Montag, 20. Januar 2014

Vergeben und Vergessen - Zwillinge von Gottes Gnaden

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Wer ein Plädoyer für das Vergessen halten will hat von Vorneherein mit beträchtlichem Widerstand zu rechnen. Offensichtlich sind wir von Wenigem so überzeugt wie von dem Ausspruch des Kirchenvaters Augustin: »Ich bin meine Erinnerung«. Insbesondere ältere Menschen unternehmen Gehirnjogging und werden im Werbefernsehen mit Angeboten überhäuft, Medikamente zur Verbesserung der mentalen Leistungsfähigkeit zu konsumieren. Mag auch der Körper altern, das Oberstübchen muss funktionieren. Auch politisch ist das Vergessen Staatsfeind Nr. 1: Denkmäler, Zeitzeugen und Appelle sichern den moralischen Imperativ, dass nicht vergessen werden darf, was das kollektive Bewusstsein belastet. Die Kirche versteht sich als Erinnerungsgemeinschaft und es ist signifikant, dass ein an jeder Bushaltestelle befestigtes Diakonieplakat zur Katastrophenhilfe übertitelt ist: »Die schlimmste Katastrophe ist das Vergessen«.
Die Theologie hat aber nicht die Aufgabe, gängige Meinungen nur zu bestätigen, sondern darf sie in Frage stellen und zu heilsamen Korrekturen beitragen. Bezogen auf unser Thema geht es nicht darum, den Wert des Erinnerns zu bestreiten. Aber das Vergessen ist auch wichtig, gerade wenn es um Belastungen aus alten Zeiten geht. Lots Frau wird zur Salzsäule, als sie sich in die schlimme Vergangenheit umdreht. »Don’t look back in anger« singt die Rockgruppe »Oasis« und der Volksmund hält »Vergeben und Vergessen« zusammen. Zwillinge, die vielleicht auf den ersten Blick keine Wunschkinder sind, aber nur gemeinsam gedeihen und Schaden nehmen, wenn sie unbedacht und unsanft voneinander getrennt werden.
A. Erinnerung als Problem
Jean-Paul Sartre beschreibt in Huis Clos [Geschlossene Gesellschaft] die moderne Hölle als Ausgeliefertsein des Einzelnen an die ihn fixierenden Erinnerungen, seine eigenen und die der Anderen. Drei Verstorbene sitzen auf ewig zusammen in einem schlichten Zimmer, sie erscheinen als Summe ihrer Taten und gewählten Existenzen. Es gibt keinen Neuanfang, weil es kein Vergessen des gelebten Lebens gibt. Ferner können sich die Hölleninsassen nach Sartre auch nichts Gutes vom Gedenken der Lebenden versprechen. Diese vergessen nicht, haben aber primär unfreundliche Bilder der Verstorbenen im Kopf. Unflexible, selektive Ansichten, die sich nicht mehr beeinflussen lassen2. Die Hirnqual besteht in diesem Ausgeliefertsein an die Willkür des Gedächtnisses anderer. Einer der Verstorbenen war nur einmal feige, bleibt aber als »der Feigling« in den Erinnerungen der Überlebenden heillos festgelegt. Daran nichts mehr ändern zu können, ist in diesem Höllenszenario schlimmer als physische Marter. Man versteht daher den Wunsch von Woody Allen: »Ich möchte nicht in der Erinnerung der Leute weiterleben, ich möchte ich meinem Wohnzimmer weiterleben«.
Die Hölle hat immer mit dem Bösen zu tun. Und das Böse ist auch darin niederträchtig3, dass es aufgrund seiner Vexierspiele und Inkubationszeiten in aller Regel zu spät erkannt wird und dafür hinterher hinterhältig im Gedächtnis verweilt. Sartres Beispiel verweist auf das Problem der Hartnäckigkeit von bösen Erinnerungen. Diese gibt es auch schon zu Lebzeiten, z.B. elementar somatisch: Der unbarmherzige Körper vergisst nichts, was ihm angetan wird. Spuren von physischen oder psychischen Schädigungen können in der Physiognomie Spuren hinterlassen, sie werden aber in jedem Falle intern gespeichert. Längst überwunden geglaubte Krankheiten lauern wie zusammengerollte Schlangen auf neue Chancen, den Hals zu recken und sich wieder zu Gespür zu bringen. Schmerzerfahrungen hinterlassen seelische Gravuren4 und können nach Jahren oder Jahrzehnten in Belastungssituationen reaktiviert werden. Flashbacks, die Realpräsenzen erlittener Traumata im späteren Leben, verweisen auf das Leben zerstörende Potential des Erinnerungsvermögens, das keine Distanz zum gelebten Leben zulässt, weil es die Leiden der Vergangenheit beständig zu aktualisieren und als jetzige5 Realitäten zu präsentieren vermag. Auch wer nicht im Konzentrationslager war und vielleicht sein Leben lang nicht mehr Zug fahren kann, ohne an die Entbehrungen, Kälte und Gerüche in den Vernichtungswaggons zu denken, erinnert in veränderten Situationen spezifische, im Verlauf der Biographie erfahrene Demütigungen.
