Freitag, 3. Juni 2016

„Gerechtigkeit ist unsere Rache“

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Besichtigung eines Bürgerkrieges (3):  

S r e b r e n i c a

Die Fahrt von Vukovar nach Srebrenica führt nicht nur über neue Grenzen, sondern durch idyllische Landstriche. Im Tal der Drina stelle ich fest, dass der Fluss tatsächlich, wie von Ivo Andrić beschrieben, smaragdgrünes Wasser führt. Die anschließenden Berge laden zum Wandern ein, besonders in diesem verführerischen Spätvormittagslicht. Keine gute Idee, denn sie sind noch mit Minen verseucht.

Srebrenica ist ein kleiner Bergort, viel zu winzig für den großen Namen, den die Stadt seit 1995 hat.Wir fahren an der berühmten Fabrikhalle, Stützpunkt der United Nations Protection Force (UNPROFOR) zunächst vorbei, weil wir uns erst einmal stärken wollen, bevor wir mit unserer Erkundungstour beginnen. So kommt es, dass mir Srebrenica - der Name kommt von Srebro/Silber - im Gedächtnis bleiben wird als der Ort, wo ich die beste Sauerkirschtorte meines Lebens gegessen habe. Als wäre das nicht genug, steht in der Nähe des Restaurants der schönste Rosenstrauch, den ich je sah. Bosnien ist voller wunderbarer Rosen, die jetzt in voller Blüte stehen. Manche ranken sich an zerschossenen Wänden hoch. Wie kann es sein, dass an Orten des Grauens es so viel Schönheit gibt?

Nachdem die Truppen von Ratko Mladić die Uno- Sicherheitszone Srebrenica im Juli 1995 erobert hatten, verkündete er, dass er die Stadt Serbien übergäbe. Bis heute ist Srebrenica Teil der Republik Srbska, ein serbisch dominiertes Gebiet in Bosnien- Herzegowina. Im Bürgerkrieg wurde Srebrenica erst von bosniakischen Widerstandsgruppen, aus denen später die bosnische Armee wurde, zurückerobert und zum Zufluchtsort für Flüchtlinge aus den Orten jenseits des Drina-Tals.

Vorgeschichte eines Massakers

Als im April 1993 über Lautsprecher verkündet wurde, dass die UNO Srebrenica zur Schutzzone erklärt, war der Jubel auf den Straßen so groß, wie im Garten der Prager Botschaft, als Außenminister Genscher verkündete, alle Botschaftsflüchtlinge könnten in die BRD ausreisen. Leider gab es für die Flüchtlinge in Srebrenica kein gutes Ende. Zwar war von der UNO großspurig erklärt worden, die Schutzzone sei ein Gebiet „free from any armed attack or any hostile act“, aber die serbischen Verbände hörten nicht auf, die Stadt zu anzugreifen und den Belagerungsring enger zu ziehen. Der Konfrontation wurde immer erbitterter, weil die bosnischen Einheiten in den umliegenden serbischen Dörfern Rache-Massaker anrichteten.

Als Srebrenica vollständig in seiner Gewalt war, gab Mladić den Befehl aus, nun nach Potocari weiterzuziehen, wo sich in und um den UNPROFOR- Stützpunkt an die 20 000 Flüchtlinge versammelt hatten, in der Hoffnung, von den Blauhelmen beschützt zu werden. Um die 5.000 befanden sich im Stützpunkt, die anderen lagerten auf den umliegenden Feldern. Die Schutztruppe bestand nur aus 450 Soldaten.

Als sich die Mladić Truppen näherten, forderte der Kommandeur des Dutchbat (für dutch batallion) Unterstützung an. Das UN- Oberkommando lehnte das ab. Man wollte keine Störung in den bereits laufenden Friedensverhandlungen riskieren. Auch die von der Nato erbetene Luftunterstützung wurde verweigert.
Mladić war klar, dass 450 Soldaten nicht die Sicherheit von 20.000 Menschen garantieren können. Er spielte seine Überlegenheit skrupellos aus. Der Dutchbat-Kommandeur wurde zum zeitweiligen Quartier Mladićs zitiert. 

Er und seine Offiziere wurden von drei Vertretern der Flüchtlinge begleitet, darunter ein Professor, der für die Zivilisten sprechen soll und der Kommandeur der bosnischen Verteidiger von Srebrenica. Beiden stellte Mladić ein Ultimatum: Wenn Zivilisten und Kämpfer getrennte Busse besteigen und sich abtransportieren lassen würden, blieben sie am Leben. Wenn sie sich weigerten, würden sie sterben. Auch die Menschen, die sich direkt im Stützpunkt befänden, müssten sich abtransportieren lassen.

Die Blauhelme lieferten ihre Schützlinge aus

So kam es, dass die holländischen Blauhelme ihre Schützlinge an Mladić auslieferten. Sie erfuhren erst nach ihrem Abzug, welche Massaker Mladićs Soldateska angerichtet hatte. Insgesamt wurden 8372 Männer und Jungen ermordet. Alle Männer zwischen 16 und 66, später zwischen 12 und 77, wurden von ihren Familien getrennt und abtransportiert. Dass sie unter den Augen der Blauhelme ermordet worden wären, ist allerdings eine Medienlegende. Die Menschen wurden in Gebieten umgebracht, die bis zu 50 km von Srebrenica entfernt lagen. Das Morden dauerte mehrere Tage. Hunderte Männer, die versucht hatten, sich über die Berge ins sichere Ostbosnien durchzuschlagen, wurden verfolgt und getötet. Nur wenige kamen im sichern Tuzla an.

