Samstag, 25. Mai 2013

Gehen wie ein Wackeldackel

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Von Gisela Schütte. – Nach den Entdeckern von Columbus bis Magellan kommen die Auswanderer. Und wie die historischen Vorbilder scheuen sie kein Risiko. Das lernt man im Fernsehen. Columbus und Magellan segelten ins Blaue. Und heute suchen Landsleute ihr Glück – nein nicht als Tellerwäscher in den USA mit einer reellen Aufstiegschance, sondern als Strandbarbetreiber in Brasilien, als Friseuse in Thailand oder als Automechaniker in Nordafrika.
Sie wissen wenig oder nichts über das Betreiben von Strandbars in Brasilien, die Anforderungen an Friseure in Thailand oder die in Nordafrika gängigen Automarken. Sie reisen ab, meist mit nicht viel mehr als zwei bis drei Tausend Euro und ohne Sprachkenntnisse. Schulenglisch, meinen sie, reicht. Die neuen Nachbarn können sich ja ein wenig anstrengen. Klar, auch Columbus kannte die Dialekte der Neuen Welt nicht. Doch während er in der Heimat auf Unterstützer rechnen konnte, brechen die Auswanderer meist alle Brücken ab, verkaufen die letzte Habe, schleppen Kinder und Haustiere mit und glauben fest daran, dass die neue Heimat genau ihre Strandbar ganz dringend braucht.
Ich zappte mich spätabends in ein Auswandererschicksal, das einmal nicht in der Strandbar in Brasilien und auch nicht in der nordafrikanischen Werkstatt spielte. Die beiden Menschen waren irgendwo hoch im Norden. Skandinavien, Alaska, Kanada, Genaueres konnte ich in der Kürze nicht herausfinden; sie lebten im Blockhaus, hielten Schlittenhunde, wirkten fröhlich und sagten, sie hätten ihr Glück gefunden, weil sie sich weitab von jedem Trubel auf sich konzentrieren und Hand in Hand arbeiten könnten, ohne Stress. Zu essen hatten sie offenbar genug. Ob sie Sprachkenntnisse hatten, erfuhr ich nicht, denn mir fehlten die Sprachkenntnisse: Die Herrschaften sprachen Schwyzerdütsch. Ich zappte weg.
Kam aber ins Grübeln. Denn der Kurzbesuch in der Kälte hatte mir klar gemacht:
Ich bin auch ein Auswanderer. Ich habe alle Brücken hinter mir abgebrochen, den Haushalt aufgelöst, die Haustiere eingepackt, mir eine komplett neue Heimat gesucht, allerdings mit ein paar Euro mehr – und Sprachkenntnissen. Eine ganz andere Welt ist es trotzdem; die Unterschiede können zwischen Deutschland und der Strandbar auch nicht größer sein als zwischen meiner vormaligen und jetzigen Heimat, zwischen der Hansestadt Hamburg und meinem Dorf im nördlichen Schleswig-Holstein, unweit der dänischen Grenze.
Hier ist alles anders. Man, jedenfalls die älteren Leute, spricht Platt. Wenigstens im Wechsel mit Hochdeutsch. Man grüßt. Jeden und jederzeit. Ein Dörfler empfahl mir eine lockere Nackenhaltung, um beim Gehen einen Schwung wie ein Wackeldackel im Auto hinzubekommen. „Es ist nicht gut, wenn jemand glaubt, du würdest nicht grüßen.“
Verlässt man das Haus, muss man die Augen überall haben. Da winken Menschen, die man auf den ersten Blick nicht identifizieren kann, aus Autos, die man nicht kennt. Huhu. Der Gemeindebedienstete, der die Papierkörbe leert, der Postbote, der Zeitungsausträger, der Bote des Schlachters – irgendwer grüßt immer. Sogar Kinder und Jugendliche. Moin, das gab’s in der Stadt seit den Nachkriegsjahren nicht mehr.