Kränkungen im Kindesalter können ruinöse Konsequenzen für die gesamte Lebensgestaltung haben. Ein abfälliger Kommentar der Eltern in den verletzlichen Jahren über die Beschaffenheiten des Körpers, vielleicht nur als Spaß6 gemeint, vielleicht nur als Medusenblick adressiert, hinterlässt eine Markierung im Kopf. Pathologische Scham, reale oder imaginierte Verfehlungen und erinnerte Unheilszusammenhänge sind im Gedächtnis offenbar so gewichtig, dass es schwer ist, dagegen etwas Positives geltend zu machen. Wohl jeder Mensch hat solche aufreizenden Splitter im Gedächtnis, belastende Sätze und abwertende Blicke, die lebensbestimmend wurden, obwohl man manchmal nicht einmal mehr weiß, wer sie gesprochen hat, wer zu intim auf uns hingesehen hat.
Aber solche Stigmata erfüllen ein Leben lang mit Scham oder mit Minderwertigkeitsgefühlen. Ich sprach neulich mit einer meiner Studentinnen, die inzwischen 25 Jahre alt ist und sehr gute Leistungen erbringt. Noch immer hat sie Prüfungsängste, weil sie die Worte ihres Klassenlehrers nicht vergessen kann: »Du bist einfach zu blöd, um Abitur zu machen und zu studieren«. Vieles gibt es in unserem Leben, was wir vielleicht nur deshalb tun oder unterlassen, weil Stimmen, Blicke, Signale aus der Vergangenheit uns in bestimmte Richtungen treiben oder von bestimmten Erfahrungen abhalten. Und auch wir selber belasten andere durch Schamsituationen, in die sie durch unser Verhalten gezwungen werden, ob es uns bewusst ist oder nicht. Wer andere beschämt, hat Vergebung nötig.
»Kannst du die Sünde nicht vergessen und begreifen, daß die Liebe in allem schön ist?«, fragt Lavinia Mannon ihren Geliebten in O’Neills7 Drama Trauer muss Elektra tragen. Sie fragt aus Verzweiflung, nachdem sie ihren Bruder zum Mord am Geliebten ihrer Mutter angestiftet hat und er nach der Tat ebenso wie ihre Mutter Suizid begangen hat und nun die ganze Hausatmosphäre vergiftet ist. Wem bleibt schon diese Erfahrung erspart, dass man sich von manchen Toten einfach nicht befreien kann? Nicht akzeptierte Suizide, nicht akzeptierte Verteilungen des Erbes, aber auch alltägliche Auseinandersetzungen, die nicht mehr durch Versöhnung bereinigt werden konnten, sitzen im Familiengedächtnis; die Erinnerung vermag nicht selten keine anderen Aspekte des Lebens von Verstorbenen zu fokussieren als diese Szenen. Niemals los wird man offenbar auch die ganz berüchtigten Gespenster: In der VIP-Lounge des kollektiven Gedächtnisses sitzen Stalin und Hitler auf Stammplätzen, ersterer wird trotz seiner Gräueltaten in letzter Zeit wieder zum »Väterchen«, letzterer geistert als Symbol des Bösen schlechthin durch die Nachkriegsgeschichte – aber dass speziell die Deutschen Hitler nicht loswerden, sondern ihn unter Wiederholungszwang immer wieder und gerade in den schönen Künsten, in Literatur, Theater und Filmen traktieren, kann man auch als seinen wahren Triumph werten.
