bosnische Armee wurde, zurückerobert und zum Zufluchtsort für
Flüchtlinge aus den Orten jenseits des Drina-Tals.
Vorgeschichte eines Massakers
Als im April 1993 über Lautsprecher verkündet wurde, dass die UNO
Srebrenica zur Schutzzone erklärt, war der Jubel auf den Straßen so
groß, wie im Garten der Prager Botschaft, als Außenminister Genscher
verkündete, alle Botschaftsflüchtlinge könnten in die BRD ausreisen.
Leider gab es für die Flüchtlinge in Srebrenica kein gutes Ende. Zwar
war von der UNO großspurig erklärt worden, die Schutzzone sei ein Gebiet
„free from any armed attack or any hostile act“, aber die serbischen
Verbände hörten nicht auf, die Stadt zu anzugreifen und den
Belagerungsring enger zu ziehen. Der Konfrontation wurde immer
erbitterter, weil die bosnischen Einheiten in den umliegenden serbischen
Dörfern Rache-Massaker anrichteten.
Als Srebrenica vollständig in seiner Gewalt war, gab Mladić den
Befehl aus, nun nach Potocari weiterzuziehen, wo sich in und um den
UNPROFOR- Stützpunkt an die 20 000 Flüchtlinge versammelt hatten, in der
Hoffnung, von den Blauhelmen beschützt zu werden. Um die 5.000 befanden
sich im Stützpunkt, die anderen lagerten auf den umliegenden Feldern.
Die Schutztruppe bestand nur aus 450 Soldaten.
Als sich die Mladić Truppen näherten, forderte der Kommandeur des
Dutchbat (für dutch batallion) Unterstützung an. Das UN- Oberkommando
lehnte das ab. Man wollte keine Störung in den bereits laufenden
Friedensverhandlungen riskieren. Auch die von der Nato erbetene
Luftunterstützung wurde verweigert.
Mladić war klar, dass 450 Soldaten nicht die Sicherheit von 20.000
Menschen garantieren können. Er spielte seine Überlegenheit skrupellos
aus. Der Dutchbat-Kommandeur wurde zum zeitweiligen Quartier Mladićs
zitiert.
Er und seine Offiziere wurden von drei Vertretern der
Flüchtlinge begleitet, darunter ein Professor, der für die Zivilisten
sprechen soll und der Kommandeur der bosnischen Verteidiger von
Srebrenica. Beiden stellte Mladić ein Ultimatum: Wenn Zivilisten und
Kämpfer getrennte Busse besteigen und sich abtransportieren lassen
würden, blieben sie am Leben. Wenn sie sich weigerten, würden sie
sterben. Auch die Menschen, die sich direkt im Stützpunkt befänden,
müssten sich abtransportieren lassen.
Die Blauhelme lieferten ihre Schützlinge aus
So kam es, dass die holländischen Blauhelme ihre Schützlinge an
Mladić auslieferten. Sie erfuhren erst nach ihrem Abzug, welche Massaker
Mladićs Soldateska angerichtet hatte. Insgesamt wurden 8372 Männer und
Jungen ermordet. Alle Männer zwischen 16 und 66, später zwischen 12 und
77, wurden von ihren Familien getrennt und abtransportiert. Dass sie
unter den Augen der Blauhelme ermordet worden wären, ist allerdings eine
Medienlegende. Die Menschen wurden in Gebieten umgebracht, die bis zu
50 km von Srebrenica entfernt lagen. Das Morden dauerte mehrere Tage.
Hunderte Männer, die versucht hatten, sich über die Berge ins sichere
Ostbosnien durchzuschlagen, wurden verfolgt und getötet. Nur wenige
kamen im sichern Tuzla an.
Als das Massaker bekannt wurde, wurden die Blauhelmsoldaten zu
Sündenböcken gemacht, um von den Fehlern der UNO- Verantwortlichen, der
Politik und der Militärführung abzulenken. Die Blauhelme hatten kein so
genanntes „robustes Mandat“, das es ihnen erlaubt hätte, die Menschen,
die sie beschützen sollten, mit einem Kampfeinsatz zu verteidigen.
Selbst wenn sie es gehabt hätten, wären sie hoffnungslos unterlegen
gewesen. Zudem hatten sie Mladićs Zusicherung, dass alle am Leben
bleiben würden, die seinen Befehlen Folge leisteten.
