Sonntag, 6. Januar 2013

Vertrauen



Das Wort ist verdächtig. Heutzutage, heißt es, kannst du keinem mehr trauen. "Aber", fragt der Dichter Lothar Zenetti, "wer will leben ohne das, was wir Vertrauen nennen? Mögen wir auch immer wieder enttäuscht werden, wir müssen uns ein Herz fassen, uns buchstäblich trauen, aus dem Vertrauen zu leben." 

Wie die Kinder. Die Tochter, gerade mal drei Jahre alt, klettert während eines Urlaubs auf eine hohe Balustrade. Plötzlich verlässt sie der Mut. Sie traut sich nicht hinunter, weint und schreit und jammert. Da stellt sich die Mutter unter die Brüstung, breitet die Arme aus und ruft: "Spring nur, ich fange dich auf." Das Kind atmet kräftig durch und springt. Die Mutter fängt es auf, hält es fest, presst es an sich. Die Kleine, nun ganz ruhig, befreit sich aus der Umarmung und sagt: "Du bist doch da gewesen, Mama."

Niemand hat ein so unerschütterliches Urvertrauen wie die Kinder. Erst mit den Jahren lernen sie durch Belehrung und Warnung, Vertrauen einzuschränken und sich Misstrauen vorzubehalten. Wer vertraut, liefert sich aus, gibt einen Teil seines Lebens der Macht eines anderen preis. Es ist eine große Selbstaufopferung. Deswegen ist enttäuschtes, ausgenutztes und missbrauchtes Vertrauen eine nur mühsam  zu verarbeitende, böse Erfahrung. Auf die wir heftig reagieren.

Vertrauen ist eine Grundbefindlichkeit unseres Lebens. Ohne es ist Verständigung zwischen Menschen nicht möglich. Auch Zeitgenossen, die uns völlig fremd sind, begegnen wir erst einmal mit natürlichem Vertrauen. Wir erweisen es, und wir begehren es. Die Wladimir Iljitsch Lenin zugeschriebene Weisheit ist umzukehren. Nicht: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Sondern: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Zu viel Misstrauen zerstört.

Man muss auch sich selbst vertrauen, seinen Fähigkeiten, seinen Möglichkeiten, seinen Einsichten. "Sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben", findet sich bei Johann Wolfgang von Goethe. Und doch sind uns auch Momente nicht fremd, in denen wir jedes Selbstvertrauen verlieren.

Wir brauchen Menschen unseres Vertrauens, sei es der Hausarzt oder die Kundenbetreuerin bei der Bank. Und auch das heißt vertrauen: jemanden weggehen sehen in der sicheren Erwartung, dass er zurückkommt. "Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird", meint der libanesische Schriftsteller Khalil Gibran. "Das Glück des Werdens liegt im Vertrauen", weiß der Volksmund. Und für die Poetin Marie von Ebner-Eschenbach ist das Vertrauen etwas so Schönes, "dass selbst der ärgste Betrüger sich eines gewissen Respektes nicht erwehren kann vor dem, der es ihm schenkt".

Vertrauen muss man wagen. "Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt", dichtete der Jenaer Theologieprofessor Klaus Peter Hertzsch 1989. "Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit." Eine Vision. Wenige Wochen später fiel die Mauer zwischen Ost und West.  

Hans-Albrecht Pflästerer


Quelle

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