Es ist jedenfalls zutreffend, dass – nach einer klugen Analyse von Eberhard Jüngel8 – die Toten, zu denen Menschen früher ein gutes Verhältnis hatten, sich nach und nach in aller Stille aus dem Gedächtnis verabschieden. Die Bilder verblassen und dieser letzte Liebesdienst der Toten an den Lebenden schenkt diesen Zukunftsfähigkeit. Die Gesellschaft insgesamt und nicht zuletzt die Theologie ist daher nicht gut beraten, wenn sie einen stärkeren Umgang mit den Toten kultivieren möchte9 und gar einen ausgeprägten Ahnenkult10 befürwortet. Es sind die Toten, mit denen noch Rechnungen offen sind, die, mit denen kein Friede gemacht werden kann, die die Lebenden an die böse Vergangenheit ketten. Vieles bleibt selbst von geliebten Verstorbenen im Gedächtnis, was diese selber vielleicht gar nicht wichtig fanden, anderes, was sie als zentral für ihr Leben betrachten, wird nicht mehr erinnert. Das ist unvermeidlich, weil wir uns schon zu Lebzeiten nur höchst begrenzt verstehen können. Und wer in Todesanzeigen notiert, der oder die Verstorbene würde in der Erinnerung oder im Herzen weiterleben, sollte sich dieser Problematik zumindest bewusst sein.
Jedoch ist auch der umgekehrte Sachverhalt drastisch, dass nämlich Menschen in manchen Köpfen überhaupt keiner Erinnerung wert scheinen. So erzählte jemand »von Eichmanns unvorstellbarem Gedächtnis für Essen. Sogar von Diners, zu denen er am Anfang seiner SS-Zeit 1934, 1935 eingeladen wurde, kann er noch genau berichten, welche Suppe, welches Fleisch es gab und ob der Nachtisch aus Obst oder Kuchen bestand. Wenn es sich dagegen um deportierte Juden handelt, erklärt er: ›Hundertfünfzig- oder zweihundertfünfzigtausend, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Es ist schon lange her‹«.11
Das Grauen des Bösen resultiert nicht nur aus Exzessen der Gewalt. Sondern es atmet sich auch aus in Arten und Weisen unseres Erinnerns und Vergessens. Gerade die Zeit des Nationalsozialismus gibt dabei Indizien für die Ambivalenz des Vergessens: Einerseits war das Konzentrationslager geradezu ein System des Vergessens. Denn die SS tat alles Erdenkliche, um ihren Opfern die Vergangenheit zu entwerten. Sie nahm ihnen jegliche persönliche Habe weg, zwang sie als Personen zur Regression, bis sie sich wie folgsame Kinder verhielten und drängte darauf »daß die Familien sich von ihren inhaftierten Angehörigen lossagten«.12 Andererseits zeigte sich am selben Ort, dass auch gute Erinnerungen in bösen Zeiten schmerzhaft13 sein können und das mindestens partielle Vergessen bzw. systematische Verschweigen von schönen Erlebnissen in Extremsituationen lebenswichtig sein kann.
Das ist hervorzuheben, weil das Gedächtnis eigentlich anders orientiert ist. Bezüglich des individuell als bedeutsam erlebten Schönen und Guten verhält es sich gierig, spielt das Angenehme in Gedanken immer wieder durch und trachtet danach, es auf Dauer zu stellen. Der Intensitätsgrad realer Wiederholungen wird dabei am Maßstab der Gedanken gemessen und die Realitäten enttäuschen meist im Vergleich mit den Imaginationen.
Das Vergessen, soviel kann als Zwischenfazit notiert werden, könnte seine heilsame Funktion nicht nur bei der Bewältigung von bösen Erfahrungen haben. Es könnte diegute Erinnerung davor bewahren, totalitär zu werden und sich als Hüterin der Lichtseite des Lebens zu gebärden, als tragfähiges Fundament der Daseinsgestaltung und Quelle des Lebensmuts.
B. Vergessen: Die schwierige Stiefschwester im Geist
Zweifellos hat das Vergessen keinen guten Ruf. In früheren Zeiten wurde es immerhin als Normalzustand gesehen, weshalb man das Erinnern im Modus des Gebotes anmahnte. Das kennen wir z.B. aus der Abendmahlsliturgie, wo zum Gedenken aufgefordert wird. Unsere Kultur hingegen geht aus vom Erinnern und ächtet das Vergessen. Vergessliche Individuen gelten als unzuverlässig und sind es auch, damit handeln sie sich Missbilligungen ein. Das Nachlassen mentaler Leistungsfähigkeit ist daher für Individuen und Kollektive Gegenstand schlimmster Befürchtungen und es gibt verständliche Abwehrreaktionen aus Angst vor den damit verbundenen Identitätsverunsicherungen. Lange vor seinem eigenen Erkranken an Demenz formulierte Walter Jens: »Ich glaube nicht, das derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist«.14 Dass die weit in den Intimbereich eines Betroffenen und seiner Angehörigen eingreifenden Folgen einer Demenzerkrankung in jüngster Zeit gerne im Detail veröffentlicht werden, spricht ebenso für die Ächtung des Vergessens wie die gleichzeitige Konjunktur von Möglichkeiten des Neuro-Enhancement, jener Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeiten15 von gesunden Menschen. Gleichzeitig mehren sich aber die modernen Lotophagen, die unter Zuhilfenahme von Stimulanzen Vergessen suchen und Strategien ersinnen, um den Banalitäten des Alltags und dem Stresspotential der Leistungsgesellschaften zu entfliehen. Inmitten einer offiziell etablierten Erinnerungseuphorie wird das Komasaufen zur Chiffre von Vergessenssehnsucht.
