Haiti - Nach dem schweren Erdbeben in Haiti geht die Kindernothilfe einen anderen Weg als viele große Hilfsorganisationen. Sie sucht sich bewusst kleine abgelegene Dörfer aus und zeigt den Bewohnern, wie sie selbst ihre Häuser und ihre Perspektive für die Zukunft neu aufbauen können.
Als wir das schwere Eisentor vor unserem Haus zur Seite schieben, nickt der haitianische Sicherheitsmann freundlich. Dann studiert er weiter die Bibel. Neben ihm lehnt ein großkalibriges Gewehr. Es ist fünf Uhr morgens, die Hauptstadt Port–au-Prince erwacht. Wir sind auf dem Weg in das Bergdorf Coupeau, wo mit Geld der deutschen Kindernothilfe eine eingestürzte Schule neu gebaut wird.
Ich begleite den Haiti-Koordinator des christlichen Hilfswerks, Jürgen Schübelin, und den chilenischen Architekten Alvaro Arriagada. "Wenn Hilfsorganisationen immer nur Geschenke aus schönen Jeeps und aus Hubschraubern verteilt haben, können sie nicht erwarten, dass die Menschen interessiert sind, Aktivitäten und Selbsthilfekultur an den Tag zu legen." ( Nein, aber so hält man sie in Abhängigkeit - Jani... ) Der 54-jährige Schübelin rückt die beigefarbene Weste mit dem blauen Logo seiner Organisation zurecht.
Er setzt an, macht eine Pause, dann sagt er: "Wir verstehen dieses Projekt als politisches Signal. In Haiti wird es keine Perspektive zur Überwindung von Armut geben, ohne dass die vergessenen Menschen in abgelegenen Gebieten ein Selbsthilfepotenzial entwickeln."
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Dreistündiger Fußmarsch in die Berge
Unser Geländewagen passiert den Stadtteil Carrefour. Haiti ist tief verwundet, nicht erst seit dem verheerenden Erdbeben vor einem Jahr, das mehr als 250.000 Menschen das Leben gekostet hat, mehr als einer Million ihr Obdach nahm. Die Straße ist aufgeplatzt wie eine Eiterblase, der Bauschutt türmt sich Meter hoch. Es riecht nach Urin und Abfall.
Auf dem Mittelstreifen der verstopften Hauptstraße leben Familien in notdürftigen Verschlägen mit Plastikplanen. Kinder spielen in ausgebrannten Autowracks. Der Staub Tausender eingestürzter Häuser liegt wie Nebel über der Stadt. Wenn es eine Vorhölle gibt, dann ist hier ein Eingang. Die Räder des Jeeps vor uns versinken in einem Loch mit gelbgrünem Wasser. Auf der Heckscheibe steht in großen Buchstaben: Thank you, Jesus!
Mit einem Übersetzer für Kréyol treten wir unseren dreistündigen Fußmarsch an. Der Rivière Froide, der Kalte Fluss, den wir mehrfach durchqueren, ist so reißend, dass wir uns an den Händen halten müssen. Ein Wanderprediger verkündet seine evangelikale Auslegung der Botschaft Gottes. Ich bete, dass meine Technik überlebt. Kurz danach ziehen Männer mit einer Bahre an uns vorbei. Der tote Körper darauf ist in ein Leinentuch gewickelt. In diesem rund 50 Kilometer langen Tal war das Epizentrum des Bebens.
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"Hey, Weißer, wir haben Hunger!"
"Die Herausforderung hier in Coupeau ist die Logistik, nicht das Bauen. Die Dorfbewohner transportieren jeden Sack Zement, alle Eisenträger und Sand zu Fuß aus der Stadt in die Berge".
Alvaro Arriagada weiß, wovon er spricht. Einmal wöchentlich meistert er den beschwerlichen Auf- und Abstieg steiler Bergwege, um drei Tage in Coupeau zu arbeiten. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, denn dort fließt kein Strom.
Alte und Junge kommen uns entgegen, Frauen und Männer, die meisten tragen ihre Lasten auf dem Kopf. "Hey, Weißer, wir haben Hunger!" Immer wieder werden wir so von Haitianern angesprochen, selbst von einem Händler, der sein Lebensmittelsortiment auf dem Rücken eines Esels transportiert. Allein unsere Anwesenheit löst einen Reflex aus: die selbstverständliche Erwartung nach Hilfe.