Als das Massaker bekannt wurde, wurden die Blauhelmsoldaten zu Sündenböcken gemacht, um von den Fehlern der UNO- Verantwortlichen, der Politik und der Militärführung abzulenken. Die Blauhelme hatten kein so genanntes „robustes Mandat“, das es ihnen erlaubt hätte, die Menschen, die sie beschützen sollten, mit einem Kampfeinsatz zu verteidigen. Selbst wenn sie es gehabt hätten, wären sie hoffnungslos unterlegen gewesen. Zudem hatten sie Mladićs Zusicherung, dass alle am Leben bleiben würden, die seinen Befehlen Folge leisteten.

Heute ist das ehemalige Dutchbat- Hauptquartier eine Gedenkstätte. In der Fabrikhalle ist noch eine verblasste Losung aus der sozialistischen Zeit zu sehen. Die Arbeiter der Fabrik  ehren den Genossen Tito. Mitten in die Riesenhalle ist ein Kinosaal gebaut worden, in dem ein Film über die Ereignisse im Juli 1995 zu sehen ist. Es ist quälend, diese Menschen zu sehen, deren Schicksal bereits besiegelt ist. Man sieht aber auch, wie verzweifelt wenig Kräfte die Holländer hatten. Ihnen die Unterstützung zu verweigern, war ein unverzeihlicher Fehler.

Kaum ein Verantwortlicher wurde einer Strafe zugeführt

Sehr berührend ist, dass keine der interviewten Frauen, die ihre Männer und Söhne verloren haben, Rache will. Dass sie heute das Gefühl haben müssen, dass kaum ein Verantwortlicher für die Verbrechen, die im Bürgerkrieg begangen wurden, einer gerechten Strafe zugeführt wurde, ist eine zusätzliche Quelle des Leides. Hier kommt nicht nur Serbien, das Mitglied der EU werden will, seiner Verantwortung nicht nach, sondern auch Europa versagt, indem es den Folgen dieses  Krieges nicht die gebührende Beachtung schenkt und nicht über seine Fehler nachdenkt.

Wie explosiv die Situation ist, wird uns bei unseren Gesprächen mit zwei Betroffenen vor Augen geführt. Unser Führer durch die Ausstellung ist ein Mann, der als Neunzehnjähriger zu den ersten Männern gehörte, die sich entschlossen, über die Berge das sichere Tuzla zu erreichen. Deshalb hat er überlebt. Sein Vortrag ist eine einzige Anklage. Von fehlenden Rachegelüsten oder Versöhnung spricht er nicht. Seine Pauschalurteile über das Versagen des Westens sind auf Grund seiner emotionalen Betroffenheit verständlich, aber trotzdem nicht richtig. Er ist die verkörperte Verbitterung.

Ganz anders ist die Vorsitzende der „Mütter von Srebrenica“, eine Bauersfrau, die beide Söhne und ihren Mann durch das Massaker verloren hat. Sie wohnt heute allein in ihrem Haus, das sie nach ihrer Rückkehr zurückbekommen hat. In ihrem Garten stehen drei Bäume, die ihr ältester Sohn gepflanzt hat. Sie schaut sich jeden Morgen als erstes diese Bäume an, sieht dabei ihren Sohn vor sich und findet darin die Kraft zum Weiterleben. Vom Jüngsten und ihrem Mann ist ihr nichts geblieben. Ihre Sachen waren alle bei ihrer Rückkehr verschwunden.

Sie sagt, sie wolle keine Rache, sondern nur Gerechtigkeit. Sie macht sich keine Illusionen darüber, dass es eine gerechte Verurteilung der Täter geben würde. Sie hält nichts von Carla Del Ponte und dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, käme Versöhnung von allein. Aber offensichtlich wolle die Politik keine Versöhnung, sondern die Wunden offen halten für den nächsten Krieg. Die Menschen seien Spielball der Politik. Hoffnung gäbe es nur, wenn wir aus dem „Ghetto der schmutzigen Politik“ herauskämen.

Hier kauft der IS systematisch Land

Als sie das sagt, stehen wir auf dem Friedhof von Potocari, auf dem alle aufgefundenen Opfer bestattet werden. Hier steht eine Gedenksäule, auf der es zwei Inschriften gibt. Auf Englisch heißt es: „Gerechtigkeit ist unsere Rache“, auf Bosnisch „Unsere Rache ist Gerechtigkeit.“ Man kann das  auch als Kampfansage verstehen. Nicht weit davon wird ein Musikvideo mit religiösen Gesängen und verschleierten Jungfrauen gedreht. Man bekommt das Gefühl, es handele sich um ein Propagandavideo für radikale Islamisten.

Tatsächlich ist Bosnien im wachsenden Maße Zielpunkt für Islamisten. Hier kauft der IS in der Nähe der kroatischen Grenze systematisch Land auf. Das andauernde Politikversagen in Srebrenica ist eine Ursache dafür. Dass es in Frankreich, Belgien und Deutschland weit mehr IS- Kämpfer gäbe, als hier, wie uns später von politischer Seite versichert wird, ist keine Beruhigung.

Als wir im unvergleichlich sanften Abendlicht über die Berge nach Sarajevo fahren, erscheint jeder Gedanke an Krieg oder Terror absurd. Aber dieses zum Weinen schöne Licht hat auch die Verbrechen beleuchtet, die bis heute nicht gesühnt sind.

Siehe hierzu auch den Beitrag IS ante portas





Vera Lengsfeld
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