Deutlich sind die Ambivalenzen: Vergessen bedrängt und besticht gleichermaßen, weil es in sich paradox ist. Wir wissen nur, dass wir etwas vergessen haben, wenn wir erinnern, dass wir es vergessen haben. Ohne Anstrengung verläuft hingegen das lebenslänglich unbewusste und nicht kontrollierbare Entschwinden von Zeichen, ihr dezentes Davontreiben macht die Zeitlichkeit des Daseins unheimlich. Zugleich ist es schwer, zwischen Vergessensformen zu differenzieren. Der Terminus bezeichnet zum einen das anscheinend unwiederbringlich Verlorene, ausgelöschte Spuren, die aber in Tiefenschichten doch abgelegt bleiben als Empfindung, Geruch, Stimme und etwa unter Hypnose reaktivierbar sind, sofern die neurobiologischen Grundlagen dafür existieren. Und Vergessen bezeichnet zum anderen das lediglich Verschüttete, prinzipiell zugängliche und der Bearbeitung fähige Verdrängte, von dem die Psychotherapie zehrt.
In politischer Hinsicht zeigt sich die tiefe Zweideutigkeit des Vergessens zum einen daran, dass gesamtgesellschaftliche Vergangenheitsfixierung für die Einrichtung immer neuer Archive und Aufarbeitungsbehörden sorgt, die entscheiden, was erinnert und was vergessen werden soll und die zugleich der Musealisierung von Vergangenheiten dienen. Erinnern hat dadurch etwas Gewaltsames. Zum anderen erscheint Vergessen als problematisch angesichts der Vermeidungsstrategien, jenem Desinteresse an Informationen und jenem bequemen Nicht-Wissen-Wollen, das Paul Ricoeur16 zu Rechteskapistisches Vergessen nennt, weil es letztlich eine allzumenschliche, aber moralisch kaum akzeptable Verneigung vor dem Bösen markiert. Auf derselben Linie liegen die probaten und häufig ohne Rücksicht auf die legitimen Bedürfnisse und Ansprüche von Opfern hinweg institutionalisierten und verordneten Verbindungen von Amnesie und Amnestie, die einen allzu leichtfertigen Umgang mit Unrecht signalisieren und an Stelle notwendiger gesamtgesellschaftlicher Trauerarbeit das Pathos des Verwischens beschwören.
Von einer tiefen Problematik ist aber gerade an dieser Stelle zu sprechen, weil man es sich mit diesen Phänomenen nicht zu leicht machen darf. Eindrucksvoll hat Immanuel Kant17 die dem Krieg nachfolgenden Friedensschlüsse geradezu selbstverständlich mit Amnestien liiert. Und zweifellos wäre es der Völkerverständigung zuträglich, wenn geschehenes Unrecht nicht in redundanten Endlosschleifen aktualisiert würde, sondern unbelastete Neuanfänge ohne Vergangenheitsfixierung möglich wären. Was würde aus der Kriegsführung, wenn die ihr zugrunde liegenden Ursprungsmythen schlicht vergessen wären? Wenn nicht alte Gräuel erinnert, sondern im biblischen Sinne darauf gesetzt würde, dass noch nicht erschienen ist, was wir sein werden?