In Hamburg war ich – abgesehen von einigen wirklich netten Menschen – eingekreist von zugezogenen Hauseigentümern, die man nicht so dringend in seiner Nachbarschaft braucht. Nach außen tat man vornehm, klar die Grundstücke waren teuer. Dennoch war nicht bei allen der Umgangston adäquat. Die einen waren im gärtnerischen Dauereinsatz, die anderen im Fußballfieber, Fernseher laut auf der Terrasse und in der Halbzeit gröhlendes Gekicke auf dem Rasen. Der Umgangston bei dem einen Ehepaar – nach außen sehr fein – war intern gewöhnungsbedürftig, die anderen griffen gern zur Kreissäge am Sonntag so gegen sieben Uhr, standen aber jederzeit bereit, beim Rasenmähen der Nachbarn mit der Stoppuhr zu kontrollieren, ob die Rasenmähzeit vielleicht schon abgelaufen war und mit der Polizei zu drohen. Und im Winter wurde mit dem Lineal gemessen, an welchem Punkt die Schneeschaufel- und Granulatstreupflicht endete, um dann am liebsten 25 Zentimeter zu kurz zu schieben.
Konsequenz: Starrer Blick auf dem Weg ins Auto, um nicht unnötig in die nachbarlichen Gesichter sehen zu müssen. Der Wunsch des guten Tages wäre eine faustdicke Lüge gewesen. Und jetzt: Es wird nicht nur gewinkt, sondern auch kommuniziert. Mal eben schnell Eier holen beim Bauern nebenan – das kann schon mal eine Stunde dauern, weil da entweder noch ein Kaffee zu trinken oder ein neues Kalb zu besichtigen ist. Und gilt es, die wichtigen Dinge des Lebens wie – woher weht der Wind, ist der Winter endlich vorbei, wann gehen die Kühe auf der Weide – zu besprechen. Und nach einer gewissen Eingewöhnungszeit steht man sogar lässig da, ohne auf die Uhr zu schauen, weil man ja eigentlich die Eier nur schnell holen und eben nicht über das Klima philosophieren wollte. Telefonanruf erwartet? Die können doch wieder anrufen, wenn etwas Wichtiges anliegt.
Zeit. Der Schrittakt verändert sich im Laufe der Monate.
Und noch etwas: Kommunikationstechnik. Welches Handy ich habe? Völlig Wurst. Die Frage lautet vielmehr: Habe ich Anschluss oder nicht? Denn es ist eben nicht so, dass im modernen Deutschland überall und jederzeit das Mobiltelefon funktioniert und e-Mail und Internet verfügbar sind.
Als ich mein neues (altes) Haus bezog, hatte der Voreigentümer sein Telefon noch nicht abgemeldet. Und weil es hier am Ende des Dorfes nur noch eine Anschlussleitung gibt, konnte ich kein Telefon bekommen. Mobil telefonieren geht aber nur, wenn man sich in die Mitte der Straße stellt. Sonst ist es nix mit Verbindung. Und aus dem Haus schon gar nicht. Die dicken Mauern des 17. Jahrhunderts waren auf mobile Telefonie noch nicht eingerichtet.
Und Internet über Funk geht auch nicht. Als ich nach Wochen endlich einen Festnetzanschluss mit schön gemütlichem Internetanschluss – Fotos schicken dauert schon mal zehn Minuten – bekam, erschien mir das so segensreich als wäre das Telefon gerade erst erfunden worden.
Mobiltelefon ist weiter schwierig. Deswegen liegt mein schon etwas abgegrabbeltes Nokia – was soll ich mit einem Smartphone – meistens in der Ecke rum. Es hat sich erstaunlich schnell herumgesprochen, dass ich mobil überhaupt nicht gut zu erreichen bin. Also ruft auch kaum noch einer auf dem Handy an.
Fragte mich neulich eine gute Bekannte aus Hamburg: „Wo warst du gestern Mittag? Ich konnte dich gar nicht erreichen.“ Ich: „Einkaufen.“ „Und da nimmst du das Telefon nicht mit?“ Ich: „Nö“. Ich glaube, sie brauchte Sauerstoff.
Ich nicht. Denn ich bin ja ausgewandert. Ins Funkloch an der dänischen Grenze. Es lebt sich hier prächtig. Und alle Informationen, die ich zum Überleben brauche, bekomme ich auch hier. Aber nicht eben immerzu. Im Regenwald könnte es nicht besser sein.

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