Montag, 11. April 2016

Einen schwäbischen Bäckermeister hätte keiner angerufen

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Böhmermann und die Gürtellinie des ZDF-Geschmacks

Böhmermann soll Erdogans Gefühle verletzt haben. Gegen den Satiriker wird ermittelt, der Intendant entschuldigt sich beim Türken. Dabei hat das ZDF schon ganz andere Geschmacklosigkeit gebracht.
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Die Kanzlerin führt uns mit ruhig fester Hand in eine neue DDR, und was passiert? Es wird darüber geschrieben. Das macht den Unterschied zur alten DDR aus. Immerhin. Aber es gibt keinen Shitstorm, keinen Hashtag #notinmyname, keine Protestresolution der Unterschriftsteller, die sich sonst über alles aufregen. Auch Joko und Klaas schweigen.
Wir lesen, ein Satiriker habe "ein Schmähgedicht" verfasst, das "unter die Gürtellinie" zielte, er sei "über das Ziel hinausgeschossen", habe sich "vergaloppiert", dabei "die Grenzen der Satire" überschritten, "Gefühle verletzt" und – nicht zu fassen! – ein ausländisches Staatsoberhaupt beleidigt. Einen Despoten, der seine eigene Bevölkerung drangsaliert, Journalisten wegsperren lässt und seinen Gegnern und Kritikern mit Entzug der türkischen Staatsbürgerschaft droht.
Dabei ist jeder seiner Auftritte eine Beleidigung für alle Sinne. Und ausgerechnet diesen Mann darf man nicht beleidigen, nur weil er grade an der Südostflanke der EU die Drecksarbeit für uns erledigt?

Merkel zu Füßen eines Größenwahnsinnigen

Die Kanzlerin hat den türkischen Ministerpräsidenten angerufen und sich halb entschuldigt. Beide, die Kanzlerin und der Ministerpräsident, hätten darin übereingestimmt, dass der im ZDF zuerst gesendete und dann aus der Mediathek gelöschte Beitrag "bewusst verletzend angelegt" gewesen sei. Ja, was denn sonst?
Titantic-Chef Tim Wolff
"Steckt Böhmermann in den Knast!"
 
Sollte er besser "unbewusst verletzend" gewesen sein? Wie der Auftritt von Claudia Roth, in dem sie angeschickert erklärt, die Türkei sei ihre beste "Freundin" und sie liebe die Probleme in der Türkei?
Es ist ein in der Geschichte der Bundesrepublik einmaliger Vorgang. Als im Jahre 2010 Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" erschien, wurde es – ungelesen – von der Kanzlerin als "diffamierend" und "nicht hilfreich" abqualifiziert. Nun geht sie einen großen Schritt weiter: Sie legt sich einem größenwahnsinnigen Staatsoberhaupt zu Füßen und fällt einem deutschen Satiriker in den Rücken.

Einen schwäbischen Bäckermeister hätte keiner angerufen

Was hat sie bei ihrem Amtseid geschworen? Dass sie ihre Kraft "dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden" werde, so wahr ihr Gott helfe? Oder war es etwas anderes? Dass sie die Ehre von Diktatoren beschützen und darauf achten werde, dass sie nicht Opfer von "Schmähkritik" werden?

Inzwischen hat auch der Intendant des ZDF, Thomas Bellut, mit dem türkischen Botschafter in Berlin telefoniert und dabei "sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass der Beitrag Gefühle von Zuschauerinnen und Zuschauern verletzt hat". Das kann unmöglich so stimmen. Wollte der Chef des ZDF darauf achten, dass die Gefühle von Zuschauerinnen und Zuschauern nicht verletzt würden, müsste er das ZDF-Programm radikal zusammenstreichen.

Thomas Bellut bedauert nicht, dass ein ZDF-Beitrag die Gefühle von Zuschauerinnen und Zuschauern verletzt hat, er bedauert, dass der Beitrag das Gefühl eines Mannes verletzt hat, der sich über alle Kritik erhaben glaubt. Hätte es irgendeinen Bäckermeister aus dem Schwäbischen erwischt, wäre das dem ZDF-Intendanten egal gewesen, aber es war der türkische Präsident, der auch im Fernsehrat des ZDF seine Fürsprecher hat.

Verletzte Gefühle hin, verletzte Gefühle her, in einem vergleichbaren Fall hat Thomas Bellut anders reagiert.

Mainz, wie es auf Kosten Toter singt und lacht

In der ZDF-Produktion "Mainz, wie es singt und lacht" trat auch ein Kabarettist namens Lars Reichow auf. Kurz zuvor war in Polen ein neues Parlament gewählt worden, wozu Reichow in seinem "Fastnachtsjournal" Folgendes ausführte:
"Selbst gewähltes Pech hatten auch unsere Nachbarn in Polen – ich weiß nicht, was die vorher genommen hatten, Wodka umsonst in der Wahlkabine oder was – jetzt sind sie aufgewacht mit einer Regierung, angeführt von der national-konservativen PiS Partei (die Abgeordneten nennen sich vermutlich PiS-ser). Der mächtigste Mann in Polen ist Jarosław Kaczyński, ein eineiiger Zwilling – das andere Ei ist vor ein paar Jahren abgestürzt."

Mit dieser Bemerkung bezog sich Reichow auf den Absturz einer Maschine der polnischen Armee am 10. April 2010, bei dem alle 96 Passagiere ums Leben kamen, darunter auch der polnische Staatspräsident Lech Kaczyński, Zwillingsbruder von Jarosław Kaczynski, der heute die Partei "Prawo i Sprawiedliwość" (abgekürzt PiS) führt, "Recht und Gerechtigkeit". Während der Vortrags von Lars Reichow saß Thomas Bellut im Publikum, hatte eine Narrenkappe auf und amüsierte sich wie Bolle.

Ein bisschen Spaß darf sein

Nun ist die "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" auch ein Straftatbestand, § 189 StGB, und als solche konnte die überaus geschmackvolle Bemerkung von Reichow verstanden werden, wobei ihm das Gericht vermutlich eine saisonmäßig bedingte verminderte Zurechnungsfähigkeit zugute gehalten hätte.

Weil sich aber weder der polnische Präsident noch der polnische Botschafter daraufhin beim ZDF gemeldet hat, sah auch Thomas Bellut keinen Grund, sein Bedauern über verletzte Gefühle zu artikulieren. Zuschauer, die sich über diese Geschmacklosigkeit beschwerten, wurden mit einem kurzen Brief beschieden.
 
"Als Intendant erlebt man vielfältige Termine und Herausforderungen und dazu gehört auch der Besuch von 'Mainz bleibt Mainz'. Trotz meiner Anwesenheit lag es jedoch nicht in meiner Macht, alle dort live geäußerten Reime – wie geschmackvoll oder geschmacklos sie auch immer waren – auszuschließen. Ich teile aber Ihre Auffassung, dass die von Ihnen zitierte Passage zu den auch im Rahmen einer Fastnachtsveranstaltung wenig geglückten Äußerungen gehörte."

Weiter mochte der Intendant nicht gehen. Denn für das ZDF sind alle Präsidenten gleich. Nur manche sind ein wenig gleicher.



Die Welt

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