Werden erfordert Distanz zum Gewesenen. Eben dabei stehen Erinnerungen beständig im Wege. Auch das nicht pathologische Gedächtnis gibt beständig Gewesenes für bare Münze aus, obwohl es Fiktionen und Illusionen erzeugt, also systematisch betrügt. Schon bei der autobiographischen Repräsentation von Ereignissen und insbesondere bei deren Transformation in Erzählungen geht das Ich totalitär vor und beabsichtigt, sich als »den Hauptdarsteller in unserer Geschichte zu etablieren«.18 Leider gibt es als Zusatzproblem kein verlässliches Kriterium, um wahre und falsche Erinnerungen19 zu unterscheiden. Das individuelle Gedächtnis reproduziert spontane und provozierteKonfabulationen, also komplexe Ereignisketten, von deren Wahrheitsgehalt die sie reformulierende Person völlig überzeugt ist und die doch fiktiven Charakter haben. Ferner sind Intrusionen, also Einschübe von Erlebnisteilen und falsche Rekognitionen, die einen vorab nicht gelernten Stimulus als gelernt vorstellen, miteinander verwoben: Zeugen weichen bekanntlich in der Darstellung dessen, was sie bezeugen sollen, erheblich voneinander ab, aber jeder hat einen grauen Mantel gesehen, wenn er oft genug danach gefragt wird. Jean Piaget, der Entwicklungspsychologe hat jahrzehntelang die Geschichte erzählt, man hätte ihn als Kind entführen wollen und nur durch den massiven Einsatz seines Kindermädchens wäre das verhindert worden. Erst spät kam heraus, dass das Kindermädchen diese Geschichte nur zu seiner Unterhaltung erfunden hatte.
Die gesellschaftlichen Folgen mentaler Mythenbildungen können erheblich sein, wie Analysen zur Vergegenwärtigung des Holocaust im Familiengedächtnis zeigen, die auch ein kritisches Licht auf den Vertrauensvorschuss gegenüber Zeitzeugen20 werfen. Eingedenk der berechtigten Vorbehalte gegen eskapistisches Vergessen muss ferner das politische Insistieren auf kollektiver Erinnerung problematisiert werden. Eine offiziell normierende Vergangenheitsfixierung kann das Gewesene durchaus alsEpisode behandeln und sich ihrer auf diesem Wege entledigen. Weil es zudem stets unterschiedliche Erinnerungsstifter, multiple historische Erfahrungen und daraus resultierende divergierende Vergegenwärtigungsmuster gibt, darum muss das Bestreben nach einer Vereinheitlichung von Erinnerungen zumindest tendenziell totalitär genannt werden. Leider dienen nämlich erinnerungskulturelle Praktiken historisch gesehen meist der Markierung von Feinden21 und damit der Generierung von Aggressionen und Unfrieden, wie die »Dolchstoß-Legende« exemplarisch demonstriert.
Imperativische Appelle gegen das Vergessen werden daher besser ersetzt durch die anstrengenderen diskursiven Prozesse, die Nachgeborene von der Sinnhaftigkeit einer eigenverantwortlichen Beschäftigung mit Vergangenem, das sie als nicht Beteiligte nicht erinnern können, zu überzeugen suchen. Darin liegen auch Chancen, weil es nämlich Entsetzliches gibt, das für die Beteiligten zu furchtbar ist, um direkt erinnert oder zu eigenen Lebzeiten bearbeitet zu werden. Zwischen dem selbst erteilten Dispens, Vergangenheiten nicht bedenken zu müssen und dem verordneten Druck22, unter Vergangenheiten leiden zu müssen, ist die Gratwanderung schmal. Kein Weg besteht im Ausspielen von Erinnern gegen Vergessen. Subjektiv Bedeutsames kann lebenstauglich sein und doch auf Sand gebaut. Erinnerungen sind Fiktionen mit unklaren Realitätsanteilen und Erzählungen sind Konstrukte zweiter Ordnung. Daran festzuhalten heißt, den Menschen auf schwankendem Boden zu sehen. Was ihm Halt verspricht, kettet ihn auch an die Gestade, von denen er aufbrechen soll.