Heute ist das ehemalige Dutchbat- Hauptquartier eine Gedenkstätte. In
der Fabrikhalle ist noch eine verblasste Losung aus der sozialistischen
Zeit zu sehen. Die Arbeiter der Fabrik ehren den Genossen Tito. Mitten
in die Riesenhalle ist ein Kinosaal gebaut worden, in dem ein Film über
die Ereignisse im Juli 1995 zu sehen ist. Es ist quälend, diese
Menschen zu sehen, deren Schicksal bereits besiegelt ist. Man sieht aber
auch, wie verzweifelt wenig Kräfte die Holländer hatten. Ihnen die
Unterstützung zu verweigern, war ein unverzeihlicher Fehler.
Kaum ein Verantwortlicher wurde einer Strafe zugeführt
Sehr berührend ist, dass keine der interviewten Frauen, die ihre
Männer und Söhne verloren haben, Rache will. Dass sie heute das Gefühl
haben müssen, dass kaum ein Verantwortlicher für die Verbrechen, die im
Bürgerkrieg begangen wurden, einer gerechten Strafe zugeführt wurde, ist
eine zusätzliche Quelle des Leides. Hier kommt nicht nur Serbien, das
Mitglied der EU werden will, seiner Verantwortung nicht nach, sondern
auch Europa versagt, indem es den Folgen dieses Krieges nicht die
gebührende Beachtung schenkt und nicht über seine Fehler nachdenkt.
Wie explosiv die Situation ist, wird uns bei unseren Gesprächen mit
zwei Betroffenen vor Augen geführt. Unser Führer durch die Ausstellung
ist ein Mann, der als Neunzehnjähriger zu den ersten Männern gehörte,
die sich entschlossen, über die Berge das sichere Tuzla zu erreichen.
Deshalb hat er überlebt. Sein Vortrag ist eine einzige Anklage. Von
fehlenden Rachegelüsten oder Versöhnung spricht er nicht. Seine
Pauschalurteile über das Versagen des Westens sind auf Grund seiner
emotionalen Betroffenheit verständlich, aber trotzdem nicht richtig. Er
ist die verkörperte Verbitterung.
Ganz anders ist die Vorsitzende der „Mütter von Srebrenica“, eine
Bauersfrau, die beide Söhne und ihren Mann durch das Massaker verloren
hat. Sie wohnt heute allein in ihrem Haus, das sie nach ihrer Rückkehr
zurückbekommen hat. In ihrem Garten stehen drei Bäume, die ihr ältester
Sohn gepflanzt hat. Sie schaut sich jeden Morgen als erstes diese Bäume
an, sieht dabei ihren Sohn vor sich und findet darin die Kraft zum
Weiterleben. Vom Jüngsten und ihrem Mann ist ihr nichts geblieben. Ihre
Sachen waren alle bei ihrer Rückkehr verschwunden.
Sie sagt, sie wolle keine Rache, sondern nur Gerechtigkeit. Sie macht
sich keine Illusionen darüber, dass es eine gerechte Verurteilung der
Täter geben würde. Sie hält nichts von Carla Del Ponte und dem
Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Wenn es Gerechtigkeit
gäbe, käme Versöhnung von allein. Aber offensichtlich wolle die Politik
keine Versöhnung, sondern die Wunden offen halten für den nächsten
Krieg. Die Menschen seien Spielball der Politik. Hoffnung gäbe es nur,
wenn wir aus dem „Ghetto der schmutzigen Politik“ herauskämen.
Hier kauft der IS systematisch Land
Als sie das sagt, stehen wir auf dem Friedhof von Potocari, auf dem
alle aufgefundenen Opfer bestattet werden. Hier steht eine Gedenksäule,
auf der es zwei Inschriften gibt. Auf Englisch heißt es: „Gerechtigkeit
ist unsere Rache“, auf Bosnisch „Unsere Rache ist Gerechtigkeit.“ Man
kann das auch als Kampfansage verstehen. Nicht weit davon wird ein
Musikvideo mit religiösen Gesängen und verschleierten Jungfrauen
gedreht. Man bekommt das Gefühl, es handele sich um ein Propagandavideo
für radikale Islamisten.
Tatsächlich ist Bosnien im wachsenden Maße Zielpunkt für Islamisten.
Hier kauft der IS in der Nähe der kroatischen Grenze systematisch Land
auf. Das andauernde Politikversagen in Srebrenica ist eine Ursache
dafür. Dass es in Frankreich, Belgien und Deutschland weit mehr IS-
Kämpfer gäbe, als hier, wie uns später von politischer Seite versichert
wird, ist keine Beruhigung.
Als wir im unvergleichlich sanften Abendlicht über die Berge nach
Sarajevo fahren, erscheint jeder Gedanke an Krieg oder Terror absurd.
Aber dieses zum Weinen schöne Licht hat auch die Verbrechen beleuchtet,
die bis heute nicht gesühnt sind.
Siehe hierzu auch den Beitrag IS ante portas
Vera Lengsfeld
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