Völkermord an den Armeniern
Anfang des 20. Jahrhunderts herrscht das Osmanische Reich über
große Teile des Nahen Ostens und Balkans. Doch im Vielvölkerstaat
brechen zunehmend Konflikte aus. Den Ersten Weltkrieg nutzt die nun
herrschende Bewegung der Jungtürken, um die armenische Minderheit zu
beseitigen. Die Vertreibung und Ermordung von Hunderttausenden Armeniern
vor 100 Jahren stufen die weitaus meisten Wissenschaftler als
Völkermord ein - außer in der Türkei. Im Interview mit n-tv.de erklärt
eine Historikerin, was damals passierte und warum die jungtürkische
Propaganda sich bis heute hält.
n-tv.de: Gibt es
Historiker, die das, was 1915 und 1916 im Osmanischen Reich mit den
Armeniern gemacht wurde, nicht als Völkermord bezeichnen?
Christin Pschichholz: Ja. Es gibt Historiker, die der
offiziellen türkischen Geschichtsschreibung folgen und versuchen zu
belegen, dass die Ereignisse von 1915/16 kein Völkermord, sondern
"bürgerkriegsähnliche Zustände" waren, bei denen es auf beiden Seiten
Todesopfer gab.
Und außerhalb der Türkei?
Solche
Stimmen gibt es vereinzelt auch unter nicht-türkischen Historikern. In
der internationalen Forschung sind diese allerdings absolut in der
Minderheit.
Was waren die Ursachen für den Völkermord? Warum wurden die Armenier vertrieben und ermordet?
Der
Konflikt beginnt schon im 19. Jahrhundert. Die Staatsreformen, die den
osmanischen Staat stärker zentralisieren sollen, gelingen vor allem in
den südostanatolischen Gebieten nicht, weil sie nicht schnell und
konsequent umgesetzt werden. Dadurch entstehen im Siedlungsgebiet von
Kurden und Armeniern chaotische Verhältnisse und die sogenannte
armenische Frage entsteht. Europäische Großmächte setzen sich für die
armenische Minderheit ein und fordern weitere Reformen. Der Sultan sieht
das als Einmischung in innere Angelegenheiten an. 1895/1896 kommt es zu
großen Massakern an den Armeniern. Anfang des 20. Jahrhunderts
radikalisiert sich der Konflikt noch einmal: Durch die Balkankriege muss
das Osmanische Reich extreme Gebietsverluste hinnehmen. Die Jungtürken
putschen sich an die Macht; ab 1913 herrscht eine Einparteiendiktatur,
deren Ideologie die christliche Bevölkerung als illoyale
Bevölkerungsgruppe darstellt - als Agenten fremder Mächte. Der Erste
Weltkrieg wird dann genutzt, um im Inneren eine radikale
Bevölkerungspolitik zu betreiben, um einen möglichst homogenen
Nationalstaat zu schaffen. 1915 werden Armenier erst aus
Südostanatolien, dann aus ganz Kleinasien deportiert.
Wohin?
100 Jahre Völkermord
Die Deportationen hatten nicht das Ziel, die armenische
Bevölkerung, die vorher auch entwaffnet wurde, wieder anzusiedeln. Ziel
war die Ermordung. Die "armenische Frage" sollte "gelöst" werden.
Waren die Jungtürken nicht ursprünglich eine liberale Bewegung?
Zu
Beginn waren die Jungtürken ein Gegenpol zum Sultan; sie strebten nach
Modernisierung und kooperierten etwa auch mit armenischen Gruppierungen.
Es setzte sich aber eine radikale Gruppe durch, das Komitee für Einheit
und Fortschritt, das eine Türkisierung Kleinasiens forderte. 1913
übernahmen die Führer dieses Komitees, Talât, Enver und Cemal Pascha,
die Macht.
War der Völkermord von Anfang an so geplant?