Vielleicht darf das Vergessen eine unaufdringliche Wirkweise Gottes an uns genannt werden, damit wir uns nicht über Gebühr belasten und nicht meinen, aus unserer eigenen Leistungsfähigkeit, hier der Kraft zur Erinnerung, Daseinszwecke herleiten zu können. Es darf zu denken geben, dass das Vergessen als Quelle und Bedingung des Erinnerns verwahrtes Abwesendes anwesend macht. Denn es ist eben dieser gewöhnungsbedürftige modus operandi, der in der christlichen Theologie von Gottes Selbstvergegenwärtigung ausgesagt wird. Spricht sie doch von einem »Verhältnis, in dem Gott uns nahe kommt, ohne in dieser Nähe seine Entzogenheit aufzuheben. Anwesenheit und Abwesenheit Gottes sind im Worte Gottes nicht mehr alternativ zu denken. Vielmehr ist Gott im Wort als Abwesender anwesend«.23
C. Zwillinge von Gottes Gnaden: Vergessen und Vergeben
Im Zentrum evangelischer Rechtfertigungslehre steht die Einsicht, dass das heillos in Sünde verstrickte Individuum von Gott nicht aufgrund seiner eigenen Leistungen und seiner selbstkonstruierten Identität anerkannt, sondern von Außerhalb seiner selbst und allein aus Gnade als gerechtfertigter Mensch definiert wird. Von daher ist es dem Menschen nicht unwürdig, etwas aus seinem Besitz zu verlieren, auch aus seinemgeistigen Besitz. Der oder die Gerechtfertigte kann auf mental unsicherem Terrain leben und darauf verzichten, zur Sicherstellung von Identität eigenen und fremden Gedankengebäuden letztes Vertrauen entgegenzubringen. Vertrauen24 ist vielmehr die angemessene menschliche Daseinsäußerung gegenüber Gott, gegen die sich der Sünder immunisiert und die der Gerechtfertigte realisieren kann. Vertrauen auf Gott ermöglicht aber ein sich Empfangen von Gottes Zukunft her. Damit ist eine alternative Positionierung zum Leben aus Vergangenheiten verbunden, ein individuelles Absehen »vom Tat- und Werkzusammenhang des menschlichen Lebens – von seinen eigenen Taten, Untaten, Leistungen und Fehlleistungen und von den Taten, Untaten, Leistungen und Fehlleistungen anderer Menschen und Menschengruppen und ihrer Institutionen«.25 Es ist niemals eine Empfehlung, wenn bezüglich einer Person gesagt wird: Das ist ein Mann, das ist eine Frau mit Vergangenheit. Und über die Gerechtfertigten sollte daher erst recht geurteilt werden, dass sie als sich selbst Entzogene wieder Menschen mit Zukunft sind.
Das Vergessen, weil es keine Verfügungsmacht über dessen verborgene Wirkweisen gibt, sondern jedermann ihm gegenüber ausgeliefert ist, stellt in ausgezeichneter Weise den innerweltlich zugänglichen Garanten solcher humaner Selbstentzogenheit dar. Deshalb ist es bedrängend und heilsam zugleich. Bedrängend, weil es das in der unerlösten Welt hausende Ich destabilisiert und Raubbau an seinen aktivierbaren Ressourcen zur verlässlichen Selbstvergewisserung betreibt. Mit unserem Zutrauen zum Erinnerungsvermögen verhält es sich dabei ähnlich wie mit unserem beständigen Unterscheiden von Gut und Böse, auf das wir Zuversicht gründen, obwohl uns die verlässliche Kompetenz zum Urteilen hier gerade fehlt. Demenz kommt von daher als Ernstfall der Rechtfertigungslehre in den Blick.
Heilsam ist das Vergessen insofern, als es die Option gnädiger Nachsicht gegenüber dem unzuverlässigen Gedächtnis fundiert und Energien von Vergangenheitsrepräsentationen abzuziehen ermöglicht, zugunsten neuer Aufmerksamkeiten für die erst noch kommenden Bildwelten. Nicht unsere, über Erinnerungen fixierte Identität ist gewiss, sondern wir leben unter eschatologischem Vorbehalt, d.h. die Zukunft wird uns erst in vollem Umfang ersichtlich machen, wie Gott uns sieht und identifiziert. Ungewissheit aushalten zu können, ist ein Zeichen von Bildung.
Es ist eine wohl lebenslängliche Herausforderung besonderer Art, sich mit dieser mentalen Entsicherung zu versöhnen. Gespeist aus der Einsicht in die Zweideutigkeit des Vergessens entsteht so aber erst die unmögliche Möglichkeit von Vergebungüberhaupt, die deshalb mit dem Vergessen liiert ist, weil beide dem Menschen passivzukommen, nicht seinem Vermögen entsprechen. Deshalb nämlich wird der Konnex zwischen Vergeben und Vergessen in aller Regel bestritten, weil Vergessen negativ konnotiert ist und dazu Vergebung als etwas Praktizierbares missverstanden wird. Meiner Auffassung nach kann Vergebung zwar als Vorsatz in den Horizont der Nachsichtigen eintreten. Wie alles, was in unserem Leben gut genannt zu werden verdient, verdankt sich aber bereits dieser Vorsatz der Wirksamkeit Gottes. Erst recht ist Vergebung nicht aus eigener Kraft realisierbar, weil die bösen Erinnerungen sich gnadenlos reduplizieren und dem Vorsatz den Garaus machen, wenn Vergebungswillige nicht von imaginierten Verletzungen befreit werden. Wer aber kann sich vom Bösen in seinem Leben selber erlösen und das Gute herbeizaubern?