Als wir bei mittlerweile vierzig Grad im Schatten Coupeau erreichen, ist die Freude groß über unsere Ankunft. Der Lehrer lässt seine Schüler ein Begrüßungslied anstimmen. Unterrichtet werden die 70 Schüler seit dem Beben in einem orangefarbenen Zelt, direkt neben der Baustelle. "Als wir zum ersten Mal in die Berge hoch gestiegen sind, fanden wir eine Gemeinde vor, in der niemand auch nur eine Minute in einer Schule verbracht hatte."
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Nachbarschaftshilfe statt Abhängigkeit
Jürgen Schübelin nimmt einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Für ihn ist es eine Herzensangelegenheit, dass die kleine Schule neu gebaut wird. Für etwa 25.000 Euro entstehen zwei Klassenräume, ein Lehrerzimmer mit kleiner Bibliothek, Toiletten und eine Zisterne, um Regenwasser aufzufangen. So weit die Wünsche der Dorfbewohner, die Alvaro Arriagada in Dorfversammlungen zusammengetragen hat.
Der 28-jährige Architekt aus Santiago de Chile ist Experte für erdbebensicheres Bauen – und für Gemeindearbeit. Kollektiv, ökologisch, nachhaltig, dezentral: Die Kindernothilfe geht einen eigenwilligen Weg der Unterstützung in Haiti. Jenseits von Bevormundung und Alimentierung so mancher Hilfsorganisation, die bestehende Abhängigkeiten festschreiben. Gebaut wird mit heimischen Materialien, so weit es geht ohne Holz, bewusst in der vergessenen Peripherie.
Das Herzstück dieses Modellprojekts, das die Dorfbewohner letztlich in die Selbstbestimmung entlassen soll, ist das Kombitsystem. Eine haitianische Tradition, bei der Nachbarn Wohnhäuser, Kirchen und Schulen gemeinsam bauen. Hier in Coupeau bedeutet Kombit für die meisten Dorfbewohner Arbeit für Naturalien.
Ausbezahlt werden nur die vier Bauarbeiter und die Träger schwerer Lasten. Für alle beginnt der Tag morgens um vier mit einem gemeinsamen Frühstück, danach wird hart gearbeitet, am Abend gibt es dann ein Fest mit warmer Mahlzeit. Hilfe zur Selbsthilfe, so der Anspruch der Kindernothilfe.
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Mit dem Beben war auch die Hoffnung eingestürzt
Während die Hilfe in Port-au-Prince vielerorts noch stockt, überwiegend Abriss- und Aufräumarbeiten zu sehen sind, steht in Coupeau der Neubau der Schule kurz vor dem Abschluss (Fotos: Kindernothilfe).
Umringt von neugierigen Kindern diskutiert Alvaro Arriagada mit einem Arbeiter die Pläne der nächsten Woche. Der Boss, wie sie ihn hier alle nennen, leitet die täglichen Bauarbeiten. Auf seinem verschwitzten Shirt steht: Wenn unsere Kinder nicht lesen können, wie sollen sie dann wissen, was in der Welt passiert.
Der chilenische Architekt berät den Boss seit einigen Wochen, wie er die Schule bauen muss, damit sie dem nächsten Erdbeben besser trotzen kann. Mehr Zement und weniger Sand für die Steine, die sie hier oben in Coupeau selbst pressen; mehr Eisenträger für die Säulen; und vor allem eine deutlich leichtere Dachkonstruktion. Der Boss gibt das Wissen dann an die Dorfbewohner weiter, die ihre eingestürzten Häuser selbst neu bauen wollen.
Mit dem Beben war auch die Hoffnung der Dorfbewohner auf Perspektive eingestürzt, die Hoffnung auf Bildung für ihre Kinder. Jürgen Schübelin sieht seinen Architekten deshalb auch als Therapeuten. Alvaro Arriagada drückt es so aus: "Das wichtigste für die Menschen ist, Vertrauen wiederzuerlangen. In ihre Fähigkeiten und in die Stabilität der Gebäude.
Kinder erreichen das Dorf, auf ihren Köpfen balancieren sie gekonnt große Wasserkrüge. Wie jeden Tag nach dem Unterricht bringen sie Wasser vom Fluss hinauf nach Coupeau, für den Mörtel auf der Baustelle. Vor unserem Rückweg in die Zivilisation bedankt sich Jürgen Schübelin für ihren Schweiß treibenden Einsatz. Die zwölfjährige Natascha blickt ihn an und antwortet: "Ihr müsst nicht Danke sagen, es ist schließlich unsere Schule."
Øle Schmidt ist freier Journalist für Hörfunk, Print und Internet.
Quelle evangelisch.de. .
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