Genozidforscher
gehen von einer kumulativen Radikalisierung aus. Zunächst gab es
Überlegungen, die armenische Bevölkerung nach Russland zu vertreiben
oder in Anatolien so zu verteilen, dass sie überall nur eine kleine
Minderheit darstellen würden. Aber schließlich hielt man die christliche
Bevölkerung für nicht assimilierbar, so dass ein viel radikalerer
Massenraubmord umgesetzt wurde.
Wer war an den Vertreibungen und Ermordungen beteiligt?
Der
Genozid wurde vom Innenministerium unter Talât Pascha geplant und
umgesetzt. Er wurden Sondereinheiten gegründet, die die Deportationen
und Tötungen organisierten. Viele Menschen wurden auf "killing fields"
in Südostanatolien ermordet oder weiter auf Todesmärsche nach Syrien
geschickt. Die wenigen Überlebenden wurden dort in Konzentrationslagern
gesammelt, die in der zweiten Phase des Genozids aufgelöst wurden, indem
Todesschwadronen in die Lager kamen und massenhaft Menschen töteten.
Wie viele Menschen starben in diesem Völkermord?
Für die Jahre von 1915/16 geht die Forschung von etwa 1,1 Millionen Todesopfern aus.
Wie plausibel ist die Version der "Opfer auf beiden Seiten", die von der türkischen Regierung vertreten wird?
Die
jungtürkische Propaganda lautete, dass es massive Aufstände unter den
Armeniern gegeben habe und dass massenhaft Armenier auf die russische
Seite übergelaufen wären. Die internationale Forschung kommt zu anderen
Ergebnissen. Es gibt, nachdem die Deportationen einsetzen, Widerstände
der armenischen Bevölkerung, sich deportieren zu lassen, etwa in der
Stadt Van. Aber die sind nicht politisch motiviert, sondern eher als
Notwehr zu bezeichnen.
Spielte Atatürk, der in der Türkei bis heute hoch verehrte Gründer der türkischen Republik, bei dem Genozid eine Rolle?
Atatürk
war in dem Zeitraum an der Dardanellenfront eingesetzt. Es gibt keinen
Hinweis, dass er in den Völkermord involviert war.
Warum sträubt sich die heutige Türkei dann so gegen den Begriff "Völkermord"?
Das
lässt sich am ehesten verstehen, wenn man bedenkt, dass der Krieg für
die Türkei 1918 nicht zu Ende war. Das Osmanische Reich wurde nach dem
Ersten Weltkriegs besetzt durch italienische, französische und britische
Truppen. Dann begannen die Befreiungskriege unter Atatürk. Die Gründung
der modernen Türkei basierte auf diesen erfolgreichen Befreiungskriegen
- ein sehr heroischer Nationalmythos konnte entstehen. Dass die
Homogenisierung des Landes aber auf einem Völkermord basiert, lässt sich
in diesen Gründungsmythos kaum integrieren.
Ist überhaupt noch vorstellbar, dass die türkische Regierung eines Tages doch vom "Völkermord"
In naher Zukunft kann man wohl nicht damit rechnen. Aber
es gibt in der Türkei zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich sehr
stark mit dieser Seite der türkischen Geschichte auseinandersetzen, auch
in vielen Bereichen der türkischen Wissenschaft wird dieses Thema unter
der Bezeichnung "Völkermord" erforscht. Es gibt hervorragende türkische
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die einen großen Beitrag dazu
geleistet haben, dass wir heute sehr viel mehr über den Völkermord an
den Armeniern wissen.
Es gibt einen anderen Völkermord,
den Bundestag und Bundesregierung nicht so nennen wollen - den von
Deutschen an den Herero und Nama im heutigen Namibia verübten Genozid.
Ist es nicht verlogen, dass ausgerechnet Deutschland der Türkei den
Zeigefinger vorhält?
Ich denke, es ist gut, dass der
Bundestag nach langem Zögern an den Völkermord an den Armeniern
erinnert. Dass es im Weiteren gilt, auch den Völkermord an den Herero
und Nama stärker ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, steht außer
Frage. Das eine schließt das andere nicht aus.
Mit Christin Pschichholz sprach Hubertus Volmer
n-tv
....
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