Vergeben mag euphorisch an Willensakte26 geknüpft werden. Aber wer nicht vergessen kann – und der simul iustus et peccator existierende Mensch kann es nievöllig –, findet keine Distanz zur eigenen und fremden Verfehlung. Und so »bleiben die seelischen Wunden immer frisch«.27 Biblisch formuliert: Meine Sünde ist immer vor mir. Und erst recht die Verfehlung der Anderen bei mir und meine bei ihnen. Die Zeit heilt keine Wunden. Jahre später, trotz behaupteter Vergebung, kann einen wie aus heiterem Himmel der Vorwurf treffen: Das hast du früher ja auch schon getan. Du bist ja immer schon so gemein gewesen. Vielleicht zeigt auch nur ein Blick an, was gerade in der Erinnerung wühlt, und es muss gar nicht ausgesprochen werden, was gerade an nicht Abgegoltenem wieder im Raum steht. So gewiss es die Schönheit des stillen Verzeihens, des stummen Einkapselns des Makels in das versöhnungsorientierte Herz gibt – die Betroffenen wissen nicht, wie ihnen geschieht – so gewiss entladen sich alter Schmerz und überwunden geglaubte Trauer im erneuten Vorwurf, der manchmal aus nichtigem Anlass, das doch nur scheinbar Vergebene wieder aufs Tableau bringt. Oder es bleibt trotz der Vergebungsbereitschaft das Gefühl, jemandem, der einen verletzt hat, nie wieder richtig vertrauen zu können. Hinzu kommt als Schwierigkeit, dass der klebrige Makel, der sich für die Geschädigten nicht vergessen lässt, für die Schädigenden auch mit guter Erinnerung verbunden sein kann. Verfehlungen können durchaus mit Freude und Lust verbunden sein.
Einen Ausweg aus der ewigen Repräsentanz belastender Ereignisse sieht Ricoeur28darin, schlimme Tatsachen nicht zu vergessen aber dadurch zu verzeihen, dass ihnen ihre Bedeutung für die Zukunft aberkannt wird. Dazu müsste es aber erstens möglich sein, verlässlich von Tatsachen sprechen zu können, was aufgrund der Sündenverhaftung des Menschen kaum glücken kann. Der Sünder ist nämlich in protestantischer Sicht definiert als einer, der Gott und seinen Nächsten hasst (Heidelberger Katechismus zu Frage 5), daher asozial agiert, sich den Blick für Varianten des Möglichen verstellt und an Versöhnung und Vergebung null Interesse hat. Tatsachen werden daher aus einer eingeschränkten Perspektive, eben nach weltlichen Konventionen als solche definiert. Aber so schwer es ist zu begründen, warum ein Tisch kein Stuhl ist und aufgrund welcher Kriterien dieses erkannt und erinnert wird, so schwer ist es, Gewesenes angesichts der Tücken des Gedächtnisses als Tatsachen auszugeben. Susan Sonntag, die Spezialistin für Photographie, hat darauf hingewiesen, dass wir uns z.B. nur an das Abgebildete erinnern, wenn wir Fotos betrachten, nicht an das, was diesen zugrunde liegt und durch diese repräsentiert wird.
Und was heißt schon Tatsache? Müssten wir nicht gerade den Anderen die Bilderverzeihen können, die sie in unseren Köpfen erzeugen? Jene Phantasien, die sie uns auszumalen zwingen, ohne dass es dafür handfeste Gründe oder überhaupt eines Realitätsbezuges bedarf? Bräuchten wir umgekehrt nicht auch die schweigend-prophylaktisch gewährte Nachsicht der Anderen, weil wir sie so mental missbrauchen und sie uns in geheimen Gedanken und Vorstellungen gefügig machen, ohne dass sie etwas davon mitbekommen?
Nach weltlichen Kategorien zu erinnern, Erinnertes weiterzuspinnen und auf diesen Grundlagen zu urteilen ist gerade das, was der neue Mensch überwinden soll, wobei ihm gewährtes Vergessenkönnen behilflich ist und neue Sichtweisen ermöglicht: »Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr« (2. Kor. 5,16).
Zweitens können Individuen und Kollektive es sich zwar vornehmen – und das ist angesichts des Entsetzlichen, des intrinsisch Unverzeihlichen sehr viel –, dem Geschehenen, wie es sich ihnen als Verhängnis vorstellt, keine Bedeutung mehr für die Zukunft beizumessen. Aber es ist letztlich aufgrund der in den Gedächtnissen der gerechtfertigten Sünder mit harter Ausdauer arbeitenden Vergangenheiten eine synergistisch angehauchte Illusion, gerade von den guten Vorsätzen, von der Aktivierung menschlicher Kapazitäten die Bereinigung der Zukunft zu erwarten und damit implizit auf Selbsterlösung zu setzen. Evangelische Rechtfertigungslehre wird Vergebung im Kern als extern Ermöglichtes verstehen, als Resultat unaufdringlicher und heilsamer Wirkweisen Gottes, der Unvergessliches im verwahrenden Vergessenloziert, es also als Abwesendes in Anwesenheit hält. Nicht jede Bosheit wird das wert sein. Und es ist eine berechtigte Annahme, dass nicht nur die Merkmale monströser oder alltäglicher Verbrechen, sondern auch Gutes und Schönes, etwa feine Wesenszüge von Personen auf diese Weise als Unvergessliches im Hort des Vergessens abgelagert werden – und dann dem Zugriff entzogen in wunderbarer Verborgenheit Leben beeinflussen, die Beteiligten wissen nicht wie.
Noch einmal also: simul iustus et peccator. Als peccator kommt dem Menschen Vergebung nicht einmal in den Sinn. Als iustus erfährt er passiv, dass er vergangenes Unrecht vergessen darf, nicht zuletzt deshalb, weil er darauf vertraut, dass es auf Gottes Gedächtnis ankommt, in dem alle Geschehnisse ganz anders erinnert und bewahrt werden, als sie sich unserer Fixierung des vermeintlich Tatsächlichen darbieten. Wir wissen doch oft nicht einmal, was sich wirklich zugetragen hat, wenn wir explizit oder implizit um Vergebung gebeten werden, und es ist gut, dass wir es nicht wissen. Wer meint, dass es gerade in vertrauten Beziehungen immer ums restlose Offenbaren geht, kann von Gottes Verborgenheit lernen, mit der er uns schützt, weil wir seine Offenbarung nicht ertragen können. Außerdem sind Menschen ohne Geheimnisse langweilig.
Zweifellos also: Das Vergessen darf man nicht verordnen29, das Vergeben nicht einfach als praktikabel ausgeben. Karl Barth hat zu Recht definitives Verzeihen ausschließlich Gott als Möglichkeit zugeschrieben. Lautet aber Gottes »Urteil über den Menschen dahin, daß er von dessen Makel nichts wissen will, dann ist er eben als solcher ausgetilgt und erledigt, dann ist der Mensch, indem er diesen Makel trägt, seinem Makel zum Trotz wirklich makellos, seinem Unrecht zum Trotz im Rechte. Die göttliche Verzeihung ist also kein Verzeihen ›als ob‹ der Mensch kein Sünder wäre. Sie ist gerade als Verzeihung das schöpferische Werk Gotttes, in dessen Kraft der Mensch als derselbe alte Mensch, der er war und noch ist, nicht mehr derselbe, sondern schon ein anderer ist: der, der er sein wird, der neue Mensch. Das ist die Vergebung der Sünden als Schlußstrich unter des Menschen Vergangenheit«.30
Der harte Grund hierfür ist das Kreuz Christi, der Fluchtod des einen Erwählten und Verworfenen. Weil Christus die Sünde übernommen hat und in seinen Wundmalen bei sich aufbewahrt, ist sie vom Menschen bereits weggezogen und harrt noch der eschatologischen Auslöschung. Ist der göttliche Sohn mit seinem Corpus Sündengedächtnis, dann zugleich Hölle in persona. Er allein behält nämlich die Erinnerung an die Macht der von ihm überwundenen Sünde. Wer daher von Jesus Christus das Schlimmste denkt, der denkt richtig. Alle anderen und also wir sind bereits neue Menschen, deren belastete Vergangenheit zum Schwinden gebracht ist. Ins heilsame Vergessen. Dass der alte Mensch, der wir immer auch noch sind, nicht gnädig sein kann, setzt den Versöhnungspraktiken Grenzen. Dass aber der neue Mensch, der wir immer auch schon sind, wiederum diesem alten Menschen gegenüber nachsichtig ist – die Beteiligten wissen nicht wie – manifestiert den protoeschatologischen Vorschein der Erlösung. In seinem Licht leuchtet der Mensch nicht nur auf als einer, der besser ist als seine Taten, sondern als der ganz Andere seiner eigenen Memoiren und fremder Erinnerungen.

Deutsches Pfarrerblatt

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